5. Kapitel
Die Medusa mit den vielen Augen
Lea zögerte einen Moment, doch dann beschloss sie, der Löwenfrau zu folgen. Sie gingen eine Weile durch eine weitere Schlucht und dann eine Anhöhe hinauf, welche von rötlichen und grauen Schottersteinen übersäht war. Die Sonne brannte weiterhin unbarmherzig auf sie herab und Lea war froh, als sie zu einem schattigen Höhleneingang kamen. «Da drin lebe ich,» sprach die Löwenfrau und bedeutete Lea ihr ins Innere zu folgen. Eine samtene Dunkelheit umfing sie für einen Moment und es dauerte etwas, bis sich Leas Augen daran gewöhnt hatten. Im hinteren Teil der Höhle, befand sich eine Wand, welche die Löwenfrau nun leicht mit ihren Fingern berührte. Es wirkte als würde die Wand Wellen schlagen und auf einmal verschwand sie. Dahinter sah man ein goldenes Licht leuchten.
Sie gingen durch die neu entstandene Öffnung und gleich darauf blieb Lea wie angewurzelt stehen. Sie befanden sich in einem hohen, oben spitz zulaufenden Raum, dessen Wände sauber behauen, weiss getüncht und mit leuchtend bunten Hieroglyphen, bemalt waren. Weiche Teppiche und einige Kissen lagen herum. Möbel gab es keine, ausser einem kleinen Tisch, aus dunklem Holz, in der Mitte des Raumes. Eine runde Öffnung, im oberen Teil des Raumes, liess etwas Sonnenlicht herein und warf einen hellen Kegel auf den Tisch. Darauf standen zwei Gläser, gefüllt mit einem milchig- glitzernden Inhalt. Das Sonnenlicht brach sich in bunten Regenbogenfarben darin. Einige Kräuter hingen an einer Schnur, welche man zwischen den Höhlenwänden gespannt hatte. Auf einigen Regalen standen verschiedenste Tränke, ähnlich wie einst im Haus der Rabenfrau. Es gab eine Feuerstelle und ein unaufhörliches Plätschern und Rauschen, wie von Wasser, drang an Leas Ohren. Sie suchte nach der Quelle der Geräusche und entdeckte im hinteren Teil des Raumes ein Loch im Boden, durch welches ein wilder Bach floss. Ein Kessel stand daneben mit einer Schnur daran.
«Das ist meine hauseigene Quelle. So habe ich immer genug Wasser,» meinte die Löwenfrau stolz. «Ich selbst brauche zwar nicht viel zu trinken, aber ich braue damit Tränke und auch zum Kochen von verschiedensten Speisen, brauche ich Wasser. Setz dich doch, ich habe uns schon etwas zu trinken vorbereitet.» Die schöne Frau zeigte mit ihrem schlanken, ring-geschmückten Finger, auf die beiden Gläser auf dem Tisch.
«Was ist das?» fragte Lea.
«Ein Trank der dich stärken und deine Sinne etwas mehr klären soll.» «Meine Sinne klären?» fragte Lea leicht misstrauisch.
«Ja,» erwiderte die Löwenfrau «vertraust du mir etwa nicht?» Lea wusste ehrlich gesagt nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. Einerseits vertraute sie der Frau, andererseits dann doch wieder nicht.
«Soll ich zuerst trinken?» wollte die Löwenfrau wissen, setzte sich neben den Tisch auf einige der Kissen, nahm das eine Glas mit dem glitzernden Inhalt und hob es an die Lippen. Sie trank einen kräftigen Schluck und bedeutet dann Lea mit ihrer flachen Hand sich neben sie zu setzen. «Mach es dir bequem und entspanne dich einfach. Es wird dir hier nichts passieren. Ich meine es doch nur gut mit dir.»
Noch immer zögerte Lea. Und wenn diese Frau ihr mit dem Drink nun irgendwelche Drogen verabreichen wolle? Aber nein, sie war bestimmt paranoid. Irgendwas verunsicherte sie einfach an der Sache. Dennoch beschloss sie schliesslich, das Gebräu zu trinken, schon weil es so schön aussah. Vielleicht eine Art LSD? Nun, was sollte es schon? Sie befand sich hier ja eh in einer Zwischenwelt, da würde schon nichts Ernstes passieren. So nippte sie an dem zweiten Glas, während ihr die Löwenfrau ein ermunterndes Lächeln zuwarf. Das Gebräu schmeckte tatsächlich gar nicht schlecht, sondern sogar sehr süss, fast honigartig. Lea mochte es und so nahm sie einen grösseren Schluck.
