Während er hektisch sämtliche Taschen in der Kleidung nach seinem Schlüssel absuchte, zweifelte Alfred gar einen Moment lang an sich selbst, ehe er doch fündig wurde und mit einem erleichterten Seufzen den Geigenkoffer aus seinem Schließfach nahm.
Eigentlich hatte er ja vermutet, oder zumindest gehofft, dass der Tag ab diesem Zeitpunkt nur noch besser werden konnte, aber schon wenige Momente, nachdem er sich auf seinem angestammten Platz im Probensaal niedergelassen hatte, erwartete ihn ein weiteres Hindernis auf dem Weg zurück in den mittlerweile wünschenswert ereignislosen Alltagstrott.
„Berentz will dich sprechen, hat er gesagt. Er wartet in seinem Büro, hat er gesagt!“, flüsterte Jasper neben ihm, noch bevor er überhaupt seinen Koffer hatte öffnen können.
Alfred sah mit nach oben gezogenen Augenbrauen zu seinem jungen Sitznachbar, der eingehend die Partitur musterte, statt ihn direkt anzuschauen.
„Was ist denn so dringend, dass es nicht bis nach der Probe warten kann? Hat er dir das auch gesagt?“
„N-nein, das hat er nicht gesagt!“, stammelte Jasper und senkte den Blick.
Jasper Sundström war ein überdurchschnittlich begabter Violinist. Ein Wunderkind, das mit zarten zehn Jahren schon ganze Konzertsäle allein gefüllt hatte. Ein Ausnahmetalent, ein Virtuose.
Dass er hier still auf dem Platz neben Alfred saß, kleinlaut in der Partitur blätterte und bei jedem Konzert tadellos in der Menge unterging, sagte sicherlich mehr über die einnehmende Persönlichkeit des Ferdinand Berentz als über den pflichtbewussten Jasper aus.
Dennoch war zumindest Alfred der Überzeugung, dass der werte Herr Direktor Berentz ihm gern persönlich bescheid geben konnte, ohne einen Mann als Boten zu nutzen, den er mit nicht nur um den wohlverdienten Ruhm gebracht, sondern auch derartig klein gehalten hatte, dass ihm selbst dieser unangebrachte Gehorsam wohl nicht einmal weiter auffiel.
„Keine Sorge“, flüsterte Alfred ihm zu und warf einen diskreten Blick auf seine Armbanduhr, „Ich werde später zu ihm gehen. Oder auch gleich, wenn nicht einmal Doktor Marquardt die Güte hat, hier zu erscheinen.“
Es war spät genug, dass die Musiker auf ihren Stühlen langsam unruhig wurden. Immer mehr sahen auf ihre Uhr, auch die Resigniertesten unter ihnen schienen mittlerweile ungeduldig. Als sich die Tür endlich öffnete, wandten sich tatsächlich sämtliche Köpfe unisono dem Eingang zu.
Statt Doktor Marquardt war es Ferdinand Berentz persönlich, der mit langen, festen Schritten den Raum betrat. Das laute Räuspern hätte er sich sparen können, die Aufmerksamkeit aller Personen war ohnehin auf ihn gerichtet.
Zumindest solange, bis Alfred das erstickte Flüstern neben ihm vernahm:
„--sen! Mensch, Alfred. Das- das ist Darius Ottesen!“
Alfred runzelte die Stirn. Über Berentz hatte er tatsächlich glatt den Mann übersehen, der ihm scheinbar direkt auf den Fersen in den Raum gefolgt war.
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge.
Ferdinand Berentz war betrunken. Das konnte Alfred auf seinem Platz sogar riechen und sicherlich jeder andere, der ihn länger als ein paar Wochen kannte, zumindest sehen.
„Meine Herren! Wenn ich höflichst um Ruhe bitten darf!“
Stille. Für ein paar Momente herrschte Totenstille im Raum.
„Sie sind mit Sicherheit überrascht – lassen Sie mich versuchen zu erklären.“
Alfred konnte Berentz nicht in die Augen schauen. Der Blick in ihnen hatte etwas Wildes in sich, wie ein angestochener Bulle, der panisch Ausschau danach hielt, wann der Stierkämpfer zum nächsten Angriff ausholen würde.
