"Eilyah!", mein kleiner Wlad sprang mir am Flughafen freudig entgegen. Ein Jahr war seit unserer letzten Begegnung vergangen. Viele Briefe hatten die Grenzen unserer Länder passiert, voll von Erzählungen, Versprechen und Vorhaben fürs nächste Wiedersehen.
In Prams Hauptstadt Bed'aan fand ich stets Unterkunft bei einer befreundeten Familie, die ich seit meiner ersten Reise aus Studienzeit kannte:
Linell und Ard N'ovi vereinten als Paar zweierlei Kulturen. Ard war ein stattlicher Mann aus dem provinziellen Herzen Prams. Linell war die Tochter eines Bed'aaner Schriftstellers und einer Tänzerin aus Zsyrn. Gemeinsam lebten die beiden mit ihrem Sohn Wlad in Bed'aan.
Als ich in meinem zweiten Studienjahr die erste Reise nach Pram unternommen hatte, war Wlad noch ein Kleinkind gewesen. Damals hatte mich das Schriftstellerpaar, das sich sehr für internationalen Austausch einsetzte, als Gastfamilie willkommen geheißen.
Die N'ovis und ich hatten schnell eine nahezu familiäre Bindung entwickelt - Bed'aan und sie waren für mich fortan verknüpft. War ich in meiner Heimat, so führten wir regen Fernkontakt - war ich in Pram, so war es Pflichtprogramm, zuallermindest bei ihnen vorbeizusehen.
Bal glaubte aus meinen regen und häufigen Erzählungen bereits, die N'ovis selbst zu kennen. Wir hatten immer geplant, einmal gemeinsam nach Pram zu verreisen, wenn Zeit und Finanzen es endlich erlauben würden. In den folgenden Jahren sollte ich mir oft wünschen, ich hätte Bal auf diese Reise mitgenommen, nur um mich direkt darauf wieder für diese Wünsche zu verfluchen.
Ein Grund, weshalb ich mich sehr mit den N'ovis verstand, war ihre große Offenheit und die Art, wie sie die Welt sahen. Ich liebte Pram, doch es war ein sehr konservatives Land - so konservativ, dass die ersten Aufenthalte für mich immer mit einem deftigen Kulturschock einher gingen. Linell, die selbst aus Zsyrn kam, hatte es damals gut verstanden, diesen etwas zu lindern.
Seit meinem ersten Aufenthalt in Bed'aan waren zehn Jahre vergangen. Wlad war schon dabei, ins Jugendalter überzuschreiten, und meinen Kulturschock hatte ich endgültig überwunden.
Die politische Situation, allerdings, hatte sich im Laufe der Jahre immer mehr zugespitzt. Trotz meiner Involviertheit in die Thematik, denke ich, dass ich den Grad dieser Krise erst bemerkt habe, als ich an diesem Abend in die Gesichter von Wlads Eltern blickte: Linell und Ard sahen alt aus.
Ard war noch immer von stattlicher Figur, sein spitzbübisches Lächeln ungetrübt, als er mich freudig und brüderlich umarmte - doch eine tiefe Furche befand sich an der zuvor glatten Stelle zwischen seinen buschigen Augenbrauen und sein dichtes, dunkles Haar war von neuem Grau durchzogen.
Auch Linell hatte nichts von ihrer unvergleichlich sanften Eleganz eingebüßt, und ihr Lächeln war noch immer voller Wärme, jedoch schien es mir seltsam zerbrechlich. Als ich die beiden so ansah, war mir, als hätten wir uns sehr lange nicht gesehen. Sorge machte sich in mir breit, vielsagende Blicke wurden über den Kopf des Kleinen hinweg ausgetauscht.
Trotzalledem überwiegte die Freude an diesem Tag. Am Abend gab es am Küchentisch der Familie N'ovi ein Festmahl mit Pramer Nationalgerichten - da diese fast gänzlich aus Teigwaren und Kartoffeln bestanden, platzten wir schnell förmlich aus allen Näten.
