»Öffne deine Augen…«
Den fern erscheinenden Worten Folge leistend, öffnest du deine Augen.
Langsam flackern deine Augenlider ehe du erstaunt den Anblick vor dir zu erfassen versuchst.
Grau und schmutziges Blau.
Allein damit wäre einer Beschreibung deiner Umgebung zu Genüge getan.
Zumindest, bis du endlich einige Schritte vorwagst, doch nicht weit.
Von der dicken Masse, sei sie nun aus Rauch oder Nebel, eingekesselt reichte dein Blickfeld nicht weit. Verwirrt drehst du dich einmal um die eigene Achse, bis endlich Geräusche aus einer unbestimmten Richtung an dein Ohr gelangen und dich innehalten lassen.
Was ist das?
Die Geräusche sind dumpf, nur schwer scheint sich ihr Schall durch die Masse aus grau und blau zu schlängeln. Unbewusst streichst du dir flüchtig über den rechten Arm. Eine Gänsehaut lässt kurz deine Nackenhaare sich aufstellen.
Was wohl dein Unterbewusstsein vor dir bemerkt hat?
Es gibt nur einen Weg, dies herauszufinden.
Trotz mulmigen Gefühls in der Magengegend treibt es dich mit entschlossenen Schritten voran. Du siehst nicht viel und je näher du dem Ursprung der Geräusche kommst, desto mehr scheint es, als würde der einkesselnde Nebelqualm dich festhalten und vom Ursprung fernhalten wollen. Doch, ein Abenteurer deinesgleichen, lässt sich doch nicht jetzt schon abschrecken, nicht wahr?
Die letzten Meter scheint der Nebenqualm schwer auf deinen Schultern zu lasten, sie beinahe zurückzuziehen und möglichst lang dein Blickfeld trüb zu halten.
Doch kaum trittst du aus dem grau-blauen Matsch in der Luft, schlägt dir freie Sicht und ein erschreckender Anblick entgegen.
Mit weit geöffneten Augen und einem kurz aussetzenden Schlag deines nun mehr wild pochenden Herzens, brennt sich zunächst nicht der Anblick in deiner Seele, sondern die davon erklingenden Geräusche.
Ein Schreien, Klagen, Brüllen und markerschütterndes Flehen.
Panisches Gekreische von allein umherirrender Kinder.
In jedermanns herzstechende Stoßgebete weinender Mütter.
Kriegsrufe der Männer, im Versuch die Ungerechtigkeit der zu ertragenden Verluste aus der Welt zu brüllen.
Dazu mischt sich ein Krachen und Rumsen, Knallen und fauchende Flammen.
Gestein fällt und zerberstet auf dem harten Grund.
Hier und da kommt es zu einer ohrenbetäubenden Explosion.
Die fauchenden, aggressiv zischenden Flammen setzen ein helles und zerstörerisches Licht zum, vom Nebel undurchlässig verdeckten, Himmel empor.
»Die Burg fällt…«
Ein Schauer läuft dir plötzlich über den Rücken und reißt dich auf verstörende Art und Weise aus deiner Trance.
Eine Burg?
Dein Blick fällt wieder auf die Szene vor dir und tatsächlich. Zuvor vom Terror der Geschehnisse verschleiert, offenbart sich dir nun, wie ein dunkles Gemäuer, sicher einst ein eindrucksvolles und mächtiges Schloss aus härtestem Stein, dem Erboden gleich gemacht wird.
Wie es wohl einst sich dem Himmel stolz entgegen streckte, so fiel es in diesem Augenblick in sich immer mehr zusammen. Die Burg oder vielmehr, das Schloss fiel und damit unzählige Leben in die Hände des allgegenwärtig erscheinen Todes.
Auf der Anhöhe, auf der du dich selber befindest, ist weiter vorne auf der noch höher gelegenen Spitze eine Gestalt. Die unbekannte Person verhüllt im dunklen und blendend Gold getauchtem Gewand reckt wie ein Held eine lichterloh brennende Fackel in die Höhe. Es genügt nur ein Schritt näher und deine Aufmerksamkeit hängt ganz bei der Gestalt. Und nun hörst du es.
Ein Lachen.
Gackernd, hämisch wie eine gehässige Hyäne, mal leiser und heiser und dann in wildem Vernunft brechendem Wahnsinn auftobend.