Sein schweifender Blick fiel auf den sogenannten Ottesen, den man laut Jasper anscheinend kennen sollte und hätte in dem Moment nicht Berentz begonnen zu sprechen, wäre Alfred in schallendes Gelächter ausgebrochen.
Er hatte hier zwar gnädigerweise keine Stöpsel mehr in den Ohren, aber es war ohne Zweifel der Mann mit dem übermäßig schweren Aktenkoffer aus der Bahn.
Das konnte doch einfach nicht wahr sein!
„Meine Herren - Ich bin zutiefst erschüttert. Worte können nicht sagen, wie schmerzlich der Verlust eines solch unvergleichlichen Mannes für uns alle ist. Fast zwanzig Jahre lang war ich ein enger Freund von Doktor Helge Marquardt und ich bin mir sicher, jeder einzelne von Ihnen ist sich seiner unfassbaren Größe und Wichtigkeit für dieses Orchester bewusst gewesen. Mit Gewissheit werden wir alle ihn für immer in der bestmöglichen Erinnerung behalten.“
Alfred erstarrte. Jasper war leichenblass geworden und schien zu zittern.
Berentz hingegen schien seine Worte noch einmal zu überdenken und dann doch noch relativieren zu wollen.
„Ich hoffe inständig, es wird niemals böses Blut zwischen uns und Doktor Marquardt herrschen. Mir ist bewusst, dass unsere Beziehung zu den Berlinern gerade von ein wenig Konkurrenzdenken geprägt ist, aber--“
Das war der Moment, in dem Alfred sich mit einem tiefen Ausatmen wieder entspannte. Was hatte er befürchtet, das hier war immerhin ein betrunkener Ferdinand Berentz. Nicht nur hatte er mit den Jahren die Dramaturgie eines Schauspielers erworben und neigte zu maßlosen Übertreibungen. Auch war weder sein Neid bezüglich der Deutschen noch seine Ignoranz zum Thema menschlicher Vergänglichkeit ein Geheimnis.
Mit Sicherheit wäre es einem Mann wie Ferdinand Berentz sogar lieber gewesen, Marquardt hätte diese Welt verlassen, anstatt lediglich die Arbeitsstelle auf eine für Berentz negativ besetzte Art zu wechseln.
„Ich bin davon überzeugt, dass es noch lange nicht an der Zeit ist, zu zweifeln oder zu verzagen!“, fuhr Berentz schließlich fort und legte eine seiner Hände väterlich auf die Schulter des jungen Mannes, der fast schon verschwindend unscheinbar neben ihm stand.
Alfreds Blick lag auf dem Aktenkoffer des Fremden. Derselbe Koffer, den er vor beinahe beachtlich kurzer Zeit selbst in der Hand gehalten hatte. Derselbe Mann, der ihn vor beinahe beachtlich kurzer Zeit schon einige Nerven gekostet hatte. Und ein Name zu diesem hübschen, teilnahmslosen Gesicht.
„Meine Herren – Ich würde euch gern Darius Ottesen vorstellen!“, sagte Berentz und wies fast schon theatralisch auf den Jungspund, der mittlerweile sogar tatsächlich menschliche Regungen zeigte und etwas nervös die Hände ineinanderknetete.
Ottesen? Den Namen hatte Alfred noch nie gehört. Jasper hingegen schien es nicht fassen zu können. Er sah zu dem rücksichtslosen Schönling auf, als würde der heilige Geist persönlich vor ihm stehen.
Der Mann, von dem gesprochen wurde, schien zu den Leuten zu gehören, deren Ego ihnen körperliche Schmerzen bereitete, wenn sie lächelten und so versuchte er es wohl nicht einmal. Auch ohne die vorherige Begegnung in der Straßenbahn wäre dieser Ottesen Alfred sofort unsympathisch gewesen.
Ferdinand Berentz hingegen schien aus unerfindlichen Gründen große Stücke auf ihn zu halten, was er den Musikern auch nicht vorenthalten wollte:
„Herr Ottesen leitete zuvor mehrere hochkarätige Gruppen von Musikern in Norwegen und ist nun den weiten Weg von Oslo bis nach Wien gekommen, um den Platz von Doktor Helge Marquardt einzunehmen!“
Aus einer der hinteren Reihen drang erst Gemurmel, dann eine auch vorn sehr gut verständliche Frage:
„Stimmen wir dann jetzt ab?“
Direktor Berentz runzelte die Stirn.
