Coverbild "Candles" by Mark Lambert
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Schreie im Moor sind nichts Ungewöhnliches, versicherte man mir. Das seien nur arme Viecher, die in eines der unzähligen Löcher gerieten und eingesaugt wurden. Es bestünde kein Grund, besorgt zu sein.
Diese Äußerungen, von Mitreisenden im Zug freundlich angebracht, sollten mich vermutlich beruhigen, doch als ich schließlich mit meinen zwei Koffern aus der Kutsche stieg - die Fahrt hatte mich reichlich durchgeschüttelt - und Sandersson House, mein Erbe, das erste Mal von Angesicht sah, wäre ich am liebsten wieder eingestiegen und nach London zurückgekehrt.
Jedoch war es nicht das Anwesen, das noch aus dem 17. Jahrhundert stammte und erst vor wenigen Jahren umfassend renoviert und modernisiert wurde, welches mir Schauer über den Rücken jagte und mich frösteln ließ.
Die Landschaft, die es umgab, tat dies.
Mitten in der Grafschaft Devonshire gelegen, erstreckte sich das Moor über Meilen rund um das Anwesen. Auf der Fahrt hatte ich sehr verstreut gelegene Gehöfte ausmachen können, doch bis auf das Dorf Merryweather, 30 Meilen entfernt und einziger Ort mit einem Bahnhof, gab es nur Sandersson House. Einsam mitten in der Ödnis des Moores.
Hügelig, schlammig, grau, braun, grün, je nach dem, wie es die Sonne durch die dicken und tiefhängenden Wolken schaffte. Der Wind pfiff und jaulte hörbar in den Tälern zwischen den Hügeln und manchmal, so sagten die Einheimischen, wenn er in einen alten Minenschacht geriet, wehte es wie das Wehklagen einer Frau über das Moor.
Mein Onkel, Thorneycroft Sandersson, hatte zeitlebens in dieser Einöde gelebt. Der kürzlich verstorbene Bruder meiner Mutter, der kinderlos und unverheiratet blieb, war ein ausgesprochener Sonderling, fing Schmetterlinge und Insekten, verfasste mehrere Monografien darüber und galt als Experte auf diesem Gebiet. Es wunderte mich wenig, dass er Junggeselle blieb. Welche junge Frau würde schon gern in dieser tristen Umgebung leben wollen, das Vermögen meines Onkels hin oder her.
So blieb, als einziger männlicher Erbe seiner Blutlinie, ich zurück. Henry Arthur Godfrey.
Ich war 27 und verdiente meinen Lebensunterhalt üblicherweise als Buchhalter in der Firma meines Vaters in London. Ich hatte meinen Onkel niemals kennengelernt. Er verließ das Moor nie, meinte, er würde den Lärm und die bösen Geister der Großstadt nicht ertragen können. Also besuchten meine Eltern ihn einige Male im Jahr, ließen mich jedoch in London bei meiner Kinderfrau zurück.
»Das Moor ist kein rechter Spielplatz für ein Kind«, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ich aus Neugier doch einmal mitreisen wollte. Als Halbstarker dann hatte ich das Interesse verloren, meine Ferien in dieser langweiligen Ödnis zu verbringen und blieb freiwillig zurück.
Und nun besaß ich, der ich niemals zuvor hier gewesen war, dieses Anwesen und alle damit zusammenhängenden Vermögenswerte. Und so war es meine Pflicht, mein Erbe in Augenschein zu nehmen.
Ich straffte die verspannten Schultern, nickte dem Kutscher, der gleichzeitig auch Stallbursche und Gärtner war, wie er mir berichtet hatte, zu und nahm meine Koffer, um schleunigst aus der feuchten, regnerischen Umgebung zu entkommen.
Laut Testament gehörte eine feste Dienerschaft zu Sandersson House, die sich aus einem alten Butler, einer Köchin, einer Haushälterin, einem Dienstmädchen und Perks, dem Kutscher, zusammensetzte.
Mir wurde in dem Testament nahegelegt, diese Belegschaft beizubehalten, da es sich um tüchtige, loyale und verschwiegene Menschen handle. Es war der Wunsch meines Onkels, seine Angestellten sicher versorgt zu wissen. Das war ein reizender Zug von ihm. Und doch entschied ich, mir selbst ein Bild von diesen Menschen zu machen und dann zu entscheiden, ob ich mit ihnen leben konnte oder nicht.
Die Tür des Anwesens öffnete sich, gerade als ich auf der ersten Stufe der Treppe stand. Eine kleine, vertrocknete Mumie mit weißen Haaren kam mir entgegen und ich hob überrascht die Augenbrauen, als eine faltige Hand mir die Koffer abnahm.
»Sir Henry. Willkommen auf Sandersson House. Verzeihen Sie, dass es einen Moment gedauert hat. Wir haben erst in einer halben Stunde mit Ihnen gerechnet.«
Ich folgte ihm langsam. Seine Livree hatte sicher auch einmal besser an ihm gesessen, als er jünger war.
»Sie sind Reid«, schlussfolgerte ich und der alte Mann wandte sich zu mir um. Ein herzliches Lächeln legte seine pergamentene Haut in viele kleine Runzeln, als er nickte. Dann war er augenblicklich wieder in seiner respektablen Butlerform.
»Ja, Sir, der bin ich. Ich habe 40 Jahre in Sir Thorneycrofts Diensten gestanden und das werde ich, solange Gott mich lässt, auch für Sie tun.«
Ich nickte nur. Er war recht sympathisch, nicht so wie der Eisklotz, der in den Diensten meiner Mutter stand und der niemals redete. Selbst dann nicht, wenn man ihn ansprach. Mehr als die üblichen Floskeln bekam man aus dem nicht heraus.
In der Eingangshalle, die einen heimeligen Eindruck machte und den Charme eines typisch englischen Jagdschlosses verströmte, war es trocken und warm und ich entspannte meine Schultern nun endlich.
