Nannios legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm und sprach: „Dennoch können wir nicht zulassen, dass die Harpyas auf diese Weise ausgerottet werden! Wir haben auch eine Verantwortung Mutter, denn jedes Leben ist in den Augen der Götter wertvoll. Ausserdem… liebe ich eine Frau aus dem Volk der Harpyas, und das macht mich ihnen in gewisser Weise verpflichtet. Natürlich wird es einige Dinge geben, die wir gründlich überdenken müssen, aber wir müssen es doch wenigstens versuchen! Es ist mir auch klar, dass vermutlich andere Gesetze bei den Harpyas eingeführt werden müssten, welche das lebenswerte Leben aller, auch der Männer gewährleisten, aber da ja die Hohepriesterin der Harpyas offensichtlich lunarisches Blut in sich hat, wird sie vielleicht auch geneigter sein unsere Bedingungen anzuhören und sie vielleicht zu akzeptieren.“ „Es könnte klappen, aber vielleicht auch nicht“, gab Artemia zu bedenken. „Ausserdem müssten die Harpyas zur Paarung hierherreisen, denn sonst werden unsere Männer dort oben in der dünnen, von Vulkanstaub erfüllten Luft, unweigerlich den Tod finden. Ausserdem müsste es für die Väter der gezeugten Kinder möglich sein, diese regelmässig zu sehen. Es wird wenig sein und damit sicher nicht der Idealfall, aber die Kinder hätten dann wenigstens die Möglichkeit eine Beziehung zu beiden Elternteilen aufzubauen und es gäbe kein so einseitiges Bild der Geschlechter…“
Aellia nickte. Wieder fühlte sie Scham. Wie konnte es sein, dass man sich über solche Dinge Gedanken machen musste? Es war eigentlich vollkommen grotesk! Noch vor einigen Tagen, hätte sie sich solche Auffassungen nie erlaubt, doch nun wurde ihr erst richtig die Tragweite des Irrweges der Harpyas bewusst. Und sie wusste, dass es nicht einfach werden würde, ihr Volk umzustimmen. Es konnte gut sein, dass einige der Harpyas sogar eher Krieg in Kauf nahmen, als umzudenken. Es würde ihnen sehr schwer fallen, neue Gesetze zu akzeptieren, denn das bedeutete auch ein gewisses Mass an Macht aufzugeben. Einige würden es vielleicht sogar als Treuebruch gegenüber ihrer Göttin ansehen, den Männern mehr Rechte einzuräumen. Und wenn sie auch neue Gesetze durchbringen würden, dann hiess das noch lange nicht, dass sie dann auch eingehalten wurden und die Männer der Lunarier, ihre Kinder auch regelmässig sahen. Alledem zum Trotz, sie mussten es versuchen, wie Nannios sagte. „Jemand muss den Anfang einfach wagen!“ sprach sie deshalb laut und entschlossen. „Wir brauchen die Hilfe der Lunarier. Und es geht ja um den Fortbestand unseres Volkes. Ich werde auf jeden Fall nicht aufgeben und alles in Bewegung setzen, dass meine Schwestern einsichtig werden. Sie müssen erkennen, dass eigentlich unser bisheriges Leben ein Verrat an der Göttin war, nicht das Leben welches allen dieselben Rechte einräumt. Ich spüre tief in mir, dass es Lilithias Wille ist, dass wir uns zusammentun, einander beistehen und uns gegenseitig respektieren lernen. Die grosse Göttin hat es nicht nötig die Männer zu unterwerfen, sie ist in sich selbst vollkommen sicher und wir sollten das auch sein.“ Sie erhob sich und beugte vor Artemia ehrfurchtsvoll das Knie. „Ich bitte euch um euren Beistand, grosse Hohepriesterin der Lunaria! Bitte helft mir mein Volk zu retten, dann werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um mein Volk davon zu überzeugen, dass es umdenken muss, das unser Überleben davon abhängt und wir einfach Kompromisse schliessen müssen, damit es allen zu Guten dient. Doch, wäre es wichtig ihnen Hoffnung machen zu können, indem sich einige Männer eures Volkes bereit erklären, sich mit den Harpyas zu paaren.