Am siebten Januar versinkt Moskau in Schnee. Das Weiß türmt sich zu Bergen an den Hauseingängen und brüchigen Mauern. Von der Pracht des Zentrums ist in diesem Vorort nichts zu sehen. Mehrfamilienhäuser, deren Renovierung sich niemand leisten kann, halb verfallene Gebäude, die seit den Sechzigern nicht mehr verändert worden sind.
Die Jungfräulichkeit des Schnees ist nur noch der Schatten eines romantisches Traumes, den die Dichter und Künstler auf Papier und Leinwand bannen. Lange hat er sich Braun verfärbt und ist eingesunken, wo Füße die einst glatte Fläche niedergetreten haben. Immer wieder sind gelbe Flecken zu erkennen, als Mensch und Tier dem Drang ihrer Blase nachgegeben haben.
Agnesa bezeichnet diesen schmutzigen Fleck der Erde nicht als ihre Heimat, aber es ist ihr mehr eine Heimat, als die Wohnung, wo ihre Mutter reglos in der Ecke sitzt und ihr Vater sie verprügelt.
Sie sind oft in den Straßen, sie und ihr Bruder, auf der Flucht vor den Ängsten und Befürchtungen, denen sie doch nicht entkommen können. Immer wieder müssen sie zurückkehren in die Wohnung, in der trotz der darin lebenden Personen kein Leben ist. Der Gedanke an die Rückkehr stiehlt ihr jetzt schon die Freude an den letzten Stunden, die noch vor ihr liegen.
Für sie ist die Zeit im Freien eine glückliche Zeit, weil sie Gemeinschaft mit ihrem Bruder hat, der sich immer spannende und spaßige Spiele und Rätsel ausdenkt. Agnesa ist fünf. Sie versteht schon viel, genießt jedoch noch die Geschenke der Unbeschwertheit und Vergesslichkeit. Kaum schließt sich die Tür hinter ihr und ihrem Bruder, hat sie die Schläge ihres Vaters für den Moment schon vergessen.
Im Gesicht ihres Bruders hat sich die Sorge dagegen festgebrannt. Die Sorge darüber, dass er als neunjähriger Junge, die Verantwortung für seine Schwester tragen muss, weil seine Eltern nicht dazu fähig sind. Schon lange hat er die Aufgabe angenommen, sie vor allem Bösen und Unglück zu beschützen und dafür zu sorgen, dass sie ihre Freude nicht verliert. Er versteht das Wort Egoismus noch nicht, aber vielleicht steht auch ein wenig von dem dahinter: Wenn seine Schwester ihm eines ihrer überschwänglichen Lächeln schenkt oder vertrauensvoll seine Hand nimmt, ist es auf einmal leicht, all den Schmerz auszublenden. Auch wenn es nur für einen Moment ist, diese Augenblicke mit seiner Schwester sind die kostbarste und wertvollste Zeit, die er hat. Um nichts in der Welt würde er seine Schwester verlassen.
„Wohin sollen wir gehen?“, fragt er, wie immer wenn sie aus der Tür getreten sind.
Ein Lächeln streicht über ihr Gesicht. „Lass uns die Lichter suchen!“, ruft sie und greift nach seiner Hand. Er spürt ihre feingliedrigen Finger zwischen seinen rauen Händen.
Die Lichter. Ein Traum. Ein Bild, das sie doch nie erreichen können.
Für sie stehen die Lichter wie nichts Anderes für all das, was in unerreichbarer Ferne liegt: Ein gutes Leben, eine vernünftige Ausbildung und eine glückliche und heile Familie. Es mag, ein unvernünftiger und unlogischer Traum sein, doch ist es der Traum, der sie verbindet und wie kein anderer ihre Identität und ihre Wünsche prägt. Eine Allegorie, ein Symbol für jenes Glück, nach der sie sich sehnen und das sie doch nicht erhalten.
Die Lichter. Irgendwann hat Daniil dieses Spiel erfunden, als sie beide unter der Bettdecke hockten, unter die sie sich vor ihrem Vater geflüchtet haben. Er hatte die eine Hand auf Agnesas zitternden Rücken gelegt und mit der anderen ihre rechte Hand genommen, dann hatte er sie angeschaut und gefragt: „Weißt du, warum es die Dunkelheit gibt?“ Tränen waren seiner Schwester über das Gesicht gelaufen und die Bewegung des Kopfschüttelns ging nur unendlich langsam vonstatten. „Es ist so, damit die Lichter umso mehr strahlen können. Wenn alles hell ist, kann man das einzelne Licht nicht mehr erkennen, wenn es jedoch dunkel ist, lenkt dieses Licht alle Blicke auf sich.“
Agnesa hatte ihren Blick gehoben und ihn mit geweiteten Augen angeschaut. „Aber wo sind die Lichter?“, hatte sie bedächtig und langsam gefragt und ihn mit einem so tiefen Blick gemustert, dass es ihn im Herzen schmerzte.
Er hatte sich herabgebeugt und auch ihre zweite Hand gefasst. Kopf an Kopf hatten sie sich gegenüber gehockt, Schwester und Bruder, die besten Freunde und der einzige Halt, den sie hatten.