Aufgereiht erwartete mich bereits der Rest meiner neuen Dienerschaft. Die Haushälterin, Mrs. Bingham, und die Köchin, Mrs. Mercer, waren beides gutmütig und fleißig aussehende Frauen mittleren Alters mit kräftigen Leibern und starken Händen. Das Dienstmädchen, Ms. Vale, war kaum dem Backfischalter entwachsen und hatte unkeusche Augen, die sie einen Moment neugierig über mein Gesicht und Körper wandern ließ, bevor sie diese niederschlug. Man begrüßte mich freundlich und hieß mich willkommen.
Reid, der stärker war, als es sein betagter Körper erahnen ließ, trug meine Koffer, als er mir meine Gemächer zeigte. Es war bereits Abend und ich hatte den Wunsch, zeitig zu Bett zu gehen.
Nachdem ich mich etwas in meinen neuen Wohnräumen eingerichtet hatte, stand ich schließlich hemdsärmelig und in Strümpfen am Fenster und blickte hinaus, als er mir noch einen kleinen Nachtimbiss brachte.
»Es kommen einem allerhand schauderhafte Ideen, wenn man so auf diese Ödnis blickt. Wird man dadurch nicht auf Dauer trübsinnig?«, fragte ich ihn und er lächelte leicht.
»Das Moor lebt, Sir Henry. Es verändert stündlich, manchmal minütlich sein Antlitz und es ist schön für alle, die es sehen wollen.« Er klang wie jemand, der es liebte.
»Es ranken sich sicher zahllose Legenden über diesen Ort und über ihre Besitzer, habe ich Recht?«
»Aber ja, Sir. Hier in der Gegend spricht man seit Jahrzehnten von nichts anderem als der Legende von Lucinde, die...« Er brach ab, als wäre es ihm unangenehm, so drauflos geplaudert zu haben. Sein Gesicht hingegen sagte eher, dass selbst ihm diese Geschichte zu unheimlich sei.
»Ja?«
»Es ist spät Sir. Sie sollten sich ausruhen. Morgen kann ich Ihnen mehr erzählen, wenn Sie es wünschen. Heute würde es Ihnen nur die Nachtruhe ruinieren.« Er lächelte höflich und ich nickte. Ich wollte nicht bereits am ersten Abend eine Szene machen, weil ich gern meine Neugier gestillt wissen wollte.
Er wandte sich wieder zur Tür, während ich meinen Blick nach draußen fortsetzte. Nebel kroch über die Hügel.
»Sir, es gibt Dinge, die der Mensch nicht begreifen kann. Besonders an einem Ort wie diesen. Ich glaube nicht daran, aber Ihr Onkel tat es, deswegen sage ich es auch Ihnen: Egal, was Sie sehen oder hören im Moor, gehen Sie bei Nacht niemals hinaus. Es sind nur Irrlichter, geschickt um uns zu vernarren.«
Ohne noch mehr zu sagen, schloss Reid die Tür leise hinter sich und ließ mich mit Tee, Sandwiches und offenen Fragen zurück.
Die erste Nacht war, ausgelöst durch eine lange Zugfahrt, eine holprige Kutschfahrt, Kälte und Regen, gegen alle Annahmen, sehr erholsam für mich und ich erwachte bereits sehr früh am nächsten Tag.
Die Uhr auf meinem Schreibtisch zeigte gerade halb 6 morgens an. Es war still im Haus, bis auf das Knacken der Holzwürmer im Gebälk, das bei alten Häusern typisch war.
Sicher war noch keiner der Dienstboten auf den Beinen und ich wollte diesen Umstand nutzen, mich umzusehen, ohne Reid als meinen Schatten bei mir zu haben. Ich kleidete mich zügig an, nahm einen tiefen Schluck des mittlerweile erkalteten Tees auf meinem Nachttisch und verließ mein Schlafgemach.
Das Haus roch nach Holz und dem vielen Leder, was mein Onkel offenkundig geliebt hatte. Beinahe jedes Möbelstück war mit dem kostbaren Material bespannt. Es gab kaum einen Sessel, der mit Stoff bezogen war.
Der Salon, in dem mein Onkel zu frühstücken pflegte, war rustikal, um nicht zu sagen, grobschlächtig. Es war viel Holz verbaut, alles wirkte archaisch, mit viel Leder. Tierfelle zierten die Wände, ebenso wie alte Turnierwaffen. Und inmitten dieser wilden Ziergegenstände tummelten sich Bilder meiner Vorfahren.
Wilde, ungezähmt aussehende Männer und Frauen, die ihre Herkunft aus dem Moor und ihre Verwandtschaft zu den barbarischen Vorfahren Englands schwer leugnen konnten. Trotz der kostbaren Stoffe, die alle der neusten Mode der jeweiligen Epoche entsprachen, konnte man das wilde Feuer der nordischen, blauen Augen nicht verbergen.
Sie alle hatten dieselben Augen wie ich. Das gab mir ein sonderbares Gefühl. Zu sehen, wie die Menschen, die vor mir zu meiner Familie gehörten, ausgesehen hatten. Da ich niemals zuvor hier war, waren sie mir alle fremd. Im Haus meiner Eltern gab es keine Gemälde, die über meinen Großvater hinaus gingen. Auch ihn entdeckte ich an der Ahnenwand. Und auch meine Mutter und meinen Onkel.
Thorneycroft war nicht nur ein Sonderling, er sah auch wie einer aus. Sein Haar war heller als das meine, doch auch er hatte diese blauen Augen. Er war auf seinem Gemälde schlecht, oder vielmehr gar nicht, frisiert, seine Haare standen wüst zu Berge. Doch er hatte ein kluges, ein gelehrtes Gesicht, das Vertrauen ausstrahlte. Es bekümmerte mich, dass ich ihn niemals kennengelernt hatte.
Ich beschloss, mich später am Tage in seinem Arbeitszimmer eingehender mit ihm zu beschäftigen und auch die Fotografien zu sichten, die es von ihm gab.
An der Haustür griff ich nach meinem Mantel. Ich wollte mir den Garten ansehen, der von gezäunten Mauern und Hecken umgeben war. Meine Mutter sagte immer, dass dieser Garten meines Onkels zweites Hobby war, nach dem Insektenforschen.