Gleich darauf breitete sich in ihr eine wohlige Wärme aus und nach weiteren zwei Schlucken, glitt sie hinüber in einen seltsamen Schlaf….
Plötzlich erwachte sie wieder, ihr Geist war ganz klar und ihre Sinne geschärft. Sie sah sich um. Noch immer befand sie sich in dem seltsamen Höhlenhaus der Löwenfrau, doch die Löwenfrau war nirgends zu entdecken. Alles wurde von einem eigentümlichen, jedoch nun eher silbernen Schein erhellt und Lea kam zum Schluss, dass es Nacht sein musste. Langsam erhob sie sich. Ihr Körper war leicht und es war fast so, als würde sie über Watte gehen. Doch als sie zu Boden schaute, war da nur Stein. Sie blickte auf ihre Füsse und erschrak. Es waren die Pfoten einer mächtigen Raubkatze, einer Löwin. Aber was… hatte es damit auf sich?
Sie konnte jedoch nicht lange darüber nachdenken, denn vom Höhleneingang her erklang auf einmal ein seltsames, leises Zischen und Klappern wie von Klapperschlangen. Vorsichtig, ganz vorsichtig, schlich Lea auf ihren nun vier Beinen, hinaus in die vordere Höhle. Sie verursachte dabei nicht das geringste Geräusch. Plötzlich, sah sie vor dem silbernen Mondlicht des Haupteinganges eine seltsame Silhouette. Diese sah aus wie eine Frau, deren Körper jedoch in einem Reptilienschwanz endete. Ihre Haare bewegten sich irgendwie seltsam, als besässen sie ein Eigenleben. «Sie issst also hergekommen,» hörte sie den Widerhall mehrerer Stimmen. «Wirssst du sie töten?»
«Wenn der richtige Moment kommt, bestimmt!» erwiderte eine weibliche Stimme.
«Wozu warten, wir könnten unsss auch auf die Lauer legen, sssie kommt bestimmt bald wieder ausss der Höhle.»
«Wir müssen sie aber allein erwischen, ohne die Löwenfrau!» sprach die weibliche Stimme. «Sie wird vermutlich sowieso zu mir kommen!» Der unheimliche Schatten verschwand nun wieder.
Lea überlegte einen Moment, doch die Neugier war stärker und sie schlich der unheimlichen Kreatur leise hinterher.
Im fahlen Mondlicht, sah sie die schlangengleiche Gestalt, ein Stück weiter vorne, zwischen den vielen Schottersteinen dahin kriechen. Es war wirklich ziemlich unheimlich. Einmal drehte sich die Frau mit dem Schlangenleib um und Lea, die nun ja eine Löwin war, drückte sich sogleich auf den Boden, hinter einem Felsen. Sie stellte entsetzt fest, dass die Schlangenfrau mehrere Paare aus gelb-glühenden Reptilienaugen, über ihr Gesicht verteilt hatte. Ihre Haare bewegten sich immer wieder seltsam, als wären sie lebendig. Lea spürte tiefe Abscheu, der grausigen Kreatur gegenüber. So tiefe Abscheu, wie damals bei dem Tentakelmonster, welches sie nach ihrem Selbstmordversuch in der Zwischenwelt verfolgt hatte. Die Rollen waren augenscheinlich jedoch vertauscht worden. Nun verfolgte Lea diese, ihr bisher noch unbekannte, finstere Kreatur und kam sich dabei vor, wie eine Raubkatze auf der Jagd. Eine Löwin zu sein, hatte grosse Vorteile. Sie spürte kaum Furcht, aber auch eine eher beängstigende Blutrünstigkeit.
Schliesslich erreichte sie eine weitere, jedoch sehr finstere Höhle. Durch ihre ausgeprägte Sinneswahrnehmungen als Löwin, konnte sie erkennen, wie die Schlangenfrau darin verschwand. Sollte sie ihr jetzt folgen? Sie schlich näher und hörte erneut die zischelnden Stimmen: «Meinssst du wirklich, sssie kommt her?»
