16. Kapitel
Sich der Vergangenheit stellen, Bereit zum Kampfe!
«Sie wollen sich also tatsächlich bei der Polizei melden?» fragt mich meine Anwältin etwas erschrocken. Es handelt sich bei ihr um eine schlanke, in ein dunkelblaues Deux Piece gekleidete Frau, mit schulterlangem, dunklem Haar und ausdrucksvollen, braunen Augen, welche schon vieles in ihrem Leben gesehen haben.
«Ja, ich will, dass die Welt erfährt, was für ein Mensch Amir wirklich ist und was er mir alles angetan hat.» «Aber es kann sein, dass sie dann auch ins Gefängnis müssen, wegen dem was sie damals Amir angetan haben. Ausser sie werden freigesprochen, oder kommen zumindest auf Bewährung raus, wegen der besonderen Umstände. Wir werden natürlich alles tun, was in unserer Macht steht, um das Strafmass so gering wie möglich zu halten. Ihre Karten stehen nicht schlecht. Immerhin war es Notwehr und Amir hat keine bleibenden Schäden davongetragen. Das beweist das Gutachten, dass ich von seinem damals behandelnden Arzt habe erstellen lassen. Amir hatte zwar einige Hämatome und einen Gehirnerschütterung und da waren diese Krallenspuren auf seiner Brust. Aber wie gesagt, keine bleibenden, körperlichen Schäden.
Sie sagen sie erinnern sich nicht mehr an alles?
«Nein, leider nicht. Irgendwie hatte ich wohl einen Blackout. Als ich wieder zu mir kam, lag Amir schwer verletzt vor mir. Ich muss ihn mit einem Stuhlbein geschlagen haben. Aber er war so… schrecklich brutal und irgendwie muss sich da irgendwie ein Überlebensinstinkt eingeschaltet haben.»
«Davon gilt es nun die Geschworenen und den Richter zu überzeugen. Gut ist, dass sich durch die Spurensicherung der Polizei damals, herausgestellt hat, dass auch viel Blut von ihnen am Tatort gewesen ist und das hat gezeigt, dass auch sie verletzt waren. Auf Amirs Händen fand man sogar DNA Spuren von ihnen, was beweist, dass auch er sie geschlagen hat.» «Aber warum hat man ihn dann nicht eingesperrt?»
«Weil sie leider verschwunden sind. Wo kein Ankläger, da keine Anklage. Das könnte ihnen auch einen Strick winden. Sie hätten auf jeden Fall nicht verschwinden dürfen.»
«Aber ich konnte einfach nicht mehr bleiben, ich hatte schreckliche Angst, Angst davor, das alles noch schlimmer wird.»
«Ich kann sie verstehen Melina, doch die Vertreter der Verteidigung werden einige Geschütze auffahren, um sie als Schuldige dastehen zu lassen. Das ist ihnen schon bewusst, oder?»
«Ja, das ist mir bewusst, aber ich werde für meine Fehler einstehen und darum will ich das.»
«Sie müssten das nicht unbedingt tun Milena, Amir kommt so oder so für sehr lange Zeit hinter Gitter, es gibt mittlerweile genug erdrückende Beweise gegen ihn und jemand der Minderjährige an ältere Männer verschachert, hat äusserst schlechte Karten in unserer Gesellschaft. Wenn sie sich stellen, würde es höchstens darum gehen, ihren Namen rein zu waschen und vielleicht hilft es ihnen ja auch, das alles besser zu verarbeiten und damit abschliessen zu können. Im besten Fall wird ihr Name tatsächlich rein gewaschen und sie werden gar nicht bestraft. Aber wenn sie doch bestraft werden, dann könnte sich das auch auf ihr zukünftiges Leben negativ auswirken. Ich rechne zwar nicht mit einer langen Haftzeit, doch Haftzeit bleibt Haftzeit und sie sind dann vorbestraft. Darum überlegen sie sich gut, ob sie das tun wollen.»