Der Nebel des Morgens hing schwer über den Hügeln des Moores, es war kalt, nass und es roch merkwürdig. Wie Spinnenfinger kroch der Schauer über meinen Nacken, als auf einer der hohen Hecken ein Rabe laut aufschrie.
Würde man hier allein leben, würde man den Verstand verlieren, dessen war ich mir ganz sicher. Die feuchte Luft ließ meine Nase laufen und ich schob meine Hände tief in die Taschen meines Mantels.
Reid mochte meinen, dass das Moor schön war. Ich fand es reichlich farblos. Das mochte an der Jahreszeit liegen, immerhin näherten wir uns dem Winter. Doch irgendwie hatte alles, was ich im Garten von Sandersson House sah, einen farblosen, gräulichen Anstrich. Die immergrünen Hecken waren nicht grün, sie wirkten matschig dunkelgrau und dadurch kalt.
Allerdings war es auch noch nicht Morgen, es dämmerte erst, weit entfernt am hügeligen Horizont. Hier, im Garten von Sandersson House, in einem kleinen Tal gelegen, war es noch dunkel.
Meine Schritte knirschten über den Kiesweg, der mich zum Rand des eingezäunten Geländes führte, wo eine kleine, schmiedeeiserne Tür hinaus ins weite Moor führte. Ich stoppte dort und blickte auf das Land, das mein Onkel liebte und das mir Schauer des Unbehagens über den Rücken jagte. Es gehörte nun mir. Doch ich glaubte nicht daran, dass ich es jemals würde lieben können. Ich glaubte nicht daran, dass ich dauerhaft hier in Sandersson House leben würde.
Die Stille des Morgens legte sich auf meine Ohren und ich begann, das Blut in ihnen rauschen zu hören, während ich einfach vor mich hin starrte.
Nur langsam kroch die Morgendämmerung über die Hügel, Finsternis lag noch immer dazwischen und ich glaubte, etwas in dieser Dunkelheit zu sehen. Ich strengte meine Augen etwas mehr an, versuchte, es auszumachen.
Schleier wehten über einen der kleineren Hügel, die von den größeren überschattet wurden. Schleier wie von feinem Stoff, doch es flackerte. Wie eine weiße, faserige Flamme tanzte etwas über diesen kleinen Hügel, solange es das morgendliche Licht noch existieren ließ.
Wie im Traum spürte ich, dass ich die Hand an den Riegel legte, der die Tür zum Moor verschloss. Etwas zog mich dorthin, um zu sehen, was es war, das meine Augen glaubten, zu sehen. Ich hatte den Türriegel bereits zurückgezogen und die Türe einen Spalt geöffnet, als ein Windstoß durch das Moor fegte und einen lautes, qualvolles, jämmerliches Geheul, gleich einem Schrei, über die Hügel trieb.
Eiseskälte stürzte über mich und ich warf die Gartentür zurück ins Schloss. Gänsehaut und eiskalte Schauer ließen mich erzittern und wie von einem unsichtbaren Teufel getrieben machte ich kehrt und rannte, ja ich rannte, ins Haus zurück. Erst als die schwere Holztür hinter mir zufiel und ich die Wärme des Hauses spürte, ließ das Zittern nach.
»Guten Morgen, Sir Henry«, erklang es hinter mir und ich machte einen lauten Ton der Überraschung. Meine Nerven flatterten und ich wandte mich erschrocken um.
»Erschrecken Sie mich nie wieder so!«, fauchte ich den Butler an, der einen Eimer Holz trug und offenbar gerade den Kamin im Salon anheizen wollte.
»Verzeihen Sie mir«, sagte er, doch ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Entschuldigen Sie meinen Ton, er war unangebracht. Ich hatte mich allein gewähnt.«
Reids altes Gesicht runzelte sich, als er zu lächeln begann. »Der Morgen hier hat seinen ganz eigenen Charme.«
»Ich würde es nicht Charme nennen.«
»Sie werden sich sicher daran gewöhnen, Sir Henry.«
Ich nickte. Ich sagte ihm nicht, dass ich das eigentlich gar nicht vorhatte. Dass ich mir unschlüssig war, ob ich dauerhaft hier leben wollte. Das konnte ich ein anderes Mal zur Sprache bringen. Während Reid und nach und nach alle anderen Dienstboten ihre tägliche Arbeit aufnahmen, machte ich es mir bei einem Tee und etwas Frühstücksgebäck in Onkel Thorneycrofts Arbeitszimmer gemütlich. Er hatte eine umfassende Büchersammlung zu Insekten und Getier aller Art. Aber auch Abenteuer- und Liebesromane fanden sich in den Regalen, was mich amüsierte. Offenbar brauchte auch ein Gelehrter hin und wieder Zerstreuung.
Eingehend befasste ich mich mit den Unterlagen, die das Anwesen und mein ererbtes Vermögen betrafen, um mir einen Überblick über die anfallenden Ausgaben zu verschaffen. Mein Onkel hatte offenbar all die Jahre vorzüglich gehaushaltet und seinen Besitz stetig vermehrt.
Sicher darüber, dass ich niemals finanzielle Schwierigkeiten haben würde, lehnte ich mich in dem Sessel zurück, als Reid nach einem unaufdringlichen Klopfen den Raum betrat.
»Belieben Sie, hier zu frühstücken?«
»Nein, danke, ich bin versorgt. Erzählen Sie mir lieber diese Legende, die Sie gestern bereits erwähnteten.«
Der alte Butler seufzte und machte eine fast unmerkliche, unwirsche Kopfbewegung, als würde der dies lieber nicht tun. Doch letztlich war er mir weisungsgebunden.
»Die Legende von Lucinde.«
»Lebte sie tatsächlich?«
»Aber ja, Mylord. Doch das ist lange her. Damals schrieb man das Jahr 1722. Lucinde war ein Mädchen aus dem Dorf. Man sagte ihr grenzenlose Schönheit nach. Und so kam es, dass Ihr Vorfahr, Lord Adalar Sandersson, ihr verfiel.«
»Er begann eine Affaire?«
Reid nickte. »Sehr zum Leidwesen seiner Gemahlin. Es heißt, Lord Adalar war wie im Rausch. Er wollte seine Gemahlin verlassen und Lucinde ehelichen. Ein Skandal in der damaligen Zeit, wie Sie sich denken können.«
»Doch er tat es nicht«, vermutete ich.