"Eilyah, wie ist das Leben auf dem Land?"
Linell nippte an ihrem Glas Pastellwein und sah mich interessiert und warmherzig über dessen Rand hinweg an. Sie wusste, wie sehr ich das Getümmel der Stadt eigentlich liebte.
"Es ist unglaublich. So viele Wälder! Und das Meer ist wirklich nah!" sprudelte ich aufgeregt los, "Und wir haben jetzt einen Hund! Ihr müsstet den Kleinen sehen, Maddi ist ganz verrückt nach ihm!"
Wlads Augen leuchteten bei diesen Worten auf - dabei erinnerte er mich an Bals kleine Schwester Maddi, und ich bemerkte sofort, wie sehr ich die Kleine jetzt schon vermisste.
Ich hatte Wlad einige Bilder von unserem großen, zotteligen neuen Gefährten geschickt und er war Feuer und Flamme: "Noch ein Grund, Eilyah endlich zu besuchen!", stieß er enthusiastisch hervor. In seinem Blick lag etwas Vorwurfsvolles, als er seine Eltern so ansah. Spielerisch machte ich es ihm gleich, während ich meine Arme verschränkte und ebenso vorwurfsvoll nickte.
Leider waren Linell und Ard ständig ausgebucht, nur hin und wieder war es mir und Linell in der Vergangenheit gelungen, uns kurz in Salzytskin zu verabreden, wenn sie auf der Durchreise war.
Linell strich Wlad besänftigend über seinen dichten Schopf. "Wer weiß, mein Schatz, vielleicht tun wir das ja früher, als du denkst.", zwinkerte sie verheißungsvoll. Wlad holte schon Luft, um der Sache nachzugehen, doch Linell trieb das Gespräch geschickt voran: "Ich bin überrascht, Eilyah. Du bist ja eigentlich immer schon ein ziemliches Stadtkind gewesen."
Ich lachte verlegen. "Salzytskin ist ja doch ziemlich nah."
"Also Linell hat damals sehr viel gejammert", lachte Ard nostalgisch.
"Damals?", hakte ich überrascht nach. Mir fiel ein, dass ich nicht wusste, wie sich die beiden eigentlich kennengelernt hatten. Mir war nicht klar gewesen, dass sie sich schon so lange kannten.
"Ich war unglaublich wütend! Erst durfte ich jahrelang durch die interessantesten Städte jetten, und dann plötzlich saß ich in der Einöde fest.", berichtete Linell, ihre Stimme voller belustigter Empörung.
Wlad legte eine Hand in sein Gesicht - er hatte diese Geschichte seiner Eltern wohl schon öfter gehört. Ard aber nickte enthusiastisch.
"Sie war wirklich angefressen. Miss von Welt in einem kleinen stinkenden Kuhkaff mitten in der Pramer Provinz."
"- aber dann war da dieser stattliche, stramme Farmer-Junge..."
Wlad verzog auf die Worte seiner Mutter hin das Gesicht. Für mich aber fing die Sache gerade erst an, interessant zu werden.
"So habt ihr euch also kennengelernt! Wie alt wart ihr damals?"
"Ich bin gerade 14 geworden", antwortete Ard nach einer kurzen Denkpause.
"... und ich war 15", ergänzte Linell.
"Sie war ein verzogenes Gör - hat geraucht und geflucht wie ein Seemann."
"Du hast geraucht?", stieß ich überrascht hervor.
"Du hast geflucht?!", kam es hingegen noch viel überraschter von Wlads Seite.
Linell und Ard lachten beide herzhaft. "Da staunt ihr."
"Jedenfalls stellte sich ziemlich schnell heraus, dass sie doch ganz in Ordnung war."
"Und sein Hintern war süß", zwinkerte Linell.
"Ich hab für heute genug gehört, ich geh ins Bett", seufzte Wlad übertrieben verstört und erhob sich.
Ich nippte an meinem Pastellwein und lächelte verträumt. "...frühe Liebe...", summte ich.