«Ja,» mischt sich nun meine Partnerin Claudia ins Gespräch. «Das musst du dir wirklich gut überlegen Milena. Es könnte dein Leben vielleicht noch mehr zerstören, wenn du das tust.» «Aber ich kann auch nicht immer davonlaufen,» erwidere ich. «Aber… was wird dann aus deinem neuen Leben?» Claudia schaut mich vielsagend an und ich weiss, dass sie auch auf mein Doppelleben als Rachegöttin anspricht. «Es gibt kein neues Leben, bevor ich mein Altes nicht abgeschlossen habe.» erwidere ich traurig, aber bestimmt. «Wenn ich mich Amir nicht endlich stelle, dann werde ich den Frieden niemals finden.» «Aber es könnte dich auch noch mehr traumatisieren.» «Nicht, wenn ich wahrlich dafür sorgen kann, dass er für sehr lange Zeit hinter Gittern bleibt. Ich schulde es auch irgendwie all den mutigen Frauen und Mädchen, die sich dazu entschlossen haben, gegen Amir auszusagen.» «Ich mache mir aber grosse Sorgen um dich Milena. Du könntest daran zerbrechen.» «Nein, das glaube ich nicht. Ich war jetzt schon einige Male bei der Psychologin welche Devi mir empfohlen hat und wir haben uns das gut überlegt. Sie meinte, dass es helfen könnte, mein Trauma zu heilen, wenn ich gegen Amir aussage. Das braucht sehr viel Mut und hast du selbst nicht vor einigen Wochen gesagt, dass ich eine Stärke in mir habe, die ich wiederfinden muss? Ich glaube das könnte mir dabei helfen. Meine Psychologin wird auch vor Ort sein und ich habe auch gute Medikamente bekommen, um meine Depressionen und Angststörungen in den Griff zu kriegen.»
... Ich erinnere mich zurück an jenen schrecklichen Moment, als ich wirklich geglaubt hatte, ich müsse meinem Leben ein Ende setzen. Es war eine Woche, nach der Festnahme von Amir und den adern Verbrechern gewesen. Ich war damals allein zu Hause in meinem Appartement in Blossom City. Claudia war gerade nicht bei mir und da hatte ich wieder einen dieser schrecklichen Zustände. Ich spürte einen unglaublichen Druck in meinem Inneren und die Rachegöttin wollte sich diesmal einfach nicht zeigen. Ich wollte mich wieder ritzen, doch liess es dann doch sein. Es nützte ja doch nichts! Alles schien auf einmal über mir zusammenzustürzen, wie ein Kartenhaus. Auf einmal war mir, als würde ich auf dem Rande eines todbringenden Strudels herumbalancieren, ohne zu wissen, ob ich nicht im nächsten Moment in ihn hineinstürzen würde. Ich kannte diese Zustände, doch diesmal war die Anziehungskraft dieses Strudels besonders stark. Alle Erinnerungen kehrten wieder, schrecklicher und bedrohlicher den je und mir war, als ob Amir sich selbst durch meine Eingeweide und mein Blut hindurch schlängeln würde, wie eine widerliche, bösartige Schlange, die ich einfach nicht loswurde.
Ich erinnerte mich an die zahllosen sexuellen Missbräuche von seiner, wie von der Seite anderer Männer und ich fühlte mich so schmutzig so unglaublich wertlos, wie nie zuvor. Nicht mal mehr die Rachegöttin wollte sich mir noch zuwenden. Sie hatte wohl auch genug von meinem ständigen Versagen. Nein, ich hielt dieses Leben einfach nicht mehr aus! Ich musste raus hier, raus aus allem und dazu erschien mir der Tod der einzige Ausweg. Ich zog mir eine Jacke über und ging hinaus, hinaus in die Kälte der spät-herbstlichen Nacht, wo der Wind kalt blies, an meinen Haaren zerrte und meine Wangen zu Eis werden liess. Mein Ziel war die Brücke, die hohe Brücke, welche über den Blossom Fluss führte. Blossom- blühend, welcher Hohn, denn in meinem Inneren schien in jenem Moment alles verdorrt, alles vertrocknet und von Fäulnis durchdrungen. Amir war diese Fäulnis, all meine Erfahrungen mit ihm, meine Erfahrungen im Krieg, damals im Balkan, sie waren diese Fäulnis und sie holten mich nun wieder ein. Ich lief schneller, immer schneller, als könnte ich dieser Fäulnis entkommen. Doch sie holte mich ein, packte mich mit ihren unsichtbaren, schrecklichen Tentakelarmen und machte mir das Bewegen und Atmen noch schwerer, als es sonst schon war. Tiefe Verzweiflung ergriff mich und ich schrie laut in die einsame Nacht hinaus. Doch auch dieser Schrei befreite mich nicht. Er brachte gar nichts. Wo war nun diese Kraft, diese Kraft, von der ich so gerne hätte glauben wollen, dass sie noch existierte? Sie war weg, hinfort genommen von dieser schrecklichen Fäulnis meiner dunklen Erinnerungen. Alles Schöne verblühte in Angesicht dieser faulenden Angst, die mich immer mehr zu zerfressen drohte.