„Das werden wir gemeinsam herausfinden müssen.“
Zunächst war sie nur auf seinen Schoß gekrochen und hatte die schmalen Arme um seinen Hals geschoben, doch dann hatte sie ganz allmählich und zunehmend überzeugender genickt.
Für Daniil ist es ein Lebensziel geworden, dieses Licht zu sein, damit seine Schwester jemanden hat, der den Weg ihres Lebens erhellt, auch wenn rundherum tiefste Finsternis herrscht.
Mit einem Lächeln mustert er das Kind, das sich nun hinabbeugt und Sterne in die Reste des unberührten Schnees malt. Ihre Striche sind mit einer Feinheit gezeichnet, die Daniil immer wieder bewundert. Er beschließt, ihr Kreide zu besorgen. Es ist lange her, dass sie welche gehabt haben, aber irgendwo wird bestimmt welche aufzutreiben sein. Und seine Schwester liebt es, zu zeichnen und ihren Figuren, Leben einzuhauchen. Es wäre schade, wenn ihr diese Möglichkeit, ihre Fantasie auszudrücken, genommen werden würde.
Seine Schwester. Die Nachbarin beschimpft sie oft verächtlich als Gassengöre, ihr Mann nennt sie Banditentochter. Doch für ihn ist sie einfach nur seine Schwester – und die beste Freundin, die er hat.
Das schmale Haus, vor dem sie stehen bleiben, ist eingequetscht zwischen einem Buchladen, in dessen Schaufenster Romane liegen, die schon vor Daniils Geburt erschienen sind, und einem Warenhaus mit hässlichen Schaufensterpuppen, das jetzt geschlossen ist.
Es ist eine verlassene und hoffnungslose Gegend, die selbst Daniil auf seinen Streifzügen selten betreten hat.
Er greift nach der Hand seiner Schwester und hält sie zurück.
„Lass uns wieder gehen“, flüstert er, auch wenn er nicht in Worte fassen kann, was ihn so zögern lässt. Es ist Agnesa gewesen, die hierhin gelaufen ist, natürlich, den Schneeflocken hinterher, die hier noch auf eine wenig zerstörte Schneefläche sinken.
Und natürlich kümmert sie sich auch jetzt nicht um seine Bitte.
„Sieh nur!“ Sie beugt sich hinab und klaubt ein Papier auf. Die Schrift ist durch den Schnee verlaufen, doch kann man noch die verschwommenen Konturen einer Karikatur erahnen.
„Was es wohl aussagt?“, fragt seine Schwester und fährt mit ihren dünnen Fingern die Konturen nach.
„Ich weiß es nicht“, erwidert Daniil, auch wenn er den Judenstern eben so erkennen kann und weiß, dass hier eine Synagoge in der Nähe steht.
Mit einem Lächeln betrachtet er seine Schwester. Völlig in sich vertieft blickt sie auf die verblasste Schrift und vergisst, was um sie herum geschieht. Die blonden Locken gucken unter der dicken Wollmütze hervor, durch die Luftfeuchtigkeit stehen sie vom ganzen Kopf ab. In dem großen Mantel versinkt ihre kleine Gestalt, auch wenn dieser sehr warm ist, wie ihr Bruder aus Erfahrung weiß.
„Daniil!“ Ihr Mund öffnet sich und ihre Augen leuchten, als sie auf die dunkle Haustür des kleinen Hauses zeigt. Er liebt es, ihre klare, helle Stimme zu hören, in der noch die Unschuld der Kindheit mitschwingt.
„Was ist denn?“, fragt er und bemüht sich, seinen Worten keinen ungeduldigen Ton zu verleihen.
Aufgeregt deutet sie auf die Karikatur. „Der Stern hier. Es ist derselbe wie über der Tür.“
„Stimmt“, entgegnet Daniil vorsichtig. Doch da hat entgleiten Agnesas Finger bereits seiner durch die Kälte steifen Hände und sie stürmt vorwärts. Ihre kleinen Füße hinterlassen feine Fußabdrücke und obwohl er es nicht begründen kann, versucht er, ihre Spuren nicht zu zerstören, so er ihr nachfolgt.
Als er sie erreicht, hat sie ihr Gesicht bereits gegen die blinde Scheibe des winzigen Schaufensters gedrückt. Dahinter steht ein einziger Teller mit Gebäck, wie es häufig um Weihnachten herum gebacken wird. Obwohl das Tuch, das im Schaufenster liegt, alt und schmutzig ist und das ganze Haus heruntergekommen wirkt, ist dieser einzige Teller sorgfältig angeordnet. Das Gebäck ist mit Schokolade und verschiedenen Nüssen verziert. Jede Einzelne von ihnen ist genau an dem ihm zugedachten Platz, kein einziges wirkt falsch.
„Daniil.“ Erstaunlicherweise bleibt ihre Stimme sogar ruhig, als sie auf die Mitte des Gebäcktellers deutet.
Ihr Bruder nickt nur. Auch er hat den einzelnen Stern gesehen, der zwischen den anderen Stücken thront. Dieser ist nicht verziert, sondern hebt sich durch seine Einfachheit und Schlichtheit nur umso mehr von den anderen ab.
