»Jona?«
Gerufener saß vor seinem Laptop und rollte mit den Augen. Er konnte es so gar nicht leiden gestört zu werden, wenn er vor seinem Rechner saß. In den Weiten des Netzes wurde er widererwartend fündig. War doch anzunehmen, wenn er den Mädels etwas versprach, oder?
»JONA. Sitzt du wieder auf den Ohren!«
»Hey Ma'. Ich sitze nicht auf den Ohren.« Widerwillig schob er sich mit gebanntem Blick auf den Monitor von seinem Schreibtisch und drehte sich in Richtung Tür.
Boa. Zehn Kreuze, wenn die sich endlich losmachen. Aussagen tat er selbstredend natürlich vollkommen andere Worte. »Wollt ihr etwa schon los?«
Jona wohnte im Giebel ihres Eigenheims und nannte es sein Reich. Als seine Eltern sich für ausgerechnet dieses Haus entschieden, achtete seine Mutter darauf, dass der Junge weitestgehend eigenständig bleiben konnte und so ließen sie den Dachboden umfangreich mit ausbauen.
Er stand bereits an der hölzernen Wendeltreppe, lehnte sich übers Geländer und sah hinab. »Ma', versprecht mir nicht wieder ganz so lange Party zu machen, ja?«
»Als wenn dich das interessieren würde«, seine Mutter war ähnlich gestrickt wie die seiner neuen Freundin Kathrin. Beide waren verdammt locker und machten selbst bei schlüpfrigen Themen keinen Hehl draus, durchaus mitreden zu können. Ihre Väter blieben da eher zurückhaltend, so zumindest in der Öffentlichkeit. Jedenfalls seiner konnte auch anders.
»Jona?«
»Ja allerliebste Ma'?«
Sie sah ihn mit erhobenen Brauen an. Ihre Mundwinkel begannen sich zu heben und ein Prusten entwich ihr. »Du bist ein Schelm! Wärest du nicht mein Sohn und zwanzig Jahre älter ... du weißt schon«, sie kicherte und winkte ab.
»Ma'«, stimmte er entrüstet an. »Du würdest über mich herfallen wie ein geiler Vampir über eines seiner Opfer?« Theatralisch griff er sich mit der einen Hand ans Herz, die andere lag auf seinem Hals. »Oh, Ma'. Ich bin dein.«
»Ihr habt doch beide einen an der Waffel.« Sein Vater zwinkerte zu seinem Sohn hinauf und kniff ihr zeitgleich in den Hintern. »Wollen wir, Schatz?«
»Boa, echt jetzt? Ist verheiratet zu sein immer so?«
»Was meinst du?«
»Naja ... ich mein ...«
»Jona?« Dieser Blick von ihr. Unbeschreiblich. Innerlich musste er lachen und seine Brust hob und senkte sich zudem.
»Würd' mich auch interessieren. Los Junge, ein paar Minuten hätten wir da noch.«
»Vergesst es, ja? Sollte ich irgendwann einmal heiraten, komme ich darauf zurück.«
»Denk dran. Monogamie ist in. Wir leben nicht irgendwo bei den Saudis.«
Er drückte sich ab vom Geländer und trat einen Schritt abseits. »Schade. Stelle es mir mit zwei Frauen in der Kiste ... interessant vor.«
»Komm Schatz, ich glaub' wir sollten ihn jetzt lieber mit sich allein lassen.«
»Schatz, bitte. Keine Bilder.«
Jonas Mutter lachte auf und es klang, als würden die beiden sich küssen.
»Haut endlich ab.« Jona schüttelte mit dem Kopf. Ihm war durchaus bewusst, dass er es mit seinen Eltern echt gut getroffen hatte. Sein rechter Mundwinkel zuckte aufwärts.
Seine Gedanken schweiften ab zu seiner jüngsten Bekanntschaft und musste schnaufen. Meine Freundin Kathrin. Meine Freundin Mira. Ich mag sie beide und mit Mira bin ich schließlich zusammen. Mmh, man kann ja mehrere Freundinnen haben. Ist ja nicht verboten. Muss ja keine von denen heiraten.
Jaja, Jona wusste genau, mit wem er ein pubertierendes Bündnis eingegangen war. Eine innigere Freundschaft, als nur Händchen haltend über den Schulhof zu schlendern. Dennoch, Kathrin ging ihn nicht aus dem Kopf.
Kathrin. Ja. Oh ja. Seit sie in sein Leben trat, ist es irgendwie anders geworden. Aufregender? Ja, vielleicht. Zumindest ist es nun nicht mehr so langweilig und nervtötend, auch wenn er sich erst vor drei Tagen die Hand bei einem ihrer nächtlichen Ausflüge verletzte.