«Ja… erwiderte die Frauenstimme, sie ist schon gaanz nahe…» Und dann gefror Lea das Blut in den Adern, denn dieselbe Stimme sprach auf einmal direkt zu ihr. Sie klang unheimlich und bedrohlich, wie aus einer alptraumhaften Realität: «Lea… Lea… du kannst dich nicht verstecken… ich weiss dass du da bist…! Komm her… komm her! Dachte ich mir doch, dass du dumm genug bist, den Köder zu schlucken und mir hierher zu folgen. Du warst halt noch nie die Klügste!»
In diesem Moment sah Lea den grässlichen, schwarzen Schatten der Frau, mit ihren vielen, leuchtenden Reptilienaugen auf sich zu schnellen und sie anrempelt. Sie war so überrumpelt, dass sie zur Seite fiel, doch sogleich erhob sie sich wild fauchend.
In ihr war auf einmal ein unglaublicher Zorn und sie wollte diese schreckliche Kreatur so schnell wie möglich erledigen. Hasserfüllt, stürzte sie sich mit gefletschten Zähnen, auf die Schlangenfrau. Erst jetzt sah sie, dass deren Haare tatsächlich keine Haare waren, sondern aus kleinen Schlangen bestanden, die alle ihr Eigenleben besassen. Und auch die Augen dieser Schlangen, glühten nun auf einmal in einem gelbem Licht auf. Wild zischend, stiessen sie nach Lea. «Töten! Lassssst uns diese Versssagerin töten!» riefen sie und Lea hatte ihre liebe Mühe, den Bissen auszuweichen und zugleich auch der Frau selbst, welche nun mit einem Speer auf sie loskam. Ihre vielen, schrecklichen Augen, fixierten sie dabei unverwandt.
Auf einmal brach in Lea ein Art Bann und sie verfiel in wilde Raserei. Dies war der erste, wirklich brutale Kampf, den sie in der Zwischenwelt führte. Blindlings, kratzte sie der Medusa, mit Krallen und Zähnen, die vielen Augen aus! Sie konnte deren verachtenden, unverwandten Blick, nicht mehr ertragen. Sie wollte ihn nicht mehr ertragen! Es war ihr egal, dass das Monster nun schmerzerfüllt kreischte. Überall trafen die Hiebe ihrer Klauen nun auf dessen ekligen, schleimigen Leib! Es blutete auch. Das erste Mal, war da Blut! Sie packte die Schlangen, die nach ihr schnappten und riss sie der Medusa vom Kopf. Die Schlangen, fielen zu Boden und blieben als matte, leblose Würmer liegen. Irgendwie erschrak Lea selbst über sich und doch war da dieser unglaubliche, urgewaltige Zorn, der sich mehr und mehr Bahn brach. In jenem Augenblick erkannte sie, dass sie hier einem weiteren, schrecklichen Feind gegenüberstand.
Die Medusa, verkörperte Leas Selbsthass und dieser konnte schrecklich zerstörerisch, ja gar gefährlich sein! Sie musste gegen ihn kämpfen, mit allen Mitteln. Ihn ausmerzen! All diese Gedanken schossen Lea durch den Kopf und sie schlug immer wieder und wieder zu!
Sie befand sich in einem richtiggehenden Blutrausch und zugleich wurde ihr Körper immer matter und schwächer. Schliesslich war sie so erschöpft, dass sie dachte, sie würde doch noch unterliegen, denn die Medusa war wahrlich sehr zäh.
Lea nahm nochmals ihre ganze Kraft zusammen, biss und kratzte wie ein Berserker. Und dann auf einmal, geschah etwas Unglaubliches!
Die Medusa schien auf einmal tödlich getroffen und sackte zu Boden und in diesem Augenblick… verwandelte sie sich! Vor Lea lag der reglose Leib einer wunderschönen Jungfrau…!
Lea selbst, verwandelte sich nun zurück in ihre ursprüngliche Gestalt, fiel tief erschüttert neben der jungen Frau nieder und nahm sie in ihre Arme. Und da erkannte sie plötzlich, wer die Medusa ursprünglich gewesen war, bis sie der Selbsthass auf so schreckliche Weise entstellt hatte: Eine unschuldige, wehrlose Jungfrau! Ob das Ganze nun aber wirklich schon ausgestanden war?
Gerade, fühlte Lea nur noch Schwäche und Müdigkeit ins sich. Sie legte sich hin und fand sich unvermittelt, in der realen Welt wieder, in ihrem einsamen Spitalbett, in dem dunklen, einsamen Zimmer in dem sie vorhin eingeschlafen war...