»Nein. Sein Stand machte es ihm unmöglich und so verließ er Lucinde, wissend, dass kein anderer Mann sie mehr heiraten würde, nachdem sie sich ihm hingegeben hatte.«
Ich nickte. Über 160 Jahre waren seitdem vergangen und selbst heute wurden Frauen, die ihre Tugend verloren, noch von der Gesellschaft geschmäht.
»Was geschah mit ihr?«
»Man sagt, sie schwor ihm Rache, dass er sie ruiniert hatte. Was genau geschah, vermag niemand mehr zu sagen, doch eines Tages verschwand Lord Adalar im Moor. Tage darauf fanden Sucher ihn und Lucinde. Beide waren tot. Man vermutete, dass es gemeinsamer Selbstmord war, wie bei Romeo und Julia. Doch Einheimische behaupten seitdem, der Geist Lucindes würde noch immer im Moor umgehen, auf der Suche nach ihrem Liebsten, der sie verschmäht hatte.«
Ich rieb mir unauffällig über die Arme, denn ein Schaudern hatte mich ergriffen. Für mich als Londoner Stadtkind war jede Art von Schauermärchen beinahe zu viel.
»Tragisch. Und mein Onkel glaubte die Geschichte mit dem Geist im Moor?«
»Irrlichter, Mylord. Sie machten ihm Angst und er verließ bei Nacht niemals das Anwesen, aus Furcht, Lucindes Fluch würde auf ihn übergehen und er sein Leben im Moor lassen.«
»Gibt es irgendwo Bilder dieses Mädchens?«
Reid dachte einen Moment nach und nickte dann. »Ihr Onkel hatte irgendwo eine illustrierte Ausgabe der örtlichen Sagen und Legenden, mit sehr schönen Zeichnungen darin.« Er fuhr mit den Händen über die unzähligen Buchrücken.
»Lord Adalar, hängt sein Gemälde auch im Salon?«
»Aber ja.« Reid reichte mir das betreffende Buch und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Kommen Sie, ich werde ihn Ihnen zeigen. Sie werden sicher überrascht sein.«
Während ich mich noch wunderte, betraten wir den Raum und er zeigte auf das Gemälde eines elegant gekleideten Mannes, der zu meiner Verwunderung große Ähnlichkeit mit mir hatte. Man hätte uns nicht für Zwillinge halten können, doch es war unverkennbar, dass er mein Vorfahr war.
»Das ist Adalar. Sie sehen sicher, worauf ich hinaus möchte.« Reid lächelte und ich tat es ihm gleich.
»Ein stattlicher Mann.«
»Ein Lebemann, sehr begehrt bei den Damen seiner Zeit. Er galt als der schönste Junggeselle Devonshires und viele Ladies waren untröstlich, als er sich mit Lady Lilian vermählte. Dieser Ehe entsprangen drei Kinder, doch glaubt man den Berichten der Zeitzeugen, war sie nicht glücklich.«
Ich nickte leicht. »Wäre sie es, wäre er sicher nicht versucht gewesen, diese Ehe zu beenden.«
»Nachdem König Henry VIII. sich einst von seiner Gemahlin Katharina hatte scheiden lassen und somit den Präzedenzfall schuf, hätte Lord Adalar, als Anhänger der anglikanischen Kirche, natürlich die Möglichkeit gehabt, seine Ehe aufheben zu lassen. Doch der Standesdruck war zu hoch. Lucinde war ein Bauernmädchen. Er hätte sich gesellschaftlich ruiniert.«
Ich nahm auf einem Stuhl platz und betrachtete den unglücklichen Mann eine Weile. Was war ihm in der Nacht im Moor geschehen? Hatte er tatsächlich lieber mit seiner Geliebten sterben wollen, anstatt ohne sie weiterzuleben?
»Ich habe Ihnen nicht den Tag ruinieren wollen, Sir Henry. Ich werde Ihnen jetzt ein leichtes Frühstück zubereiten. Wissen Sie schon, wie Sie sie den ersten Tag hier verleben wollen? Wenn es mir erlaubt ist, zu fragen...«
Ich schmunzelte. »Ich denke, ich werde, sobald es hell genug ist, einen Spaziergang über meinen Besitz machen. Ich muss schließlich eine Vorstellung davon haben, nicht wahr?«
Reid lächelte und ließ mich im Salon mit meinen Gedanken allein. Ich blätterte in dem Buch, das der Butler mir gegeben hatte und las darin nochmals die Geschichte, die er mir zuvor erzählt hatte. Er hatte allerdings ausgelassen, dass die Dorfbewohner Lucinde als Hure aus dem Dorf verjagt hatten und diese sich im Moor versteckte, um einem Lynchmob zu entgehen.
Lange dachte ich darüber nach und war erstaunt, wie sehr es mich verwunderte, dass es auch in meiner Familie dunkle Geheimnisse und Tragödien gegeben hatte.
Ein ergiebiges Frühstück - leicht bedeutete bei Reid offenbar, dass es sowohl gebratenen Speck und Eier als auch Pfannkuchen und Marmelade geben müsse - später kleidete ich mich der Witterung entsprechend mit einem wasserabweisenden Mantel und festen Stiefeln und begab mich auf einen Spaziergang ins Gelände. Es gab feste, abgesteckte Spazierwege und ich beschloss, diesen ein Stück weit ins Moor hinein zu folgen. Der Regen des vergangenen Tages hatte nachgelassen und es kam tatsächlich hier und da die Sonne hervor, die dem Moor etwas Farbe verlieh. Zeitweilig glaubte ich sogar, das Schimmern von Violett und Rot in der weiten Landschaft zu sehen. Ich erklomm mühelos die Anhöhe, auf der ich am Morgen geglaubt hatte, etwas zu sehen. Natürlich war nichts da, nur matschiges, feuchtes Gras. Keine Anzeichen von Flammen oder menschlichen Fußabdrücken. Ich war einer Narretei aufgesessen, weil ich diese Einsamkeit nicht gewöhnt war.
