Der Tag hatte seine Mitte erreicht und die Sonne stand hoch am Himmel. Die Erde war erwärmt von ihren Strahlen und das Wasser eines Flusses, der sich seinen Weg durch eine heiße Landschaft gebahnt hatte, plätscherte unermüdlich vor sich hin. Sein Ziel war der Kristallsee, der, von alten Weiden umgeben, friedlich dalag. Eine grüne Idylle in einer Landschaft, die der Steppe glich, außerhalb der Baumgrenzen der Wälder. Die Äste der Bäume hingen ins Wasser, malten Kreise, wenn der Wind an ihnen rüttelte. Seerosen bedeckten große Teile des klaren Wassers.
Alles schien ruhig und doch hatte sich eine Reiterin genähert. Ihr schwarzes Pferd, das den schönen Namen Korathan trug, trabte gemächlich über die Steppe hin zum See. Das lange Haar der Fai, die im Sattel saß, schimmerte golden. Ein warmes Lächeln lag in ihrem Gesicht, umspielte ihre roten Lippen. „Komm mein Bruder. Bald sind wir fast da!“, die Stimme ertönte glockenhell. Ruhig schlug ihr Herz in der Brust, doch sie wurde aufgeregt, als sie das Wasser schon fast riechen konnte.
Es war Liadan, die Kommandantin der Reiter-Turma von Carrakas, gekleidet in dem schlichten Gewand einer Waldläuferin, die am Ufer des Sees rasten wollte, denn dies war der schönste Ort, den sie kannte.
Zur gleichen Zeit begab sich noch eine andere Reiterin auf den Weg zum See, jedoch wusste diese nicht, dass es einen See gab.
Lad war von der Hafenstadt aufgebrochen, nachdem sie sich mit Proviant eingedeckt und sich von Dolos und dem Kapitän verabschiedet hatte. Sie würde alle vermissen an ihrer Zeit an Land. Auch, wenn die Möglichkeit bestand, ein paar Männer der Crew wiederzutreffen, da die 'Aura' ihre Wintermonde auf dem Trockendock in Akendi verbringen würde und sie ihre Familien aufsuchen wollten. Von dem Handelsreisenden Tanis hatte sie in den letzten Tagen wenig gesehen. Er verließ das Schiff, kaum, dass sie im Hafen einliefen, doch niemanden schien dies allzu sehr zu verwundern. Lad hingegen hatte noch beim Entladen geholfen, bevor der Kapitän sie entließ und ihr sogar einen kleinen Lohn überreichte, damit sie sich ein Pferd besorgen konnte, um Aurenien nicht zu Fuß erkunden zu müssen.
Noch hatte sie nicht vor, ihre Familie zu suchen, sondern die Gegend auf eigene Faust zu erkunden. Lang war sie nicht in Aurenien gewesen und sie hatte fast vergessen, dass die Städte dieses Landes eins mit der Natur waren. Eine Ausnahme bildete dabei jedoch die große Handelsstadt, in der sie wieder Fuß gefasst hatte und die Stadt, wo der Palast des Herrschers lag.
Das Pferd, das sie sich geliehen hatte, wieherte freudig auf, als sie den Weidengrund erreichten. Lad beugte sich vor und strich ihr über den Hals. Sie war erleichtert in der sengenden Hitze der Sonne einen schattigen Ort zum Rasten zu finden.
Sie sprang ab, als sie das Ufer erreichten. „Still deinen Durst, Elenya“, flüsterte sie der braunen Stute zu und nahm die schwere Satteltasche ab.
Es war schön hier. Ruhig und kühl. Sie fuhr sich durch das gelöste Haar und lächelte unwillkürlich. Es war der ideale Ort, um zu rasten.
Dass jemand anderes noch hier war, hatte sie nicht bemerkt. Viel zu froh war ihr Kopf über die Frische, die Wasser und Schatten ihrer Haut spendeten. Auch ihre tränenden Augen waren dankbar für die Erholung. Das helle Licht über der weiten Ebene hatte sie an ihr Limit gebracht und noch immer funkelten Zeichen der Blendung, die man erfuhr, wenn man zu lang in die Sonne gesehen hatte, vor ihrem geistigen Auge.
Gemächlich wanderte sie den See entlang, ließ die Finger durch das dort wachsende Schilf und das hohe Gras streichen, das sich unter ihren alten Stiefeln bog.
Ein Rascheln in einer nahen Weide, das nicht vom Wind stammen konnte, ließ sie aufhorchen und herumfahren. Schnell hatte sie den Griff ihres Schwertes gefasst und jenes gezogen. Bereit sich zu verteidigen.
„Wer ist da? Zeigt Euch!“, rief sie und ließ den Blick aus ihren grauen Augen suchend über den Baum wandern.
Mit einem Satz sprang Liadan hervor. Den Bogen fest in ihrer Hand und einen Pfeil schussbereit angelegt, bis zu ihrer Wange gespannt. Mit ernster Miene blickte sie zu Lad.
„Wer seid Ihr und was tut Ihr an diesem Ort?“, herrschte sie Lad an und atmete innerlich auf. Die Fremde vor ihr war kein Skalaner und mit Sicherheit weder ein Ork, noch ein Troll. Stattdessen verblüfften sie die Augen, die ihren eigenen so sehr glichen.
Lad ließ langsam das Schwert sinken und legte es am Boden ab, den Blick nicht aus dem Gesicht der Fremden nehmend. „Man nennt mich Lad í Sathil“, antwortete sie mit ruhiger Stimme, „Ich bin unbewaffnet wie Ihr seht. Ihr könnt mich also angreifen und töten. Ich würde es nur schätzen zu wissen, wessen Pfeil mich trifft.“
Sie konnte sehen, wie die Augenbrauen der Blonden hoch wanderten, als sie ihren Namen nannte. Liadan blickte sie an, als stünde sie vor einem Geist. Selbst die Farbe wich ein wenig aus dem sonst gebräunten Gesicht.