„Es wird keine Abstimmung geben – Ich habe bereits über die Situation entschieden und wer damit ein Problem hat, kann dieses gern schriftlich bei mir in meinem Büro einreichen!“
Nun meldete sich sogar Jasper kleinlaut zu Wort:
„Aber“-
Berentz unterbrach ihn:
„Nichts aber! Wie ich schon sagte: Es ist bereits entschieden!“
Jasper sah hilfesuchend zu Alfred, der es so langsam wirklich nicht mehr fassen konnte. Berentz zog das Stofftaschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich seine Stirn ab, dann sah er noch einmal in die Runde.
„Das ist mein letztes Wort!“
Und damit rauschte er so stürmisch aus dem Raum, wie er ihn schon betreten hatte – und ließ Ottesen allein vor den zu Recht etwas perplexen Musikern stehen.
„Mein Name ist Ottesen“, sagte Ottesen und Alfred musste sich zusammenreißen, nicht die Augen zu verdrehen.
Einen derart unbekannten Namen derartig inflationär zu wiederholen konnte man wirklich nur dem üblichen Phänomen des Narzissmus zuschreiben.
Ottesen hatte aber noch mehr zu sagen, während er den Koffer neben Doktor Marquardts Pult stellte und zwischen erstaunlich viel Papierkram dann tatsächlich die passende Partitur für den neuen Job zu finden schien.
„Ich bin nicht Helge Marquardt, das ist mir bewusst. Allerdings-“, er räusperte sich leise, als er weiter in der Tasche kramte und niemanden direkt anblickte, „Allerdings sollte Ihnen, meine Herren, auch bewusst sein, dass ich nicht lediglich der Ersatz für Doktor Marquardt bin!“
Jasper starrte noch immer.
Ottesen beförderte ein schmales Holzkästchen ans Tageslicht, aus dem er seinen Taktstock zog. Als er beim Sprechen die erste Seite der Partitur aufschlug, sah er noch immer nicht nach oben.
„Also meine Herren – wir fangen an! Direktor Berentz setzte mich bereits in Kenntnis über den aktuellen Stand, aber vielleicht sollten wir uns erst einmal kennen lernen. Wunderlich – einen Platz weiter, bitte!“
Nun war es Alfred, der starrte.
„Tutti al fine!“, sagte Ottesen und wandte sich endlich den Musikern zu.
Alfred starrte mit einer fast schon amüsiert gehobenen Augenbraue.
Was sollte das nun werden? Naiver Optimismus oder grenzenlose Selbstüberschätzung?
Wahrscheinlich lief in der Realität eher hinaus auf „soweit wie wir mit Müh‘ und Not kommen“ oder „solange bis keiner mehr weiß, was Sie da vorne eigentlich machen!“
Aber dafür hatte wohl noch niemand ein passendes italienisches Wort gefunden.
Irgendwo war Alfred ja im Grunde bewusst bewusst, dass man Ottesen hier einfach mit Haut und Haaren fressen würde, wenn er sich nur einen Hauch von Unsicherheit anmerken ließ und er deswegen keine leichte Aufgabe hatte.
Aber für derartiges Verständnis war kein Platz, wenn man schon aus persönlicher Überzeugung das Wohl der Allgemeinheit vertrat anstatt einem unnötig ehrgeizigen Exzentriker dabei zu helfen, die Fehde mit den Deutschen komplett zu besiegeln.
Dass Ottesen allerdings seinen Namen kannte, wollte Alfred nicht so recht schmeicheln. Es bestätigte ihn vielmehr in der Annahme, dass man den seinigen wiederum nicht unbedingt kennen musste und Jasper da eher ein bisschen zu tief in der Materie war und am Ende noch die komplette Absolventenliste irgendeiner Hochschule auswendig gelernt hatte, nur für den Fall.
Dass er dieses Wissen allerdings gebrauchte, um ihn nicht nur komplett ohne Zusammenhang herumzukommandieren und noch dazu ohne Frage um Zustimmung zum Konzertmeister ernannte, ging Alfred noch mehr gegen den Strich.