Dem Wind trotzend ging ich immer weiter den Spazierweg entlang und überwand Hügel und Täler. Spuren uralter Behausungen, die noch aus der Steinzeit stammten, säumten meinen Weg und ich blieb ein ums andere Mal staunend stehen, wie gut steinzeitliche Hütten und Lagerplätze trotz des rauen Wetters erhalten geblieben waren. Sie waren zu unspektakulär, um Wissenschaftler anzuziehen. Hier verirrte sich höchstens mal einer her, wenn man eine Moorleiche fand.
Auf einem Hügel stehend, wandte ich mich um und blickte in die Ebene, in der Sandersson House der Einöde trotzte. Ich glaube, Perks im Garten wirtschaften zu sehen und Mrs. Bingham, die blütenweiße Laken zum Trocknen hinaus hing. Ich musste mir selbst eingestehen, dass es seinen Reiz hatte, dies so aus der Ferne zu sehen. Sandersson House, erbaut aus roten Ziegeln und weißem Stuck, verlieh der grauen Umgebung tatsächlich einen Farbtupfer, der Eindruck machte.
Der Wind frischte merklich auf, je weiter ich in die freie Landschaft kam und auch das Heulen wurde zunehmend lauter. Es musste eine Menge Minenschächte geben, in denen der Wind toben konnte.
Ich fragte mich gerade, wo wohl der Ort war, an dem man Adalar und Lucinde gefunden hatte, als ich in ein Tal hinunterschritt und urplötzlich auf einer kleinen Lichtung stand. Alte Steinsäulen, zweifellos aus grauer Vorzeit, rahmten diese ein und in der Mitte stand ein gigantischer Stein, der an der Oberfläche glatt geschliffen war. Der Boden musste einst mit Steinen bedeckt gewesen sein, ähnlich einem Straßenpflaster, doch die Natur hatte sich den Untergrund zurückerobert. Auch der Stein war mit Moos bewachsen und hohes Gras wuchs darum.
Ich war offenbar auf ein Zeugnis monolithischer Baukunst, ähnlich Stonehenge, gestoßen und ich hätte nicht sagen können, warum, doch ich war mir sicher, den Ort des Todes meines Vorfahren gefunden zu haben. Dieser Ort hatte etwas wildromantisches, magisches. Wer hätte dieses versteckte Zeugnis alter Magie nicht als Ort für ein geheimes Rendezvous gewählt? Ich hätte es sicher getan.
Ehrfürchtig strichen meine Finger über den Stein, an dem man sicher einst der alten Göttin Gaben dargebracht hatte. Ich gab mich der Träumerei hin, wie es gewesen sein muss, in dieser Zeit gelebt zu haben und wie es war, sich an diesem Ort zu einem verbotenen Treffen mit dem Liebsten zu verabreden.
Wie schwer musste es für Adalar und Lucinde gewesen sein, sich so weit raus zu wagen, nur um zusammensein zu können. Ich seufzte. Die englische Ständegesellschaft erlaubte es nicht, unter Stand zu heiraten. Gerade für Adlige galt das.
Ich merkte nicht, wie der Wind auffrischte und der Himmel sich verdunkelte, bis die ersten schweren Regentropfen auf mein Haar fielen.
Eilig wollte ich kehrt machen, da die Dunkelheit des finsteren Himmels beinahe jegliches Licht von der Lichtung vertrieben hatte, als ich stockte und mir Eiswasser über den Rücken floss.
Nahe dem Stein, an dem ich eben noch gestanden hatte, war wieder dieser faserige Schleier, ähnlich einer Flamme und doch ganz anders, der kaltes, weißes Licht ausstrahlte und sich trotz des Windes ganz falsch bewegte. Es müsste wild zucken, da der Wind an ihm riss, doch es tänzelte eher, leicht, elegant, gespenstisch. Während ich es noch wie versteinert anstarrte, nahm der Schleier Form an, wandelte sich, wurde größer. Es manifestierte sich eine Gestalt heraus, die mir aufgrund des Buches bekannt vorkam.
Ein junges Mädchen, 17 Jahre alt zum Zeitpunkt ihres Verschwindens, mit wallenden, dunklen Haaren und gewandet in ein weißes, wehendes Kleid. Wie ein Leichentuch umhüllte es ihren schmalen Körper. Lucinde. Ich erkannte sie sofort und es stimmte. Sie war schön. Wäre da nicht die fürchterliche Wunde an ihrer Schläfe, die ihr halbes Gesicht mit Blut verschmierte. Sie stand da und sah zu mir herüber, aus leeren, traurigen, dunklen Augen.
Ich spürte das Grauen in meiner Brust und wie sich ein Schrei meine Kehle entlang nach oben quälte, doch es kam kein Laut aus meinem Mund.
»Adalar...«, hauchte es im Wind und ich hatte das Gefühl, jeden Moment verrückt zu werden. Die Erscheinung, Lucinde, stand noch immer da am Stein. Ich konnte Tränenspuren auf ihren Wangen erkennen, die bleiche Bahnen auf der blutigen Seite ihres Gesichtes hinterließen. In ihrer Hand hielt sie einen großen Stein, der ebenfalls nass glänzte vor Blut.
Was war hier geschehen?
»Warum hast du mich verraten, Adalar?« Diesmal konnte ich sehen, dass Lucinde oder was es war, ihre Lippen bewegte. Nur ganz leicht, doch ich hörte es, als wäre es an meinem Ohr gesprochen worden.
»Warum hast du mir das angetan?«
Als ich das Gefühl hatte, totenkalte Finger streiften mein Gesicht, verlor ich die Fassung. Ich schrie auf, schüttelte mich, als hätte ich hunderte von Spinnen auf mir und machte, dass ich von diesem verfluchten Ort wegkam. Ich rannte wie der Teufel den Weg zurück, während das flehende »Adalar...« mir nachfolgte wie ein Schatten.
Erschöpft und mit den Nerven völlig am Ende, kam ich nach einer halben Stunde an Sandersson House an.