Deine Hände zittern, nervös schluckst du und deine trockene Kehle schmerzt.
Der Wahnsinn.
Eine Ausgeburt jener scheint dort vor dir zu stehen.
Tobt sich aus in ihren Zügen, in ganzem Glanze wild und der Verdammnis versprochen.
Und du?
Was tust du hier eigentlich?
Was will ein unbedeutender Fremder in diesem Chaos, in dem Wahnsinn der kommenden Verdammnis denn noch?
Na los, lauf doch!
Ein Windzug zerrt kurz an deiner Kleidung, rüttelt, als würde er dich warnen wollen – aber zu spät, wie alles in diesem Moment.
Ein Krachen, ein Rumsen und alles von Gehör-raubender Lautstärke.
Hat dich der Lärm noch nicht auf die Knie gezwungen, so schafft es die darauffolgende Erschütterung. Die Erde bebt und eine Druckwelle jagt dir nicht nur Staub und Schmutz mit einer Sturmböe entgegen, sondern zwingt in Bruchteilen von Sekunden das Gemäuer in die Knie.
Kurz scheint alles still.
Alles leicht. Alles von der Zeit unberührt. Alles erstarrt und ohne jegliche Emotion.
Als hätte man dir für Sekunden dich deiner Gefühle beraubt.
Und der Welt ihrer Luft und Bewegung.
Der angespannte Moment gespenstigster Stille endet mit dem nun endgültigen Sturz des dunklen Gemäuers. Nahezu perfekt gerade fällt es in sich zusammen, zieht noch mehr Leben in den Tod und dein freieres Blickfeld verwirrt dich.
Einst groß und mächtig, nun nicht mehr ein erbärmlicher Haufen blutiges Geröll.
Die Stille jagt dir einen Schauer über deine Haut.
Niemand schreit, niemand klagt, niemand brüllt – nichts scheint zu atmen.
Außer dir und noch einer Person.
Vom tosenden Krach des stürzenden Schlosses übertönt worden, hatte selbst die Gestalt an der Klippe geschwiegen. Doch nun?
Erst leise und heiser, dann überschwänglich und voller Freude und letzten Endes hysterisch, vom Wahnsinn getränkt – ein Lachen.
Die Gestalt an der Klippe reckt siegreich die Hände in die Höhe gen Himmel, breitet die Arme aus und dreht sich euphorisch im Kreise, immer weiter und weiter und weiter, weiter im Kreise sich drehend und drehend und drehend – bis!
Selbst die Person ihren letzten Funken Menschlichkeit zeigt und hörbar nach Luft schnappt.
Keuchend und schwer atmend, krümmt sich die Gestalt unter dem weiterhin anhaltendem Lackkrampf.
Doch dann ein Ruck.
Plötzlich steht die Person still, ohne schwere Atmung als wäre sie nun auch jener überdrüssig geworden.
Und ein weiter Ruck.
Rot – Dunkel, stumpf, und doch teuflisch leuchtend.
Die tiefliegenden Augen der Gestalt starren dich an.
Durchbohren dich mit ihrem Blick, das Rot, der Wahnsinn scheint durch deine Haut, durch deinen Schädel und direkt zum Hirn und weiter zur Seele vorzudringen.
Ein unkontrolliertes Aufzucken der Gestalt lässt dich japsend nach Luft schnappen.
Glatt hattest du vergessen zu atmen.
Du hältst dir den Kopf, er schmerzt nicht, doch fühlt er sich so seltsam an.
Erneut ist es die Gestalt, die dich darin unterbricht weiter zu handeln, zu denken oder auch nur einen Schritt mal wieder zu tätigen.
Sich seltsam krümmend taumelt sie zur Spitze der Klippe, zum Abgrund.
Sie murmelt, es klingt wirr und nicht nach einer dir bekannten Sprache.
Kantig, hohl und zischelnd würde als Beschreibung zum Klang passen.
Ein Wind, dieses Mal von Hinten kommend schiebt dich ein Stück an und du machst einen Schritt vor. Die Gestalt ist nur noch wenige Meter vom Abgrund entfernt.
Da packt dich ein unruhiger Gedanke und du schießt stolpernd vor.
Doch die Distanz ist zu groß.
»꒒ꐮ꒚꒚ꑙℙꎧꑙቄエᗑ!«
Mit diesem schallenden Ruf lässt sich die Gestalt an der Klippe nach vorne fallen und verschwindet mit wehenden Gewändern aus deinem Blickfeld.