Er blickt seine Schwester nur an. Es ist ein unausgesprochenes Einverständnis, das zwischen ihnen herrscht und erstaunlicherweise nimmt Daniil wahr, dass es in diesem Moment er ist, der seine Schwester um Rat bittet.
Sie ist es, die ihm die Entscheidung abnimmt, indem sie nur einen einzelnen Schritt vorwärts macht. Vorwärts. Für einen Moment blicken sie beide auf ihren einzelnen vorangesetzten Fuß und Daniil denkt unwillkürlich darüber nach. Vorwärts. Eigentlich ist sein ganzes bisheriges Leben eine Flucht gewesen. Eine Flucht vor den Schatten seines Elternhauses, die nur rückwärts führt, weil er nur ausweicht und nicht nach vorne schaut. Ein Schritt nach vorne, wenn er aus der heimatlichen Tür hinaustritt, aber auch wieder einer zurück, wenn er erneut eintritt.
Noch ein Schritt.
Dann stehen sie vor der Tür. Es ist Agnesa, die die Klinke herunterdrückt, doch als diese nachgibt, blickt sie zu ihrem Bruder, der nickt.
„Auch Sterne sind Lichter“, erklärt die Fünfjährige, dann tritt sie ein.
Der Raum ist sehr viel anders, als Daniil es gewöhnt ist. Er verströmt eine rustikale Schlichtheit, die dennoch schön wirkt. Ein wuchtiger Tresen aus dunklem Holz steht gegenüber dem Eingang. Es gibt keine Blumen oder verspielten Elemente, was darauf schließen lässt, dass es sich hierbei um das Heim eines Mannes handelt. Die Regale, die an den Wänden stehen, sind aus demselben dunklen Holz wie der Tresen und der kleine Tisch mit den zwei Stühlen. Die Regale sind angefüllt mit Backwaren verschiedener Art, die wiederum sorgfältig angeordnet sind. Doch auch das dunkle Holz des Tresens, der Regale und des Tisches ist sorgfältig poliert und wirkt keinesfalls finster.
Der einzige Schmuck ist ein einfaches Kreuz aus hellbraunem Holz, das oberhalb des Tresens zentral an der Wand hängt,
„Daniil!“ Agnesa zupft an seinem Ärmel. „Sieh nur!“ Sie hebt den Arm und deutet auf die Decke, der ihr Bruder bisher noch keinen Blick geschenkt hat.
Die Farben mögen schon lange verblasst sein und ihren Glanz verloren haben, doch raubt ihnen das nicht die geringste Aussagekraft. Über die Decke spannt sich eine mit Sternen und Mond gesprenkelte blaue Fläche.
„Die Lichter…“, flüstert Agnesa und starrt fasziniert zu dem Sternenhimmel auf. Obwohl es Daniil ist, der sich diese Geschichte vor langer Zeit ausgedacht hat, ist auch er nicht in der Lage, sich dem Anblick zu entziehen. Schon allzu lange hat er begonnen, ebenfalls nach den Lichtern Ausschau zu halten, die seine Schwester sich ersehnt.
Lange blicken die beiden Kinder zu dem Sternenhimmel auf, doch dann bewegt das Mädchen sich, ohne die Augen von der Decke zu nehmen, zu den Regalen hin. Ihr Blick senkt sich auf die Gebäcke hinab und ohne zu zögern, nimmt sie ein Brot hinaus und schnuppert daran.
„Nicht…“, will Daniil noch sagen, doch da hat sie bereits hineingebissen. Zu lockend sind die Gerüche und zu treibend ist der Hunger, als dass die Stimme ihres Bruders sie aufhalten könnte. Und sie hat nicht nur Hunger, weil die vierzigtägige Fastenzeit vor Weihnachten heute endet, ihre Eltern sind nicht gläubig und gehen mit ihren beiden Kindern selbst an Weihnachten nicht in die Kirche, warum sollten sie dann fasten? Nein, ihre Eltern sind einfach nur unfähig, ihre Kinder zu versorgen.
Und so verdreht sie genießerisch die Augen, will etwas sagen, verschluckt sich an ihrem Bissen und reicht ihm schließlich ein Stück.
Für einen Moment zögert Daniil noch, doch dann hört er das laute Knurren seines Magens und stopft sich das Brot in den Mund. Er schmeckt Rosinen, Nüsse und Früchte, die er nicht identifizieren kann. Es ist besser als alles, was er bisher gegessen hat
„Knusper, knusper, knäuschen. Wer knuspert an mein Häuschen?“ Erschrocken wirbeln die beiden Kinder herum und Agnesa lässt ihr Stück Brot fallen.
Der alte Mann humpelt auf einen Stock gestützt noch ein wenig näher. Er sieht nicht sehr schnell und auch nicht sehr gefährlich aus, überlegt Daniil, während er den Unbekannten, dessen Brot sie gestohlen haben, abschätzend mustert. Ein grauer, gekräuselter Bart, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen ist, fließt über seine Brust, doch sein Haupthaar liegt in vereinzelten Strähnen eng an der Kopfhaut an. Er hat ein schmales, hageres Gesicht mit hohen Wangenknochen, das von Falten überzogen ist. Die beiden Augen liegen so tief in den Höhlen, dass es fast ein wenig beängstigend aussieht, doch die Falten um seinen sanft geschwungenen Mund lassen ihn etwas freundlicher wirken.
