Diese Geschichte ist nicht von mir, eine Seidenraupe hat sie mir erzählt. Sie plumpste eines Tages in mein Netz und kam nicht mehr heraus. Das Zittern in meinem Netz lockte mich zu ihr und als sie mich sah, sprach sie: „Bitte lass mich frei und friss mich nicht! Ich erzähle dir ein Märchen, bitte lass mich frei.“ Die kleine Seidenraupe bibberte vor Angst und hätte mir sicher auch geschmeckt. Aber ein Märchen entgehen lassen? Niemals! Also setzte ich mich hin und lauschte dem Märchen der Seidenraupe...
Es war einmal eine kleine Seidenraupe. Sie webte sich einen Kokon aus blütenweißer Seide. Es war viel Arbeit für die kleine Raupe, doch am Ende hatte sie einen behaglichen Kokon gesponnen. Stolz und voller Vorfreude sich zu verpuppen, wollte die Seidenraupe sich in ihren Kokon einspinnen. Doch vorher wollte sie sich noch einmal waschen, um den blütenweißen Kokon nicht zu beschmutzen. Als sie sich wusch, kam eine Kleidermotte des Weges und sah den Kokon. Rasch fraß sie das schöne Raupenkleid auf und rieb sich den dicken Bauch. Als die kleine Raupe wiederkehrte, sah sie nur, wie die fetten Motte davon flog, oder besser stürzte, weil sie so vollgefressen war. Traurigkeit machte sich in dem kleinen Räupchen breit. Würde sie jetzt niemals ein Schmetterling werden können?
Aus der Traurigkeit, wurde Trotz.
Aus dem Trotz wurde neuer Elan.
Die kleine Seidenraupe fasste den Entschluss, dass sie sich einen neuen Kokon spinnen würde, einen weißeren, gemütlicheren und vor allem einen mottensicheren. Sie machte sich also auf in die Welt, um zu lernen, wie sie einen solchen Kokon anzufertigen hatte. Die kleine Raupe war noch nie zuvor gereist und wanderte in den Norden. Sie ahnte nicht, dass es dort kühler werden würde. Eines Abends als Nebel über die Landschaft zogen, bedeckte sie sich mit Laub und fiel in tiefen Schlaf. Die Nacht wurde kühler und kleine Flocken tanzten vom Himmel und bedeckten das Land unter einer weißen Decke. Am nächsten Morgen erwachte die kleine Raupe und sah eine Welt voll weißem Schlummer. Es war so schön, dass die Raupe nicht spürte, wie kalt es war und sie wanderte immer tiefer in das winterliche Wunderland. Da begegnete ihr ein Kauz und die Raupe fragte, was dieses weiße Wunder sei. Da meinte, der Kauz es sei Schnee, ohne sich weiter um die Raupe zu kümmern. Als das kleine Räupchen den Namen erfahren hatte, bemerkte es, dass der Schnee so unendlich kalt war. Wie kam sie nur wieder in die Wärme? Hier war es viel zu kalt! Die kleine Raupe wanderte durch die Schneemassen, doch die Kälte zerrte immer weiter an ihren Kräften, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach und eins mit dem Schnee zu werden schien. Da tappste ein flauschiges Wesen durch den Schnee. Es war groß und von bärenhafter Gestalt. Es erblickte die kleine Raupe und legte sie in sein Rückenfell, wo es kuschlig warm und weich war. Gemütlichkeit flutete das Herz der kleinen Raupe und ließ sie sanft einschlafen. So träumte sie auf dem Rücken des Bären von warmem Schnee und erwachte erst als sie das Winterreich verlassen und im warmen Sommerreich angekommen waren. Die kleine Raupe bedankte sich bei dem freundlichen Bären, der ihr Leben gerettet hatte und zog weiter ihrer Wege. Es vergingen Tage und Wochen, aber sie fand keine Möglichkeit, wie sie ihren neuen Kokon vor gefräßigen Motten schützen sollte. Sie setzte sich auf einen Stein und ließ die Abendsonne auf sich scheinen. Der Wind tänzelte über die Felder und die lila Köpfe einer Pflanze nickten der kleinen Raupe zu. Da lief die kleine Raupe zu den Köpfen und roch ihren herrlichen Duft. Sie dachte sich, wenn die Pflanze so gut riecht, dann müsste sie auch gut schmecken. Die kleine Raupe machte sich daran etwas von der Pflanze zu essen. Da flog eine Motte vorbei und herrschte sie an: „Spinnst du?“
„Wieso?“
„Sowas widerliches zu essen! Du stinkst sicher jetzt auch nach diesem Lavendel!“, die Motte roch kurz an der Raupe und verzog angewidert das Gesicht, „Widerlich, einfach widerlich. Motte wirst du nicht!“, sich von der Raupe entfernend, polterte die Motte weiter: „Was für ein Spinner!“
„Keine Motte würde sagen, dass Lavendel gut riecht. Das ist einfach nur widerlich!“ Da flog das garstige Insekt davon. Die kleine Raupe freute sich aber über diese Worte. Sie hatte endlich was gefunden, was gegen die Motten half. Sie begab sich heimwärts und baute da einen neuen Kokon: Weiß wie Schnee, Flauschig wie ein Bär und duftend wie der Lavendel. Der Kokon wurde ein richtiges Kunstwerk und stolz erfüllte die kleine Raupe. Und wider als sie sich wusch um ihren Kokon nicht zu beschmutzen, kam eine gefräßige Motte und wollte das Raupenkleid verschlingen, doch als sie den Lavendelduft roch, wurde ihr so schlecht, dass sie sich an den Blattrand setzen musste und nach frischer Luft schnappte. Da kam die kleine Raupe zu ihrem Kokon und setze sich von der Motte ungerührt in ihren Kokon.
„Du spinnst doch!“, sagte die Motte entgeistert.
„Werde ja auch ein Seidenspinner.“ sagte die Raupe stolz und webte sich ein Mützchen für den Kopf.
Die Motte flatterte Kopfschüttelnd davon, sie zeterte über die Ereignisse eine ganze Woche, sodass viele kleine Raupen zu dem Kokon wanderten und seine Schönheit bewunderten. Die kleine Seidenraupe erzählte immer wieder ihre Geschichte und so hörten immer mehr Raupen davon. Es kam der Tag, als die kleine Raupe, zum Seidenspinner wurde und in die Welt flog. Nie wieder kehrte sie an diesen Ort zurück, doch die Geschichten wurden von Raupengeneration zu Raupengeneration weiter gegeben, ausgeschmückt und weitere erfunden. Und so lebte die kleine Raupe noch immer in den Geschichten in dem kleinen Tal.
Eines Tages sammelte eine weise Seidenraupe all diese Geschichten und verwebte sie in einem Wandteppich. Viele Male wurde er von anderen Seidenraupen kopiert und so lernten noch mehr Seidenraupen die Geschichte der kleinen Raupe kennen. Der prächtige Wandteppich ging aber nie auf großen Reisen, er wurde sicher in der Raupenbibliothek verwahrt, wo kein Raupenfresser sie je finden würde. Noch heute ist er dort zu lesen und wer mit der Nase dicht genug ran geht, wird merken, dass auch er nach Lavendel riecht.
ENDE
Natürlich habe ich die Raupe frei gelassen und wir sind gute Freunde geworden. :D Ich schenkte ihr Spinnenseide für Bungee-Jumping und sie mir ihre Raupenseide für eine flauschige Decke.
Ich hoffe, euch hat die Geschichte aus meiner kleinen Welt gefallen,
Eure Zitti. ^-^