“ Artemia blickte erneut nachdenklich auf das Buch. Dann schaute sie erst Nannios, dann Aellia an. Sie nickte langsam. „Nun gut, wir werden es versuchen. Ich verlasse mich da ganz auf dich… Tochter.“ Das Artemia die junge Harpya Tochter nannte, war ein grosses Kompliment, es zeigte, dass sie Aellia als Teil ihrer Familie ansah, was diese sehr berührte. „Nun steh aber wieder auf!“ meinte die Hohepriesterin dann leicht amüsiert „ich glaube nicht, dass du es dich sonst gewöhnt bist, vor jemandem das Knie zu beugen.“ „Nein sonst nicht, aber wenn es darum geht mein Volk vor dem Untergang zu retten, bin ich zu allem bereit, “ sprach die junge Harpya, während sie sich wieder erhob. „Ich liebe mein Volk, auch wenn es viele Fehler gemacht hat.“ „Das ist ganz normal, ich würde auch alles tun, um meinem Volk zu helfen, darum muss ich auch auf gewissen Bedingungen bestehen. Aber ich werde auf jeden Fall mal eine Versammlung einberufen, um einige Männer ausfindig zu machen, die sich gerne mit den Harpyas paaren würden. Es liegt dann an dir, deinen Schwestern zu informieren und sie zu bitten hierher zu kommen. Ihr werdet Drachenschiffe organisieren müssen, denn es ist ja ein weiter Weg. Bis zum nächsten Vollmond wird es sowieso noch gehen, bis wir die Drakonier wieder zu Gesicht bekommen, es bleibt also noch Zeit einiges zu organisieren.“ „Wir müssen sowieso noch bis zum Zeitpunkt warten, an dem die Harpyas wieder empfängnisbereit sind. Das ist erst in etwa anderthalb Monaten, “ sprach Aellia. „Ihr seid wirklich nicht oft fruchtbar. Ist das nicht etwas bedauerlich?“ „Es ist eine nützliche Einrichtung“, gab die Harpya zur Antwort. „Man kann sich vergnügen, ohne gleich schwanger zu werden.“ „Solange ihr niemanden habt, den ihr innig liebt und mit dem ihr baldmöglichst Kinder haben wollt, dann bestimmt“, meinte Artemia ernst. Aellia schaute zu Nannios herüber und auf einmal spürte sie einen Stich im Herzen. Sie wusste nicht genau warum und wendete ihren Blick etwas verwirrt ab. „Aber bestimmt ist es schon eine sehr nützlichen Einrichtung“, meinte Artemia, als sie erkannte, welches Unbehagen ihre Worte ausgelöst hatten. „Man muss sich wirklich nur wenig mit Verhütung auseinandersetzen, wenn man so selten fruchtbar ist und dafür klappt es sicher auch schneller, wenn man dann fruchtbar ist.“ „Ja, das stimmt“, erwiderte die Harpya.
„Nun gut, dann trefft ihr eure Vorbereitungen und ich die meinen. Es werden sich ganz bestimmt einige Männer finden, welche die Aufgabe gerne übernehmen.“ „Ich danke euch, grosse Hohepriesterin!“ sprach die junge Harpya erleichtert. Wieder lächelte Artemia „und bitte nicht so förmlich Aellia! Immerhin gehörst du ja so gut wie zur Familie, jetzt… da du meinem Sohn offensichtlich das Herz gestohlen hast.“ Sie lächelte auch Nannios an. „So, nun muss ich aber weiter, das grosse Gebet beginnt in wenigen Minuten. Ich wünsche euch noch eine gute Nacht!“ „Wir dir auch Mutter, “ erwiderte Nannios und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast und uns hilfst.“ „Das tu ich gern.“ Sie legte kurz ihre Hand auf Aellias Oberarm und diese nickte berührt, dann wandte sich die Hohepriesterin ab.