Was ging hier vor? Offenkundig stimmte die Legende der Einheimischen. Oder ich hatte mich zu sehr von der örtlichen Folklore blenden lassen, dass ich schon Gespenster sah, wo es keine gab. Den Rest des Tages verkroch ich mich in meinem Gemach und umgab mich mit Geschäftspapieren. Ich wollte nichts mehr hören oder sehen von Geistern, Gespenstern oder den Sünden meiner Ahnen.
Doch abstellen konnte ich es nicht völlig. Was hatte Adalar getan? Lucinde konnte sich die Kopfwunde schwerlich selbst zugefügt haben. Hatte mein Vorfahr vielleicht sogar einen Mord begangen, um die unliebsame Geliebte endgültig loszuwerden?
Mir wurde kalt bei dem Gedanken. Vielleicht hatte ich meine kindischen und romantischen Fantasien etwas zu rosig gestaltet. Vielleicht liebte Adalar Lucinde gar nicht, vielleicht ging es ihm um die Zerstreuung von einer lieblosen Ehe, vielleicht ging es ihm um das körperliche Vergnügen und als Lucinde ihn bedrängte, sie zu einer ehrbaren Frau zu machen, tötete er sie.
Bis zum Abendessen und noch mehrere Tage danach zermarterte ich mir das Hirn. Ich fuhr sogar nach Merryweather, um im Polizeiarchiv alte Unterlagen zu sichten. Die mich jedoch nicht weiterführten. Die Berichte waren lückenhaft. Es wurden nicht einmal die Todesursachen vermerkt. Man hatte Adalar in allen Ehren im Familiengrab der Sanderssons bestattet, Lucinde bekam ein einfaches Begräbnis in einem Armengrab. Ihre Familie weigerte sich, ihr eine ordentliche Bestattung zu bezahlen, wo sie doch eine »Gefallene« war, eine Hure. Kurz darauf sind ihre Angehörigen aus Merryweather fortgezogen.
»Warum plagen Sie sich mit diesem alten Fall, Sir Henry?«, fragte mich Reid eines Abends, als ich über den Unterlagen brütete und das Bild Adalars anstarrte.
»Weil... ich möchte wissen, was geschehen ist, Reid. Ich... muss einfach wissen, was wirklich passiert ist. Meine Neugier lässt mir keine Ruhe.«
»Was versprechen Sie sich davon? Würde es Sie glücklicher machen, wenn Sie erfahren würden, dass Ihr Vorfahr vielleicht ein Mörder war? Oder hoffen Sie auf eine romantische Tragödie?«
»Ich... schätze, ich bevorzüge Letzteres. Das erfahre ich jedoch nur, wenn ich weiter grabe. Doch die Unterlagen der hiesigen Polizei sind nutzlos. Vor 160 Jahren machte sich niemand die Mühe, die Todesursache eines einfachen Mädchens zu ergründen. Und auch über Adalar ist nichts weiter bekannt.«
»Der Adel war schon immer gut darin, seine dunklen Geheimnisse zu verbergen, Mylord. Ich fürchte, wenn es Ihnen nicht gelingt, die Geister zum Sprechen zu bringen, werden wir nicht erfahren, was geschehen ist.«
Reid ließ mich wieder mit meinen Grübeleien allein, doch er hatte keine Ahnung, wie wichtig seine letzten Worte waren. Sie gaben mir den zündenden Gedanken.
Die Geister zum Sprechen bringen? Ich hatte niemandem von der »Begegnung« auf der Lichtung erzählt, ich wollte nicht, dass mich jemand für verrückt hielt. Dennoch war ich mir sicher, dass ich mir das nicht eingebildet hatte.
Was, wenn das die einzige Chance wäre, das Geheimnis zu erfahren? Wenn schon nicht um der Lösung eines Verbrechens willen, dann doch um Willen meines Seelenfriedens? Ich würde leichter leben können, wenn ich wüsste, was mein Urururgroßvater getan hatte, ob es nun gut oder schlecht war.
Ich musste erneut zu der Lichtung gehen. Ich musste versuchen, das Geheimnis des Mädchens zu erfahren. Erst dann würde ich wieder zur Ruhe kommen, könnte mein Leben im gewohnten Gang weiterleben.
Entschlossen lächelte ich meinem Vorfahr zu.
Die Nacht war hereingebrochen, als ich an meinem Fenster stand und auf die nebligen Hügel hinausblickte.
»Geheimnisse verlocken uns, mein Herr. Doch wir sollten ihnen nicht allzu leicht verfallen. Tun Sie nichts unbesonnenes.« Reid hatte diese Aussage getätigt, als er mir meinen Abendtee brachte, als würde er ahnen, ja wissen, dass ich vorhatte, in der Nacht das Haus zu verlassen.
Seine Sorge ehrte mich, doch ich hatte mich entschlossen. Es musste sein. Ich musste mich der Angst stellen, die meinen Onkel an dieses Haus gebunden hatte. Ich wollte das Geheimnis ergründen, das niemand in meiner Familie lösen wollte. Und wenn das einen meiner Vorfahren zum Mörder machte, dann musste es eben so sein. Die Familie Sandersson reichte bereits so weit in die Geschichte Englands zurück, da würde ein weiterer Mörder sicher nicht auffallen. Welche alte Familie hatte keine Krieger, Soldaten und andere Halsabschneider in ihrem Stammbaum?
Ich trank in Ruhe meinen Tee, um mich für die bevorstehende Wanderung zu stärken und zu wärmen und steckte, ganz mechanisch, meinen Revolver in die Manteltasche, obwohl mir bewusst war, dass dieser gegen Geister nicht wirkte.
Es verlieh mir dennoch ein Gefühl der Sicherheit.
Die Zeit tickte von der Uhr, während ich dem wabernden Nebeltreiben draußen zusah. Irgendwann, ganz unbewusst, bewegte ich mich vom Fenster weg und verließ den Raum. Ich zog mich an, nahm eine Laterne und verließ leise das Haus. Es war bereits auf Mitternacht zugegangen und alle Bediensteten lagen bereits in den Betten.