Es blieb mir nichts anderes übrig…» Ich ging an das Geländer der Brücke und schaute hinunter in den Fluss, der im Dunkeln kaum noch zu erkennen war. Ich kletterte auf das Geländer, nur ein Sprung, ein Sprung und ich würde endlich frei sein, endlich frei von dieser verblichen Fäulnis in meiner Seele. Meine Seele fühlte sich an als würde sie in tausend Scherben liegen, ohne Licht, ohne Hoffnung ohne…
Ich wollte springen, gleich würde ich es tun, nicht mehr lange nur dieser eine Schritt in die Leere vor mir… weg von der Leere in mir. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte nicht springen! Aber warum nur nicht, warum bewies ich nicht wenigstens genug Mut, diesen letzten Schritt zu tun? Aber war so eine Schritt auch wirklich mutig? Ich hielt inne und auf einmal glaubte ich, dass es etwas heller um mich herum wurde. Und dann vernahm ich auf einmal die Stimme der Göttin, jedoch nicht der Rachegöttin, sondern die Stimme einer sanften, liebenden, verstehenden Göttin. Ich sah sie nicht, doch ich spürte sie in meinem Herzen. «Tu es nicht!» sagte sie mir «sonst wird Amir siegen. Willst du, dass er siegt?» War das wirklich so? Würde Amir siegen, wenn ich meinem Leben ein Ende setzte? Durfte ich diesen Mann siegen lassen? Ihm so viel Macht über mein Leben geben? Hatte ich das nicht schon genug lange getan? War es nicht an der Zeit, mich ihm endlich zu stellen, ihm endlich entgegenzutreten und ihm zu zeigen, dass er keine Macht mehr über mich hatte?
Und auf einmal schämte ich mich und trat vom Geländer zurück. «Ich wollte meinem Leben ein Ende setzen, wegen ihm, wegen diesem Mistkerl? Warum sollte ich das tun? ich war nicht schuld an alledem. Ich war das Opfer. Er hatte mir Schreckliches angetan, schon als ich noch jung und völlig unerfahren gewesen war. «Warum solltest du dich selbst bestrafen, wenn er doch der Schuldige ist?» sprach die Stimme der Göttin erneut zu mir und ich staunte, wie sanft sie doch war und wie viel sie doch irgendwie gemeinsam mit der Rachegöttin hatte. Sie war eine Kämpferin, aber eine friedvolle Kämpferin, auch ich wollte kämpfen, ich durfte nicht aufgeben. Nein ich würde nicht aufgeben!
Ich wandte mich von der Brücke ab und ging zurück nach Hause, ohne jemandem von meinem nächtlichen Ausflug zu erzählen.
Nach diesem schrecklichen Erlebnis begriff ich, dass ich mir endlich wirklich professionelle Hilfe holen musste. So rief ich die Psychologin an, welche mir meine Freundin Devi empfohlen hatte. Mit ihr redete ich über alles. Sie war auf Traumas spezialisiert und half mir wirklich sehr. Nach einigen Behandlungen bei ihr, kristallisierte sich heraus, dass ich mich am Besten meinem Trauma stellen konnte, wenn ich gegen Amir aussagte. Tja und da bin ich nun… bereit zum Kampfe!