Sie ließ den Bogen sinken und steckte den Pfeil weg. „Ich heiße Liadan í Amasa“, ihre Stimme war normal, auch wenn Liadan dachte, sie müsse sich anhören wie eine total Verrückte, denn innerlich raste ihr Herz auf einmal.
Lad nickte nur matt. Sie war müde von der Reise, die hinter ihr lag. Den Tagen auf See und dem Ritt durch dieses Land, in dem sie sich kaum zurechtfand.
„Wenn du diesen Ort dein Eigen nennst, dann erlaube mir bitte ein wenig hier zu rasten. Ich komme von weit her und bin müde.“, bat sie schließlich und wandte sich ab, um sich nahe am Wasser zu Boden sinken zu lassen. Kurz sah sie sich nach ihrem Pferd um, das vorhin noch getrunken hatte, doch Elenya war verschwunden. Das Wiehern zweier Pferde schallte aus den Büschen herüber. Sie folgte dem Geräusch und zog fragend eine Braue in die Höhe.
Liadan sah für den Bruchteil einer Sekunde in dieselbe Richtung. „Scheinbar hat dein Pferd meinen Korathan entdeckt“, sie schmunzelte und setzte sich zu Lad. Ihre Finger ordneten nervös die Pfeile in dem Köcher an ihrer Seite.
„Korathan? Mein Pferd heißt Elenya“, Lad zog die Beine an und betrachtete die Fremde, die sich Liadan nannte.
Diese lächelte still und musterte Lad ihrerseits. Die ihr fremde Fai sah ihr ähnlich. Zu ähnlich. Lads Haare waren braun, hingegen ihre eigenen golden. Doch die silbergrauen Augen waren die gleiche. Außerdem hatte sie sich als Lad í Sathil vorgestellt. Ein Name, den ihre Mutter selten verwendete, denn er brachte ihr mehr Gram als Freude. Liadan schluckte. Konnte es möglich sein, dass diese Frau ihre Schwester war? Sie wusste, dass sie eine Schwester hatte, doch ihre Eltern hatten nur von dieser geredet, wenn sie dachten Liadan schliefe.
„Woher kommst du?“, fragte sie Lad und sah abwartend drein.
„Ich stamme ursprünglich von hier, aus Sidéral, doch seit meine Zieheltern vor langer Zeit bei einem Feuer ums Leben kamen, reise ich in der ganzen Welt umher. Ich wohne mit Freunden zusammen in Telrúnya, das ist ein Ort in Astila, über dem weiten Meer.“, berichtete Lad, ehrlich, denn sie spürte, dass es wenig Sinn machen würde, zu lügen und irgendwie fühlte sie sich behaglich genug, um derart offen zu sprechen.
Kurz ließ sie den Blick schweifen, über das ruhige Wasser des Sees, das in der Sonne glitzerte. Die Seerosen, die ihre Köpfe begierig der Kraft spendenden Quelle entgegen reckten. Sie erinnerte sich an den See vor Merenwens Schloss. Dort gab es keine Seerosen und er war nicht so klar, dass man den Grund sehen konnte.
„Zieheltern?“, die Stimme Liadans holte Lad wieder zurück in die Wirklichkeit, „Du lebtest nicht bei deinen richtigen Eltern?“
Lad sah auf und nickte bestätigend: „Ja, ich wuchs bei Zieheltern auf. Astra, meine Mutter, sagte immer, die Frau, die mich ihr gegeben hat, hatte schönes goldenes Haar und graue Augen. Sie soll geweint haben, als sie mich hergab.“
„Nyal, meine Mutter, sieht so aus!“, platzte es aus Liadan hervor. Sie stockte und begann zögernd: „Ich... Meine Eltern sagten mir, dass ich eine Schwester hätte, die sie verloren haben. Ein Feuer soll sie dahingerafft haben, aber ich habe immer geglaubt, dass sie noch irgendwo da draußen ist. Sie haben sie gesucht, aber nie gefunden.“
„Eine Elfe, die mich vor kurzem aufsuchte, eine Fai, wie sich dein Volk hier nennt, meinte, dass meine wahre Familie mich noch immer suchen würde. Sie sagte auch, ich hätte eine Schwester, doch ich weiß nichts davon. Ich weiß nur, wie Astra die Frau beschrieb, die mich hergab und erzählte, dass das Land seit langem im Krieg liegt und ich ihn eines Tages sehen würde. Die Skalaner wären die Feinde der Fai und sie hätten Orks und Trolle als Verbündete“, Lad lächelte matt und schlang die Arme um ihre Beine, stützte das Kinn auf ihren Knien ab und betrachtete Liadan nun eingehender. Sie sah genauso aus, wie sie sich die Frau, ihre wahre Mutter, vorgestellt hatte. Goldblonde Locken, die ein edles Gesicht umrahmten und graue Augen, die mit dunklen Wimpern besetzt waren.
Langsam hob sich Liadans Hand und berührte Lad sacht an der Wange. Ihr fiel nicht auf, dass Lad dasselbe tat. Erst als sie beide die Hand der anderen an der Wange spürten, wurde ihnen alles klar. Liadan lächelte sie an. Sie war sich nun sicher, dass sie ihr Gefühl nicht trügt.
„Endlich habe ich dich wieder, meine Schwester! Nun sind Lad und Liadan, die Kinder von Nyal und Khirani wieder vereint“, brachte Liadan stockend hervor.