Ich schluckte die Furcht runter, als ich durch den Garten auf die schmiedeeiserne Tür zuging, die den Garten vom Moor trennte. Ich versuchte, nicht an den einen Morgen zu denken, als das Schreien der Raben und das Heulen des Windes mich wie ein Kind hatten ins Haus rennen lassen.
Entschlossen öffnete ich die Gartentür und ließ die Sicherheit von Sandersson House hinter mir. Da ich den Weg bereits einmal gegangen war, fiel es mir leicht, die Lichtung zu finden. Doch mit jedem Schritt wurde mir das Herz schwerer, die Furcht lähmte meine Beine und die Kälte kroch meine Glieder hoch. Ich raffte den Kragen meines Mantels zusammen und versuchte, zumindest die äußerliche Kälte abzuwehren, die der nächtliche Wind und der Nebel mit sich brachte.
Das Moor lebte, wie Reid mir zu Anfang sagte. Es war nicht komplett still. Ich konnte Grillen zirpen hören, in entfernten Tümpeln hörte ich Frösche und das platschende Geräusch, wenn diese sich ins Wasser warfen. Das Rufen von Käuzchen, die sich in den wenigen Bäumen, die im Moor überlebten, niedergelassen hatten, durchdrang das Heulen des Windes und machte die Szenerie, erleuchtet von einem blassen Mond, noch unwirklicher. Alles erschien unecht. Selbst die Konturen der Felsen, an denen ich vorüber schritt. Es wirkte wie das groteske Werk eines surrealistischen Malers und ich hatte das Gefühl, dass gleich alles unter meinen Füßen zu einem Strudel aus tristen Farben zerfließen würde. Ich fühlte mich klein in dieser Umgebung, umgeben von der Weite und der Gewissheit über die Existenz von Geistern.
Auf der Lichtung musste ich mich zwingen, ruhig zu atmen, denn etwas wie Panik hatte von mir Besitz ergriffen. Bei Nacht ins Moor zu gehen, war Wahnsinn. Selbst über befestigte Wege und bekanntes Terrain. Und dann auch noch zu einem Ort, der so fluchbeladen war wie diese wunderschöne Lichtung.
Was war nur aus meinem beschaulichen Leben in London geworden, wo ich jeden Tag in der Firma meines Vaters meinen ruhigen Beruf des Buchhalters ausgeübt hatte. Ich war nicht reich geworden und ich hatte keine besonderen Vorteile davon, der Sohn des Firmeninhabers zu sein. Weil ich das nicht wollte. Ich wollte immer meinen eigenen Weg gehen.
Und hierher hatte er mich gebracht. Auf eine monolithische Lichtung, zu einem Rendezvous mit dem Tod.
Ich konnte meinen Atem über die Lichtung rasen hören, doch spürte auch, dass etwas wie Ruhe über mich kam.
»Ist jemand hier?«, flüsterte ich fast, weil ich mir selbst so lächerlich vorkam, nach einem Geist zu rufen. »Hallo?«
Bis auf das Schreien eines Raben, der über meinen Kopf hinweg flog und mich aufschreien ließ, war jedoch nichts zu hören. Ich versuchte es noch einige Male, bis ich an den Stein trat und mich anlehnte. Es war eine Dummheit, es auch nur zu versuchen. Geister, dass ich nicht lache. Zuviel Fantasie, das wohl eher.
Das Grillenzirpen und die feinen Geräusche der Nacht erfüllten mich mit einem Gefühl des Friedens. Ich fror und hatte schon beschlossen, zurückzukehren, als sich plötzlich etwas änderte.
Plötzlich verschwanden die Geräusche, als würde jemand die Lautstärke abdrehen und das schleierähnliche Flämmchen, Lucindes Irrlicht, tauchte wieder neben dem Stein auf. Diesmal schneller und weniger durchscheinend. Sie sah beinahe echt aus, als würde dort ein leibhaftiger Mensch stehen. Und - was es für mich angenehmer machte, den Umstand zu ertragen, dass sie da war - sie war unverletzt. Keine Wunde verunzierte ihr hübsches, reines Gesicht. Ihre Augen hatten Wärme und ihre Lippen lächelten.
»Adalar«, hauchte sie, »du bist gekommen.«
Ich machte einen Schritt zurück. »Ich bin nicht Adalar. Ich bin Henry. Adalar war mein Vorfahr. Ich... ich bin gekommen, um zu erfahren, was geschehen ist.«
Lucinde sah mich an, doch ich war mir nicht sicher, ob sie meine Worte verstand oder ob sie nur in einer Erinnerung gefangen war, die sie zwang, immer und immer wieder die letzten Momente ihre Todes zu erleben. Ich hatte in den vergangenen Tagen genug über Geister gelesen, um zu wissen, dass sich viele Gelehrte auf diesem Gebiet einig waren. Geister waren Abbilder. Sie lebten nicht in der Zeit weiter, sie blieben stecken. Im Moment ihres Todes.
»Adalar...«, sagte sie wieder und plötzlich hatte ich das Gefühl, meines Körpers entrückt zu sein. Ich bewegte mich, obwohl ich dies nicht wollte und als ich den Mund öffnete, hörte ich mich Worte sagen, die nicht meine waren.
»Liebste.« Ich bewegte mich auf das Mädchen zu und umfing sie mit meinen Armen. Sie hatte keine Wärme, doch schmiegte ihre Wange an meine Jacke.
»Bist du gekommen, um mich zu holen, Liebster?«
»Du weißt, dass dies unmöglich ist. Niemals würde man mir gestatten, dich zu meinem Weibe zu nehmen. Ach, könnte doch die Zeit hier und jetzt stillstehen.«
Lucinde löste sich aus der Umarmung und ihre dunklen Augen starrten zu mir hoch, der ich keine Kontrolle über das Geschehen hatte.