Mürrisch klopft er mit dem Stab auf den Boden und die dafür aufgewendete Kraft lässt ihn auf einmal als sehr viel stärker erkennen, als Daniil am Anfang gedacht hatte.
„Lernt die Jugend von heute etwa keine Märchen mehr kennen?“
Daniil und Agnesa starren ihn nur an, was er mit einem brummigen Laut quittiert.
„Mein Gott“, platzt er heraus und stürmt erstaunlich schnell auf sie zu. Unauffällig lässt der Ältere der beiden Kinder seinen Blick zur Eingangstür wandern, dann macht er einen schnellen Schritt zu seiner Schwester und packt ihre Hand, während sie Schutz hinter seinem Bein sucht.
Den Mann kümmert das nicht im Geringsten, er wechselt die Richtung ebenso schnell wie Daniil.
Vor ihnen baut er sich auf. „Mein Gott!“, wiederholt er, „Das ist zwar aus Deutschland, aber mittlerweile doch auch hier verbreitet.“
„Aus Deutschland?“ Agnesa richtet sich auf. Ihr Bruder kann nicht anders als ihre Unbekümmertheit zu bewundern.
„Richtig“, wiederholt der Mann und beugt sich zu dem Mädchen herab. „Und wie heißt du?“
„Agnesa“, entgegnet sie, umklammert aber weiterhin Daniils Hosenbein.
„Agnesa, so so“, murmelt er, bevor er entschlossen nickt. „Das ist ein schöner Name!“ Ein schmales Lächeln zieht sich über sein Gesicht.
Dann tut Agnesa etwas sehr Erstaunliches. Obwohl an der Seite ihres Bruders nicht selten den Ton angibt und ihm allzu oft eine Entscheidung abnimmt, ist sie Fremden gegenüber sehr zurückhaltend. Doch jetzt schnellt ihre schmale Hand vor. Für einen Moment steht sie in der Luft, doch dann nimmt der Bäcker sie sanft entgegen und drückt die schmal Hand.
Als er sie loslässt, zieht Agnesa sie blitzschnell zurück und sucht erneut Zuflucht am Bein ihres Bruders.
Der Mann beugt zunächst seinen Kopf, dann seinen krummen Rücken, soweit es ihm möglich ist.
„Ich danke, Euch edle Dame. Es ist eine große Ehre für mich, eine solch prachtvolle Prinzessin in meinem kläglichen Haus begrüßen zu dürfen.“
Zunächst grinst Agnesa, doch dann verliert sich ihr Lächeln ebenso schnell wie es gekommen ist. Daniil bemerkt die Veränderung in ihrem Körper, die Anspannung, die sich plötzlich in ihr breit macht. Die Hände zu Fäusten geballt, lässt sie seine Hand los.
„Eine Dame“, murmelt sie, „Eine Dame. Wie kann ich eine Prinzessin sein?“ Tränen beginnen ihr über die Wangen zu laufen. Dann wirft sie den Kopf zurück und stapft mit dem Fuß auf. „Ich bin keine Prinzessin!“, ruft sie, die Hände nun in die Hüften gestemmt.
„Und woher weißt du das?“, fragt der Mann.
Zögernd erwidert sie. „Weil mein Vater es mir gesagt hat.“
„Aber kennt dein Vater denn die ganze Wahrheit oder hat er im allen Recht?“
Sie sieht zu ihrem Bruder, dann schüttelt sie den Kopf. Selbst jetzt wirft sie einen Blick über die Schulter, um zu gucken, ob ihr Vater in der Nähe ist.
„Wie findest du es, wenn wir gemeinsam herausfinden, ob du eine Prinzessin bist?“, fragt der Mann, dessen Namen Daniil immer noch nicht kennt.
Agnesa nickt, dann greift sie ebenso selbstverständlich nach der Hand des Fremden, wie sie zuvor nach der von ihrem Bruder gegriffen hat. Zunächst schmerzt diese Beobachtung, doch als er das beseelte Lächeln auf dem Gesicht seiner Schwester sieht, weiß er, dass er das Richtige tut. So steht er da, beobachtet wie der Bäcker etwas zu seiner Schwester sagt und auf eine Tür neben dem Tresen deutet. Agnesa nickt, lässt seine Hand los und verschwindet dahinter.
Nun wendet der Mann sich Daniil zu. All seine Aufmerksamkeit gehört in diesem Moment dem Jungen vor ihm. „Du bist ein wahrlich mutiger junger Mann, dass du deine Schwester zu so einem wunderbaren Wesen erzogen hast.“ Daniil fühlt sich erwachsen, so wie der Mann mit ihm redet, als wären sie auf Augenhöhe, anstatt Junge und Erwachsener. Dennoch…
„Woher..?“ Es ist nur ein Wort, doch drückt es all die Zweifel aus, die ihn in diesem Moment beschäftigen.
„Man sieht es euch an und man sieht dir an, dass du dein eigenes Leben hingibst, damit deine Schwester eine Zukunft hat.“ Für einen Moment stockt er, dann fügt er hinzu: „Das ist sehr ehrenwert, doch musst du auch lernen, Grenzen zu setzen, um dich selbst zu erholen, damit du genug Kraft für deine Schwester hast.“
„Aber wann?“, flüstert Daniil, „Und wo?“ Die leise Stimme Agnesas, die im Hintergrund aufgeregt etwas ruft, bemerkt er kaum, zu gefangen ist er in diesem einzigen Gedanken.
