Bevor man ins Gras beißt, muss man gelebt haben
Elli lief aufgeregt herum. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen und hielt dabei eine dicke Portion Zuckerwatte in der rechten Hand, obwohl sie nicht viel zum Naschen kam. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, all die wilden Fahrgelegenheiten des Wiener Praters zu bestaunen. Schließlich blieb sie mit offenem Munde vor einer atemberaubenden Achterbahn stehen. Ihre Augen glänzten, was ihre beste Freundin Anni sofort bemerkte. Sie legte einen Arm um Ellis Schultern und lächelte. „Mit der MÜSSEN wir fahren“, sagte sie knapp, worauf sie ein zustimmendes Geräusch von ihrer Freundin erntete. „Luise, komm schon!“, rief diese dann über die Schulter. „Mach ein bisschen schneller du alte Schildkröte!“, setzte Anni lachend nach. Die beiden meinten eine alte Dame, die mit unentschlossenem Gesichtsausdruck an einer Süßigkeitenbude stand. Sie drehte sich nach den beiden um und kam mit langsamen Schritten auf sie zu. Als sie angekommen war, hatten sich Elli und Anni längst wieder der Achterbahn zugewendet und folgten mit den Augen staunend dem rasend schnellen Wagen, der einen Looping nach dem anderen drehte. Als Luise die Blicke der beiden bemerkte, wurden ihre Lippen zu einem dünnen Strich. „Nein“, sagte sie und machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich komme nicht mit. Ich fahre nicht mit diesem… diesem… Ding.“ In diesem Moment ratterte der Wagen mit voller Geschwindigkeit an ihnen vorbei und sie schreckte einen Schritt zurück. Sie, alle drei, waren achtzig Jahre alt.
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Anni und Elli hatten sich nicht etwa beim wöchentlichen Bingo-Spiel für Senioren kennengelernt, nein, sie waren beim Flamencotanzkurs für Singles Freunde geworden. Luise hatten sie beim Bingo kennengelernt. Das hatten die beiden nur einmal ausprobieren wollen, um zwei Stunden darauf festzustellen, dass sie es „stinklangweilig“ fanden. Aber ihr Lebensmotto war ja „Bevor man ins Gras beißt, muss man gelebt haben“. Das bedeutete für sie so viel, dass sie alles ausprobieren wollten, solange sie es noch konnten. So war es gekommen, dass sie Luise kennengelernt hatten. Sie war eine alte Witwe ohne Kinder. Sie war ihnen irgendwie sympathisch gewesen, also hatten Elli und Anni sie einfach in ihre Freundschaft mit hineingezogen. So wie in den Ausflug zum Prater. Sie hatten Luise zwei Tage lang überreden müssen, bis sie endlich einwilligte, mitzukommen.
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Elli und Anni drehten sich entsetzt zu ihr um. „Waaas?“, schrillten sie im Chor. „Oooch, Lucy! Wofür kommt man denn zum Freizeitpark?“, protestierte Elli. „Erstens“, setzte Luise an. „Wenn du mich überhaupt mit einem Spitznamen ansprichst, dann nicht mit Lucy, sondern mit—“ Elli räusperte sich, sodass es verdächtig nach „Oma“ klang. Sie und Anni fingen zu kichern an, während „Oma“ sie düster anstarrte. „Sehr lustig. Zweitens: Ich bin nicht freiwillig hier!“ Die anderen stöhnten. „Das war doch mal wieder klar! Luise, du bist eine solche Spaßbremse!“, meckerte Elli. Luise rieb sich genervt die Schläfen. „Gabrielle, wir—“ „Nenn mich Elli“ „Elli, wir sind dazu schon viel zu alt! Siehst du, wie viele Schlaufen das Ding macht?“ Elli verzog das Gesicht. „Mit achzig ist man nicht alt und die Schlaufen nennt man Loopings!“ „Es ist mir doch egal, wie die Dinger heißen, ich fahre nicht mit!“, stellte Luise klar und machte ein Gesicht, das keinen Widerspruch duldete. Nach einer Weile sagte Anni „Gut!“ und klatschte in die Hände. „Dann fahren wir eben alleine.“ Sie und Elli gingen schnurstracks auf die Warteschlange zu. Vollkommen entgeistert schaute Luise zu. „Nun seid doch vernünftig!“, rief sie ihnen nach, woraufhin Elli abrupt stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Ihre Stimme war sanft, als sie ihr traurig ins Gesicht sah und sagte: „Luise, was ist vernünftiger; sich ab einem gewissen Alter vollkommen zurückzuziehen, weil man sich alt fühlt, oder das Leben bis in die letzte Sekunde zu genießen?“ Luise schien wirklich über diese Worte nachzudenken und schaute still zu Boden. „Anni…“, setzte Elli nach einer Weile an. „Könntest du schon mal vorgehen?“ Anni warf ihr kurz einen verwirrten Blick zu, nickte dann aber und schloss sich der Warteschlange der Achterbahn an. Als sie in sicherer Entfernung war, begann Elli erneut zu sprechen. „Ich sehe dir an, wie gerne du mitfahren würdest.“ Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Aber warum tust du das nicht einfach?“ Luise sah sich verlegen um. „Ich bin eben schon alt…“, murmelte sie dann. „Die Leute würden sich doch das Maul darüber zerreißen, wer diese verrückte alte Schachtel ist, die kampfhaft jung bleiben möchte!“ „Willst du dir dein Leben von den anderen bestimmen lassen? Eines Tages kannst du nicht mehr tun, was du möchtest. Dann ist das Leben ist vorbei. Und deshalb musst du im Hier und Jetzt leben.“ Elli machte eine kurze Pause und atmete tief ein. „Ich glaube, ich muss dir was sagen“, meinte sie dann mit ruhiger, beinahe entspannter Stimme. „Ich spüre, dass es mit mir bald zu Ende geht.“ Luise erschrak und versuchte ihrer Freundin einzureden, sie solle positiv denken und nicht gleich „den Teufel an die Wand malen“. Aber die wehrte ab. „Nein, Luise, ich spüre es. Und es macht mir nichts. Ich habe jede Minute meines Lebens gelebt.“ Luise stand mit offenem Munde da, doch Elli sprach unbeirrt weiter. „Und hier kann ich nochmal wirklich was erleben. Mit meinen beiden besten Freundinnen.“ Sie lächelte. Luise wusste nicht, was sie darauf hätte antworten können und schwieg betreten. So blieben die beiden eine Weile stehen.