»Du hast gesagt, du würdest mich lieben!«
»Das tue ich.«
»Du hast gesagt, du würdest mich zur Frau nehmen. Du würdest deine Gemahlin verlassen und mich nehmen. Du hast gelogen!«
»Ich... ich habe keine Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl, Adalar! Ich habe mich dir hingegeben! Ich bin ruiniert.«
»Ich sorge für dich.«
Lucinde lachte hart auf, doch dann wurde ihr Gesicht traurig. »Als deine Mätresse? Bin ich das für dich? Deine Mätresse? Ich möchte nicht, dass das Kind, das ich unter meinem Herzen trage, als Bastard geboren wird. Triff eine Entscheidung oder ich treffe sie für dich, Adalar!«
»Du... erwartest ein Kind?«
»Das tue ich. Und ich glaube, diese Neuigkeit würde deiner Gemahlin und auch der feinen Gesellschaft nicht gefallen. Meinst du nicht?«
»Du würdest in Kauf nehmen, meinen Ruf zu ruinieren? Und mich für dich zu haben?«
»Das würde ich!«, rief das Mädchen und wandte sich energisch um. Ihr leichtes Gewand umwehte ihren Körper und ich konnte Tränen auf ihren Wangen glitzern sehen. Wie sehr musste sie sich gefürchtet haben, allein dazustehen, als halbes Kind, mit einem Ungeborenen im Leib.
Doch das Gefühl, das sich in meiner Brust befand, war mir fremd, denn es gehörte mir nicht. Es gehörte dem, der Besitz von mir ergriffen hatte, meinem Vorfahr Adalar. Ich empfand nach, was er fühlte. Er war zerrissen. Zerrissen zwischen einem Gefühl der Freude, der Liebe und der unsäglichen Angst vor einem gesellschaftlichen Abstieg, vor dem finanziellen Ruin, vor dem Verlust all dessen, was er kannte. Zerrissen zwischen dem Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können und seiner Liebe einfach nachgeben zu können.
Ohne dass ich es hätte steuern können, bückte mein Körper sich nach dem Stein, den Lucindes Geist einige Tage zuvor in der Hand gehalten hatte, und wog ihn in der Hand. Er war groß und sehr schwer, aber nicht zu schwer für mich.
»Also?«, wandte sich das Mädchen wieder zu mir um und mir graute vor dem, was folgen würde.
»Ich kann das nicht!«, sagte ich mit einer Stimme, die so fremd und hart klang, dass ich mich erschreckte. Ich wollte mich dagegen wehren, doch die Präsenz in mir war zu stark. Ich holte aus und schloss reflexartig meine Augen, als der Stein in meiner Hand mit aller Kraft Lucindes Schläfe traf. Das Geräusch ging mir durch Mark und Bein und ich spürte, wie Übelkeit in mir hochstieg. Ich war jedoch nicht sicher, ob diese wirklich mir gehörte oder ob auch mein Vorfahr Adalar sich so gefühlt hatte.
Es war genauso, wie ich befürchtet hatte. Er war ein Mörder. Er hatte sie erschlagen, damit niemand von ihrem unehelichen Kind erfuhr, das ihn hätte ruinieren können. Großer Gott.
Ich hörte, wie Lucinde zu Boden sank und öffnete meine Augen wieder. Der blutige Stein in meiner Hand schrie mich förmlich an und ich ließ ihn angewidert fallen. Das Mädchen lag da, hingegossen, als würde sie schlafen. Würde nur nicht der helle Knochen ihres zertrümmerten Schädels so deutlich zu sehen sein und das dunkelrote Blut, das ihr Haar nässte und auch ihr blütenreines Kleid einfärbte.
Reue packte mich, doch sie gehörte Adalar. Wieder zwang die Präsenz mich, zu gehorchen und mein Körper fiel neben dem Mädchen auf die Knie. Heiß stiegen mir die Tränen in die Augen und ich strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Oh Geliebte. Was habe ich getan? Ich entsetzlicher Feigling. Wie sollte ich weiterleben ohne dich, in dieser Welt ohne Liebe?«
Panisch spürte ich, wie die Hand, die mir nicht gehorchen wollte, in meinen Mantel griff und meinen Revolver hervorzog.
Mit aller Macht versuchte ich, die Präsenz Adalars aus meinem Körper zu vertreiben, doch es gelang nicht.
Sollte es so enden? Ich ergründe das Geheimnis meines Vorfahren und zahle dafür mit dem Leben, weil er es getan hatte? War das der Grund, warum Onkel Thorneycroft niemals nachts nach draußen gegangen war? War das Lucindes Rache an dem Mann, den sie liebte und der sie ermordete? Dass sie jeden männlichen Nachkommen der Sanderssons diese Tragödie würde nachspielen lassen, bis keiner mehr übrig war, weil sich alle selbst umgebracht hatten? Wusste mein Onkel am Ende davon und hatte dieses Geheimnis mit ins Grab genommen? Vage kam mir die Erinnerung, dass meine Mutter einst erzählt hatte, ihr eigener Vater hätte sich selbst erschossen. War dies Lucindes Werk? War er nur einer von vielen in der langen Reihe der Sandersson-Männer, die unter ihrem Fluch standen?
Die Hand mit der Waffe hob sich an meine Schläfe und ich schrie innerlich, Adalar möge von mir ablassen. Ich schwitzte und zitterte, doch der Geist war stärker als ich.
Ein letztes Aufbäumen gelang mir, ein letzter Blick in das unschuldige Gesicht des Mädchen, das noch immer vor mir lag, doch dessen Augen nicht mehr geschlossen waren, sondern mich ansahen, mit einem teuflischen, rachsüchtigen Lächeln in dem blutverschmierten Gesicht.
»NEIN!«, schrie ich auf, doch der Wille meines Vorfahren, gebunden an einen immerwährenden Fluch, war stärker.
Lucinde lächelte zufrieden und ging neben dem Körper des hübschen jungen Mannes in die Knie. Sanft strich sie ihm das verschwitzte, blutige Haar aus dem Gesicht und streichelte über seine Wange.
Adalar würde für immer bei ihr sein, egal wie oft er noch zurückkommen würde. Die Geschichte würde immer gleich ausgehen, denn ihrer beider Schicksale waren verbunden.
Lächelnd verschwand sie und zurück blieb nur ein winziges Irrlicht.
~ Ende ~