„Überall da, wo Licht ist, kannst du zur Ruhe kommen. Denn wenn du es nicht tust, zehrt die Dunkelheit um dich herum an dir.“
„Die Lichter.“ Erkenntnis. Vergessen. War es wirklich er, der sich die Geschichte mit den Lichtern ausgedacht hat? Oder ist es nur ein ferner Fetzen der Erinnerung gewesen, die er damals hervorgekramt hat, ein Relikt, das er neu mit Worten gefüllt hat?
„Die Lichter“, bestätigt der Mann und in diesem Moment bemerkt Daniil, dass er noch nicht einmal seinen Namen kennt.
„Wie heißt du?“, fragt er also.
„Matvej Wasiljew“, entgegnet der Bäcker gelassen, dann reicht er dem Jungen die Hand. Daniil zögert keinen einzigen Moment. Dieser Mann ist gut zu seiner Schwester gewesen und hat sie zum Lächeln gebracht, also kann auch er ihm vertrauen.
„Komm“, meint er, „Lass uns herausfinden, was deine Schwester so aufgeregt werden lässt“
Gemeinsam gehen sie zu der Tür, durch die Agnesa verschwunden ist. Ein heller Lichtstrahl tanzt über die Dielen davor und lässt den Staub sichtbar werden, der filigrane Muster in die Luft zeichnet. Es ist das Licht, das diese dunklen Flecken von Schmutz sichtbar werden lässt, bemerkt Daniil. Genau das, was er damals zu seiner Schwester gesagt hat.
Matvej öffnet die Tür und ein Lächeln zieht sich über sein zerfurchtes Gesicht, als er die glänzenden Augen des Jungen bemerkt.
Daniil dagegen bleibt auf der Schwelle stehen, zu kostbar ist dieser Moment, zu heilig wirkt dieser Raum, als dass er, der Junge aus den Armenvierteln, es gewagt hätte, einzutreten. Er vergisst, dass sie sich immer noch in den Armenvierteln, immer noch in der dreckigen und unbarmherzigen Stadt leben, die er hasst, weil es in ihr kein Licht gibt. All dies vergisst er in diesem Moment und sieht nur die Lichter, das gewaltige Feuer, dessen Flammen den ganzen Raum erhellen. Es ist Agnesa, die ihm erneut die Arme um das Bein schlingt, doch dieses Mal nicht zögernd, sondern fordernd, nicht länger von Angst erfüllt, sondern von Freude. Sie zerrt mit einer Kraft an seinem Bein, das er stolpert. Seine Hände streifen den Türrahmen noch, als er versucht, sich daran festzuhalten, doch ist es nur ein winziger Augenblick der Berührung, nichts, was dauerhaft ist.
Agnesas Lachen dagegen ist etwas, was dauerhaft ist, was sich in seine Seele einbrennt, weil es sein Lebensziel ist, ihr dieses Lachen, diese Freude zu ermöglichen. Sie lacht, als die Geschwister nebeneinander auf dem Boden liegen und sich in die Augen blicken. Daniils Schulter schmerzt von dem Aufprall, aber ihr Lächeln lässt ihn den Schmerz vergessen. Er hebt die Hand, streicht ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht und schiebt die Mütze richtig, die ihre Sicht beeinschränkt hatte. Sie greift nach seiner Hand und er bemerkt, dass sie die Handschuhe ausgezogen hat. Ihre Hände sind warm, lebendig.
Gemeinsam beobachten sie das Schattenspiel an den Wänden, hervorgerufen durch den gewaltigen Kamin, dessen Flammen flackern und den Raum mit Bewegung füllen.
Nach einer Weile rappelt Daniil sich auf, hilft seiner Schwester beim Aufstehen und tauscht einen Blick mit Matvej, der an der Wand lehnt und das Schauspiel amüsiert beobachtet hat.
Erst jetzt nimmt Daniil die Pracht des gesamten Raumes wahr. Sicherlich ist es keine Pracht nach herkömmlichen Sinne, es gibt kein Gold oder Silber, keine überteuerten Gemälde, die statische Landschaften zeigen.
Ein ovaler, gedeckter Tisch aus demselben Holz wie die anderen Möbelstücke des Verkaufraums füllt den Großteil des Raumes aus. Sechs Stühle mit hohen Rückenlehnen stehen daran und ein leuchtend rotes Tischtuch bildet einen Kontrast zu dem dunklen Holz. Genau in der Mitte der Fläche hängt ein Kornleuchter, dessen Silber angelaufen ist, dem Glühbirnen fehlen und der von Staub bedeckt ist. Daniil ist sich sicher, dass er schon lange nicht mehr benutzt wird.
Sicherlich liegt das an dem gewaltigen Kamin mit steinernem Sims, dessen Feuer den gesamten Raum erhellt. Auch hier hängt ein einfaches Kreuz.