Was glaubte Ottesen eigentlich, wer er war?
Dass er hier einfach hereinmarschieren konnte und sich ganz ohne eigenes Zutun eine perfekt aufeinandergestimmte Einheit einverleiben konnte? Alfred hätte gern sehr sehr viele Dinge gesagt und ihn nun tatsächlich alles Mögliche und Unmögliche genannt, doch es herrschte längst gespannte Stille im Raum und sogar Jasper hatte bereits den Bogen gehoben.
Alfred verstand die Welt nicht mehr.
Er hatte es ja immerhin sehr leise und unbemerkt geschafft, zumindest seine Geige aus dem Koffer zu nehmen. Darauf aber nun auch zu spielen kam einem Betrug an dem guten Doktor Marquardt gleich, dem er immer sehr loyal gewesen war.
Allerdings – wie loyal war Marquardt ihnen gegenüber, wenn er nun die Stelle in Deutschland angenommen hatte, sobald sich ihm die Gelegenheit geboten hatte? Er hatte doch sehr gut um Berentz‘ Einstellung bescheid gewusst, doch dass er die allgemeine Abneigung gegenüber dem Direktor über die Treue zu seinem Orchester stellte – Alfred verstand es nicht.
Ottesen hingegen schien diese Chance beim Schopf gepackt zu haben.
Und auch wenn es ihm gehörig gegen den Strich ging, Alfred Wunderlich war niemand, der zur Meuterei aufrief.
Seine Wut auf Marquardt allein brachte ihn schon dazu, Haltung einzunehmen und auch noch hastig die Partitur aufzuschlagen.
Ottesen warf ihm einen aufmerksamen Blick zu, sagte aber nichts, sondern wartete wohl mehr oder minder geduldig.
Dumm war er ja hoffentlich nicht, er konnte wohl ahnen, dass er sich zumindest mit seinem Konzertmeister wider Willen gut stellen musste. Jasper hatte mittlerweile geschafft, den Blick von Ottesen zu wenden und erwartungsvoll zu Alfred zu blicken.
Sie kamen tatsächlich bis etwa zur Hälfte des dritten Stückes, bevor statt des richtigen Einsatzes die donnernde Stimme von Erwin Gebauer wieder aus einer der hinteren Reihen dröhnte:
„Das ist eine Zumutung! Wir erwarten eine Erklärung, weshalb man uns nicht einmal nach unserer Meinung gefragt hat!“
Ottesen ließ die Arme sinken.
Für einen Moment sah er aus wie ein kleiner Junge, den man ohne Abendessen auf sein Zimmer geschickt hatte.
Sollte er sich in diesem Moment fragen, was er eigentlich hier wollte, konnte Alfred ihm nur zustimmen. Ferdinand Berentz hatte die Demokratie übergangen und sich ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt, den gestandenen, erfahrenen Herrschaften hier ungefragt einen vielleicht Zwanzigjährigen vorzusetzen.
„Da Capo al fine“, sagte Ottesen fast schon gefährlich ruhig.
Kurz wandten sich einige Köpfe zu Gebauer. Der hatte längst das Horn in den Koffer gepackt und marschierte gen Ausgang.
Wie vom Donner gerührt starrte Alfred ihm ungläubig nach, als er ohne eine weiteres Wort aus dem Raum stürmte und die Tür zuschlug.
Jasper zuckte zusammen, sog scharf den Atem ein und wirkte mit zittrigen Händen schon jetzt vollkommen aufgelöst.
Das war ein Statement. Allerdings schien sich ansonsten niemand dieser Rebellion anschließen zu wollen. Alfred ließ hastig doch unauffällig seinen Blick durch die Reihen schweifen und sah in Gesichter, in denen sich seine eigene Einstellung wiederspiegelte.
Sie würden das hier durchziehen. Erwin Gebauer war bekannt für seine Impulsivität. Er würde morgen wieder auf seinem Platz sitzen und niemand würde mehr ein Wort darüber verlieren.
Der einzige, der dies allerdings nicht wusste, war Ottesen – und wenn Alfred sich nicht täuschte, verlangte es ihm einiges ab, nicht auch noch die Fassung zu verlieren.
„Wir machen zwanzig Minuten Pause!“