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Beide sagten kein Wort, schauten nur betroffen auf den Asphalt unter ihren Füßen. Sie ließen die Situation auf sich wirken. Luise fühlte sich sehr aufgewühlt. In ihrem Kopf drehte sich alles.
Plötzlich kam Anni dahergelaufen und störte die beiden in ihrer Ruhe. „Mädels, wir sind dran!“ Sie deutete auf den Platz, an dem sich kurz zuvor noch eine kleine Warteschlange befand. Die Stelle war nun menschenleer und lud geradezu dazu ein, sich ein Ticket zu kaufen und den nächsten Wagen zu nehmen. „Ich komme schon!“, sagte Elli hastig und warf Luise dabei einen fragenden Blick zu. Nach kurzem Zögern nickte sie. „Ich auch“, rief sie Anni zu, die sichtbar verwundert war. „Du kommst mit?!“ Sie konnte wohl es kaum fassen, doch Elli und Luise lächelten einander zufrieden zu. Nun machten sie sich zu dritt auf den Weg zur Achterbahn. „Wie hast du das denn wieder hinbekommen?“, scherzte Anni nebenbei, doch Elli strahlte nur still vor sich hin. Endlich hielten sie vor dem Ticketstand. Der Verkäufer musterte sie misstrauisch. „Irgendwelche Herzprobleme oder Ähnliches?“ „Nein“, antworteten alle drei. Das war auch die Wahrheit, und ein Wunder. Tatsächlich hatten sie in ihrem hohen Alter noch keinerlei gesundheitliche Beschwerden. Der Verkäufer schien zwar etwas skeptisch, ließ die drei aber dennoch gewähren. So saßen sie ganz vorne im Wagen, und Luise stand die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Langsam kamen die Sicherheitsriegel herunter und die Bahn wurde in Gang gesetzt. Sie wurde immer schneller und schneller. Bergauf, bergab, ein Looping nach dem anderen. Anni und Luise johlten und kreischten begeistert, während Elli einfach stumm das Bauchkribbeln und Kitzeln genoss. Dieses lebendige Gefühl. Es war wunderschön. Und es wiederholte sich immer und immer wieder...
Schließlich kam der Wagen zum Stillstand und die Riegel lockerten sich. Mit wackeligen Beinen stiegen Anni und Luise aus. Sie grinsten von einem Ohr zum anderen. „Das ist ja fantastisch!“, rief Luise begeistert und Anni stimmte ihr von ganzem Herzen zu. Aber was war mit Elli? Sie saß noch im Wagen, die Augen geschlossen und trug ein mildes Lächeln auf den Lippen. „Elli?“ Anni rüttelte sie sanft. „Elli!“ Bang hob sie die Augenbrauen. Inzwischen war der Ticketverkäufer aufgetaucht und tastete Sie ab. „Ich fühle keinen Puls!“, rief er dann aufgeregt. „Bitte, rufen sie die Rettung!“ Damit meinte er eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern an der Hand, die vermutlich während der Fahrt Schlange gestanden hatte. Sie machte große Augen, zückte dann aber ihr Handy und wählte die 144. Gleich darauf begann sie zu reden. Doch Luise und Anni nahmen das Gespräch gar nicht wahr. „Ist sie… tot?“, hauchte Luise. „Ja“, antwortete Anni und klang dabei sehr entschlossen. „Aber so ist es gut. Für sie hätte es keinen schöneren Tod gegeben, als neben uns beiden im Wagen einer Achterbahn.“ Sie lächelte. „Und sie hat ihr Lebensmotto bis zum Schluss durchgezogen;‚Bevor man ins Gras beißt, muss man gelebt haben‘.“ Luise blickte in Gedanken verloren auf das lächelnde Gesicht ihrer verstorbenen Freundin. „Oh ja“, sagte sie dann, „Das hat sie.“