Doch ist es in diesem Raum nicht der einzige Schmuck: Auf dem Sims stehen verschiedene Figuren. Als Daniil herantritt, erkennt er Tiere, Pflanzen und verschiedenste Symbole. Jedes von ihnen ist mit einer Sorgfalt gearbeitet, die jedes noch so kleine Detail ersichtlich werden lässt.
Eine Berührung lässt den Jungen zusammenschrecken, doch als er bemerkt, dass es nur Matvej ist, der ihm den Arm über die Schulter gelegt hat, entspannt er sich.
„Jedes Jahr mache ich ein neues. Jedes Jahr wird ein Werk den bisherigen hinzufügt.“ Er stockt, dann mustert er Daniil. „Ich glaube, dass ihr beide wisst, welches Werk dieses Jahr hinzukommen soll, nicht wahr?“
Verständnislos mustert der Junge den alten Mann, der ihm beruhigend den Arm drückt.
„Das hat Zeit bis nach dem Essen.“
„Bis nach dem Essen…“, stottert er.
„Nun ja, ich muss euch doch beibringen, wie man Weihnachten feiert“, krächzt er und schlurft zu dem Esstisch, wo ein traditionelles Weihnachtsessen angerichtet ist.
Nach dem Essen, das besser war als alles, was die Kinder kannten, schiebt Matvej drei Stühle vor den Kamin. Agnesa schnappt sich eine Decke, ignoriert den Stuhl und rollt sich auf dem Teppich zusammen. Ihr weit gefächertes, blondes Haar umgibt ihren Kopf gleich einem Heiligenschein, den die Ikonen in den Kirchen tragen. Nur, dass Agnesa für ihn viel realer, viel wertvoller ist, als jedes kostbar geschmücktes Heiligenbild. Glücklich schaut sie in die tanzenden Flammen und hört dem alten Bäcker zu, der das Märchen von Iwan Zarewitsch, dem Feuervogel und dem grauen Wolf erzählt. Sie lacht noch, als der Wolf die Gestalt der schönen Prinzessin annimmt, doch als er von Iwans Brüdern zu Tode gerissen wird, sind ihre Augen zugefallen und ihr Brustkorb senkt sich in ruhigen Atemzügen. Lange Zeit genügt es Daniil, seine Schwester beim Schlafen zu beobachten. Eine zuckende Hand, jede einzelne Kopfbewegung und ihre sanften Atemzüge. Da sie sich ein Bett teilen müssen, weiß er, wie unruhig sie gewöhnlich schläft. Es gibt keine Nacht, in der sie nicht panisch aufwacht und sich nicht an ihn klammert. Er hofft so sehr, dass diese Ruhe für sie stetig ist. Jetzt, wo sie entspannt, ist es auch ihm möglich, Ruhe zu finden und so sieht er von seiner Schwester zu Matvej und dann in die Flammen.
Gewaltige Holzscheite liegen im Kamin, umschlungen von glühendem Feuer, das an dem Holz leckt, emporlodert und wieder in sich zusammensinkt. Daniil spürt die Hitze in seinem Gesicht, doch vertreibt sie die Kälte aus seinem Herzen.
Er bemerkt, wie auch seine Augen zufallen, aber dann fällt ihm etwas ein.
„Wollten wir nicht etwas schnitzen?“, fragt er Matvej, der sich in seinem Stuhl zurückgelehnt hat und in die Flammen starrt.
Der alte Mann nickt nur, dann steht er auf und kramt in einer Kiste. Als er wiederkommt, hält er ein Stück Holz in der einen Hand und ein Messer in der anderen.
Beides legt er in Daniils Hände und zeigt ihm mit sanftem Händedruck, wie er beides zu halten hat, damit er sich nicht verletzt.
Der Junge setzt das Messer an das weiche Holz, wobei Matvejs Hand auf der seinen liegt, da zögert er.
Mit Unsicherheit im Blick wendet er sich zu dem alten Mann, der für ihn ungleich erfahrener, ungleich weiser wirkt.
„Was soll ich denn schnitzen?“, fragt er.
Matvej mustert ihn und erneut hat Daniil das Gefühl, das es für den Mann in diesem Moment nichts Wichtigeres gibt, als ihm zuzuhören und Lösungen für seine Sorgen zu finden.
Für einen Augenblick erwartet er eine komplexe, weitreichende Antwort, die all seine Probleme löst, doch ist Matvejs Antwort einfach: „Das, was in deinem Herzen ist“ Einfach – und doch hätte es für Daniil keine schwerere Aussage geben können. Das, was in seinem Herzen ist. Woher soll er denn wissen, was in seinem Herzen ist, was ihn bewegt und was er träumt, wenn er immer nur von einer Sorge in die nächste hetzt?
Er starrt auf das Messer und bemerkt überrascht, dass seine Finger ganz verkrampft darum liegen. Als er den Griff lockert, entspannt er sich automatisch.
Erneut sieht er in die Flammen, beobachtet die Botschaften, die sie in Zeichen aus Feuer in die Luft malen und fühlt sich auf einmal in seine Vergangenheit zurückversetzt.