Mit zusammengekniffenen Augen wendest du den Blick ab und hältst dir zur Sicherheit die Ohren zu – du hast genug gesehen und gehört.
Leise zählst du in deinen Gedanken, ehe du deine Augen wieder öffnest und deine Hände zurück an deine Seite fallen lässt.
Schleichend streicht ein Gefühl der Einsamkeit über deine Haut.
»Es ist vorbei.«
»Es ist vorbei…«, scheint ein Flüstern vom Winde getragen dir zuzustimmen.
Eine benebelnde Gleichgültigkeit scheint dich zu übermannen.
Dein Körper scheint schwer, deine Seele ausgelaugt, als hättest du höchstpersönlich da unten gekämpft.
Aber, gegen was eigentlich?
Kurz wirfst du einen Blick über die Schulter.
Du könntest zurückgehen oder du gehst noch die paar Meter vor und schaust, gegen was sich so viele Leben versucht hatten zu behaupten.
Die Entscheidung nimmt dir der Wind ab.
Wenn er dich so einladend doch nach vorne schiebt, kann man es sicher wagen.
Deine Hände in deine Jackentasche steckend, huschst du die Meter mit eingezogenem Kopf ach vorne.
Einen Meter vor dem Abgrund gehst du nur noch langsam, man muss schließlich kein Risiko eingehen.
Was war das eigentlich noch mal?
Du beugst dich vorsichtig vor und wagst es nur noch deine Füße vorzuschieben anstatt Schritte zu machen.
Was hatte die Gestalt gesagt?
Lys...?
»Lyssophobia«
Und plötzlich!
Eine schwarze Masse zieht sich rasant die Klippe hoch, schießt in die Luft und tut sich wie das dunkle Maul eines Monsters über dich auf.
Die Zeit scheint sich mit einem Mal zu dehnen.
Zwei Wimpernschläge hatten genügt und das Wesen war über dir.
Langsam schließen sich deine Augen – alles ist schwarz.
Langsam öffnen sich deine Augen – Zähne aus schwarzer Masse nehmen deine Sicht ein.
Deine Augen schließen sich wieder – alles schwarz.
Du öffnest deine Augen – doch weiterhin, alles schwarz und dann…
Nichts.
Ein Schlüssel knackt im Schloss und wird gedreht.
Vorsichtig drücke ich die Klinke runter und blicken in den dunklen Raum.
Mit einem Schnipsen entfacht der Erzähler gerade eine Reihe von Flammen, die eigenständig in der Luft schweben und etwas Licht spenden.
Lyssophobia.
Die Angst davor wahnsinnig zu werden.
Paradox, nicht wahr?
Zumindest wenn man bedenke, dass allein die Angst eine, wenn nicht sogar die stärkste Kraft, zur Entstehung vom Wahnsinn ist.
Mit diesen Worten schiebt sich der Mann mit Zylinder grinsend an mir vorbei, raus aus dem Zimmer und auf den Flur. Mit hochgezogener Augenbraue blicke ich zurück zum Leser.
»Ist alles okay?«, frage ich flüsternd.
Keine Antwort, also drücke ich dir Tür ganz auf, damit mehr Licht in den Raum fällt.
Ich drehe mich auf dem Absatz um und lehne mich mit dem Rücken zum Raum gewandt an den Türrahmen.
»Du weißt«, setze ich an, »du musst nicht bleiben, jeder Raum ist freiwillig und man kann jederzeit die Notbremse ziehen.«
Ich halte inne und lege den Kopf in den Nacken.
»Der Wahnsinn ist ein steiler Start. Kein Thema, das man gerne anfasst.«
Einen Blick über die Schulter werfend erhasche ich den Leser, wie er auf einem Lederstuhl sitzt, der Körper sich von der Atmung deutlich hebt und senkt und die Hände angespannt zu Fäusten geballt sind.
Leicht lege ich den Kopf schief und drücke mich dann vom Rahmen ab.
»Na komm, ich lade dich ein. Der Hauptraum ist das Esszimmer mit einem warmen Kamin, Tee und Keksen auf dem Tisch. Vermutlich kannst du eine Pause vertragen.«
Mit den Worten verschwinde ich ebenfalls auf dem Flur und horche nur, ob mir Schritte folgen werden, oder nicht?