Schon bemerkenswert, was sich alles so rund um ihr Zuhause so abspielt. Wobei ... früher einmal abgespielt haben musste. So viele mystische oder okkulte Stellen, beinahe unheimlich. Glaubte er an all diesen Hokuspokus, spätestens jetzt, da er allein im Haus war, würde er sich vor Angst in die Hose scheißen. So hingegen war er froh in der Neuzeit zu leben.
Er besah sich seine linke Hand, an welcher er sich die Innenseite schnitt. Ausgerechnet an einer scharfkantigen Stelle auf einem dieser uralten Opfersteine. Das Gebilde erinnerte an einen alten Brunnen oder so und die beiden Mädels kamen auf den Trichter, Altertumsforscherin spielen zu wollen und mussten das olle Ding ja unbedingt reinigen.
Naja, wohl doch dann eher er.
Sein Internet war deutlichst schneller als das ihrer Smartphones und er verfügte über einen eigenen Laptop. Mira sollte einen neuen Rechner erst zu ihrem Geburtstag bekommen und Kathrins befand sich angeblich noch irgendwo in den unzähligen Kartons.
Er saß nunmehr wieder mit einem großen Glas Cola vor seinem Bildschirm und lass alte Einträge.
Langatmige Fachniederschriften von Landvermessungen, Bodengutachten und Architekten. Baufortschritte und noch ausstehende Akten. Allesamt rein sachlich verfasst mit keinerlei Inhalt auf das Land selbst. Komisch, dass es so gar nichts geben sollte. Was für Leute mit welch kulturellem Hintergrund lebten hier früher. Es war doch interessant zu wissen, wie sie einst ihr Leben bestritten. Irgendwo musste etwas zu finden sein.
»Na bitte, jetzt hab ich endlich was.« Griffsicher fand seine Hand das Glas. Die Wunde juckte, mittlerweile schon fast penetrant. Echt nervig und so strich er immer wieder, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit den Fingerkuppen darüber.
Vom konzentrierten Lesen kratzten und pochten ihm nach ungezählten Webseiten dann doch unangenehm die Augen. Er legte sich die Hände vors Gesicht und rieb mit den Fingern beherzt über die geschlossenen Lider.
Tief atmete er ein. »Boa alter, was müffeln meine Pfoten denn so?«
Gedanken verloren streckte er die Arme aus und besah sich seine Hände. Alles wie gehabt. Er drehte Arme und Hände mal zur einen, dann zur anderen Seite, griff sogar zu seiner Cola und roch daran.
»Mmh. Zeit fürs Händewaschen, wie?«
Der Dachboden, sein Reich, verfügte über ein eigenes kleines Bad und so brauchte er nicht extra nach unten zu eiern, nur weil es Wasser und Seife bedurfte.
Der Lichtschalter befand sich rechts von der Tür, die nicht wie üblich nach innen aufging, sondern raumbedingt nach außen hin geöffnet wurde. Seine Hand fand wie gewöhnlich den Schalter und knipste das Licht an.
Direkt voraus war das Waschbecken montiert und darüber ein stattlicher Spiegel. Was er darin erblickte, war jedoch anders als erwartet.
Eisigkalt stachen ihn tausende winziger Nadeln in Rücken und Nacken. Von Kopf bis Fuß fühlte er frostigen Schauer über sich ergehen. Er spürte, wie sich gänzlich Gänsehaut auf seiner Haut bildete und die feinen Härchen gerade aufrichteten.
Gedankenverloren schaltete er das Licht aus und wieder an.
Ihm wurde schwindelig und schlecht zugleich. Die Beine sackten unter ihm weg und er musste sich an dem schneeweißen Waschbecken abstützen.
Fünf blutrote Striemen zeichneten Spuren seiner hinterlassener Finger. Jeden einzelnen Fingerabdruck konnte er erkennen. Sein Blick richtete sich auf, hinauf zum Spiegel.
Sein Gesicht, das Gesicht.
Hervorgequollene, blutunterlaufene Augen stierten ihn aus der spiegelnden Glasfläche entgegen. Ein von Moder zersetztes Lächeln betrachtete ihn daraus hervor. Zerfranste mit Maden durchsetzte Lippen öffneten sich und Kohlraben schwarze, spitz zulaufende, Zähne kamen zum Vorschein.
Laute entwichen der Fratze, die ihn entfernt an etwas wie Worte erinnerten.
Gehaucht, einem Wispern gleich ... »J..O..N..A..«.