Im Haus seiner Eltern gibt es keinen Kamin und die Heizung funktioniert im Winter nur unzuverlässig. Deswegen ist es meistens kalt und die beiden Geschwister schlafen in dicken Deckenlagen stets eng aneinander, um sich zu wärmen. Er erinnert sich an die Nacht, als ihr Vater ins Zimmer getorkelt ist, die Flasche in der einen und die Rute in der anderen. Kaum, dass Daniil den in den Augen seines Vaters erkannt hatte, wie er und seine Schwester den Moment nennen, in dem ihr Vater die Kontrolle über sich selbst verliert, hatte er seine Schwester aufgeweckt und sie waren hinaus gelaufen. Es war ihr Glück gewesen, dass ihr Vater zu betrunken gewesen war, um seine Kinder zu erwischen, die schnell und flink waren. Draußen war es eine bitterkalte Nacht gewesen, aber dennoch wollten die Geschwister nicht wieder zurück in das Haus, wo es viel kälter war als im Schnee, so schien es ihnen zumindest.
Auf ihrer Flucht vor den Schatten ihres Vaters waren sie vor einem Haus stehen geblieben, hatten durch das Fenster geguckt und die Familie, die mehr einem Bilderbuch denn der Realität entsprungen schien, beobachtet. Eine lachende Mutter, die den Kinder Teller mit Keksen und Becher mit heißem Tee hinschob. Ihr Mann mit freundlich glänzenden Augen, der ein gewaltiges Buch auf seinem Schoß liegen hatte und in einem prächtigen Sessel vor dem noch viel prächtigeren Kamin saß. Zwei Kinder, die glücklich auf dem Teppich liegen, in die Flammen schauen und ihrem Vater zuhören.
Sie hatten lange dort gesessen, die halbe Nacht. Am nächsten Morgen hatte sie ein Nachtbar in einem verschneiten Hinterhof gefunden und zurück zu ihren Eltern gebracht. Das Haus mit der Familie und den knisternden Flammen hatte in der Realität nie existiert, war allein ein Produkt der Fantasie von Bruder und Schwester gewesen.
Und doch sind sie jetzt hier vor einem knisternden Kamin, ein alten Mann und zwei glückliche Kindern.
Ist das sein Traum? Zumindest eine Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die zu Sicherheit und Geborgenheit leitet.
Überrascht bemerkt Daniil, dass seine Hände während seiner nachdenklichen Phase nicht untätig geblieben sind. Eine kleine Figur findet sich in seinen Händen. Die Züge sind grob und unsauber, doch gibt das dem Charakter noch mehr die Identität, die Daniil ihm hatte geben wollen.
Seine Finger verkrampfen sich um die kleine Person, er spürt die harten Kanten an seiner Hand. Sie lassen ihn nur noch umso mehr den Schmerz fühlen, jenen Schmerz, den er schon als kleiner Junge empfunden hat, wenn sein Vater ihn wieder einmal als einen Schwächlich oder Feigling bezeichnet hatte.
Er spürt eine sanfte Berührung an seiner Hand und sieht Matvejs rauen Finger, die vorsichtig beginnen, seinen Griff zu lösen.
Nachdenklich und sorgfältig mustert Matvej die Figur, dann blickt er den verletzten Jungen an, der in dem großen Stuhl zu versinken scheint. Es schmerzt ihn, dass Daniil seine Träume, seine Kindheit nie hatte leben dürfen. Stattdessen hatte er seiner Schwester Vater und Mutter zugleich sein müssen, etwas, wofür er eigentlich viel zu jung war. In dem alten Mann entwächst der Wunsch, den Jungen, die Freude zu lehren, die Schmerz und Angst ihm ausgetrieben haben. Es wird eine schwierige Aufgabe, das ist ihm bewusst, doch er spürt die Wärme von Daniils Fingern in seiner Hand, der starke Wille, der den Jungen antreibt und weiß, dass dieser noch ein Leben vor sich hat. Ein Leben, das er genießen soll. Freundlich lächelt er den Jungen an und freut sich, als dieser das Lächeln erwidert – wenn auch zögernd.
Immer noch mustert Daniil die Figur und Matvejs Finger, die auf den seinen liegen. Er weiß, wen er dargestellt hat und das erschrickt ihn.
„Was möchtest du jetzt damit tun?“, fragt Matvej nach einer Weile.
Unwillkürlich wirft der Junge einen Blick zum Kaminsims, dann schüttelt er den Kopf. Sicherlich möchte er dieses Abbild seines Vaters nicht auf dem Sims sehen. Es reicht, dass die seine Augen ihm zuhause folgen, er muss sich nicht auch noch hier beobachtet fühlen.
Sein Blick wandert zu den lodernden Flammen, die ihr helles Licht in den ganzen Raum werfen. Ruckartig steht er auf, geht so nah an den Kamin heran, bis die Hitze nicht länger auszuhalten ist, er hebt den Arm, holt aus – und lässt ihn wieder sinken. In diesem Moment ist er dankbar für die Hitze, denn seine Tränen fließen schnell und die Hitze lässt sie trocknen. Seine Haut errötet, er weiß es, und seine Finger prickeln, doch ist dieser Schmerz geringer, als der Sturm, der in seinem Inneren wütet. Wie kann es sein, dass sein Vater selbst hier noch Macht über ihn hat? Dass allein der Gedanke an ihn, ihm solche Angst einjagt, dass er es nicht einmal vermag, eine olle Holzfigur ins Feuer zu werfen?
Dann nimmt er Matvejs tröstende Gegenwart wahr. Seine Hand liegt auf der Schulter des Jungen und übt einen leichten Druck aus, der nicht schmerzt, jedoch auch nicht vergessen lässt, dass seine Hand dort ruht.
„Wollen wir es gemeinsam machen?“, fragt er, der Mann, den Daniil erst seit dem heutigen Tag kennt und der ihm dennoch mehr ein Freund ist, als sein Vater es je gewesen ist. Der Junge sieht in das zerfurchte Gesicht des Alten, in die blitzenden Augen, die von Unerschütterlichkeit zeugen und fragt sich, gegen was für Widrigkeiten dieser bereits gekämpft haben mag, welche Stürme sein Leben durcheinander wirbeln. Er ist sich sicher, dass auch Matvej diese hat. Doch Matvej hat seine Sorgen nicht in Alkohol ertränkt und auch wenn Daniil keinen Ehering an dessen Finger gesehen hat, so weiß er längst, wo das Bild seiner Frau steht, die vermutlich gestorben ist, und ist er sich sicher, dass der Alte seine Frau nie betrogen hat oder zu den Huren gegangen ist. Er ist anders, etwas macht ihn anders, sonst hätte Agnesa nie nach seiner Hand gegriffen. Daniil kennt seine Schwester und sie hat gewöhnlich eine gute Menschenkenntnis. Wenn seine Schwester dem alten Mann vertrauen kann, dann sollte er es doch auch können, oder? Warum nur fällt es ihm so schwer, ja zu sagen und nach dessen Hand zu greifen? An einem einzigen Abend hat Matvej sie besser genährt, als ihr Vater in neun Jahren. Und dabei ging es auch ihm nicht sonderlich gut, das verrieten die ranzigen Tapeten, der nicht funktionierende Kronleuchter und viele andere Kleinigkeiten.
Dann – ein neuer Gedanke. Wenn er es jetzt nicht vermöge, eine Figur ins Feuer zu werfen, wie sollte er dann jemals seinem echten Vater aus Fleisch und Blut gegenüber treten? Was soll aus Agnesa werden, wenn er jetzt versagt? Er blickt zu ihr, seinem Engel, wie sie auf dem Teppich schläft, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Er greift nicht nur für sie nach Matvejs Hand, aber auch für sie.
„Ja“, erklärt er mit fester Stimme und sein Herz hämmert bei diesem einen Wort, doch fühlt er sich seltsamerweise stolz. Es ist ein gutes Gefühl.
Dieses Mal lässt Daniil seine Hand nicht senken, sondern schleudert die Figur ins Feuer und sieht zu wie das Abbild seines Vaters den Flammen zum Opfer wird.
Als er zurücktritt, bemerkt er erstaunt, dass ihm immer noch Tränen über die Wangen laufen und weiß nicht warum. Er muss lachen und weint zugleich. Es ist seltsam und dennoch genau richtig.
Er lässt sich auf den Boden fallen, starrt nachdenklich in die Flammen und fährt vorsichtig durch Agnesas Haare, die wie flüssiges Gold durch seine Hände fließen.
Matvej setzt sich ihm im Schneidersitz gegenüber, so nahe, dass sie sich genau in die Augen blicken.
„Du hast gesagt, dass ihr nach dem Licht sucht“, meint er. Daniil weiß nicht, weshalb der Alte es vermag, immer genau die richtigen Worte zu finden, doch genau daran hat er in diesem Moment gedacht.
Erneut umfasst Matvej die Hand des Jungen und legt diese auf Daniils Brust.
„Das Licht ist hier.“ Er spürt sein Herz unter der Hand erbeben. „Ihr selbst seid das Licht, das ihr sucht.“
Schweigend starrt Daniil den alten Mann an, nicht wissend, was genau er denken soll.
„Es ist immer eine Entscheidung, die ihr treffen müsst. Eine Entscheidung, die jeder Mensch treffen muss. Und du kannst dich ebenso entscheiden, ob du dich immer nur darüber beklagen möchtest, wie finster es um dich ist und wie schrecklich deine Mitmenschen sind, oder ob du Licht bist. Du kannst Licht sein.“ Matvej übt sanften Druck auf seine Brust auf, doch sieht er nicht länger in Daniils Gesicht, sondern zu dem Kreuz über dem Kamin. „Du bist Licht.“
„Ich bin Licht“, wiederholt der Junge mit einer Stimme, die zunehmend fester wird.
„Weißt du jetzt, was du träumst?“
Daniil blickt zu seiner Schwester, das Lächeln, das ihr Gesicht gleich der Sonne erhellt.
Als ob sie seinen Blick spüren würde, öffnet Agnesa die Augen, lächelt ihn an und kriecht auf seinen Schoß. Er spürt die Wärme seiner Schwester, ihr Herz, das gegen seine Brust pocht, er blickt zu Matvej, bemerkt die Freundschaft, die zwischen ihnen entwachsen ist, und das hilft ihm, eine Antwort zu finden.
Licht in der Dunkelheit.
Er nickt und lächelt.
Leben. Freude. Hoffnung.
So viel mehr als zuvor.
Zukunft.