Es dauerte fast drei Wochen, bis der Wagenzug das nächste mal rastete, und sie wurden für Valion die schlimmsten seit Beginn der Reise. Das Wetter schlug um, und von einem Tag auf den anderen regnete es sintflutartig, und dass über eine Woche lang. Zuerst hielten die Planen der Wagen stand, aber irgendwann begann das Wasser durchzusickern, bis sich ihr Quartier in eine tropfende, klamme Höhle verwandelt hatte. Es wurde tagsüber nicht mehr richtig hell, die Wolkendecke war zu dicht, und dazu blieb es kühl. Die Diener wateten kontinuierlich durch Schlamm, und sie waren immer nass, niedergeschlagen und völlig verdreckt, wenn sie vorbei kamen. Mehrere erkälteten sich und steckten die anderen an, bis es keinen mehr gab, der nicht hustete oder schniefte. Valion und Anya blieben, wie durch ein Wunder, davon verschont.
Als wäre das nicht genug gewesen, bekamen sie immer weniger zu essen. Anscheinend hatte sich das, was Besnard angekündigt hatte, bewahrheitet: Ihre Vorräte gingen zur Neige.
Anya schimpfte und drohte zuerst, hörte aber bald damit auf. Niemand konnte die Situation ändern, in der sie sich befanden, und sie wurde sehr nachgiebig, was die Bediensteten anging. Immer mehr von ihnen wurden so krank, dass sie eine Weile nicht mehr arbeiten konnten. Anyas Bitte, von ihrer Kette befreit zu werden, um sich selbst versorgen zu können, wurde jedoch rundheraus abgelehnt, mit besten Grüßen von Eravier. Danach war sie einen halben Tag lang so wütend, dass selbst Valion ihr aus dem Weg ging.
Von diesen Zwischenfällen abgesehen verlief ihre Weiterreise so eintönig wie eh und je. Von den Rebellen hörten weder Valion noch Anya in dieser Zeit etwas. Valion lernte weiterhin Regeln der Etikette. Zusätzlich begann Anya, ihm Lesen beizubringen.
„Wir sollten die Bücher nutzen, so lange sie noch nicht fortgeschwommen sind“, hatte sie die Situation säuerlich kommentiert, als die zweite Woche nur noch mehr Regen brachte, jetzt in Form von beharrlichem Landregen.
Sie übte mit ihm gerade das Alphabet, als die endlose Wolkendecke am Ende der zweiten Woche über Nacht aufriss. Valion erwachte am ersten dieser klaren Morgen schlotternd und hörte ein seltsames, leises Knirschen und Klirren vom Dach des Wagens. Erst, als er aufgestanden war und die Planen begutachtet hatte, verstand er, was passiert war: Die mit Wasser durchtränkten Bahnen waren über Nacht steif gefroren und so hart wie Bretter. Über drei Tage hinweg war es nachts so kalt, dass Valion seinen Krug Wasser immer mit Eissplittern garniert erhielt.
Immerhin brachte dieses neue Wetter auch einige Vorteile: Ihre Habseligkeiten trockneten endlich, und die Stimmung der Diener hob sich langsam wieder. Das lag allerdings auch daran, dass sie angeblich auf ihr nächstes Ziel zusteuerten: Ein Dorf abseits ihrer geplanten Route. Das sollte sie endlich wieder mit Vorräten versorgen, und wenn nötig, auch mit einigen zusätzlichen Kleidungsstücken, um ihre Zeit bis zur Hauptstadt zu überbrücken. Die Verzögerung in ihrer Reise bedeutete, dass sie nicht mehr lange mit stabilem Wetter rechnen durften. Nach all der Zeit hatte sie der Herbst nun endlich eingeholt. Die ersten gelben und roten Blätter hingen an den Bäumen, und der Wind nahm deutlich zu. Er rüttelte an den Planen der Wagen, und mehr als einmal raubte das Valion den Schlaf.
Wenn er wach lag, grübelte er darüber nach, wie er weitermachen sollte. Manchmal erschien es ihm völlig sinnlos, weiterhin von Anya ausgebildet zu werden. Wenn Jan die Wahrheit gesagt hatte, dann würde er frei sein. Da, wo er hinging, würde ihn niemand danach fragen, in welcher Reihenfolge man adlige Gäste begrüßte und was eine Dessertgabel war.
Aber nicht alles, was Anya ihm beibrachte, war langweilig oder nutzlos. Sie sprachen über Geschichte, über das Land. Valion verstand auf einmal, dass er nichts über seine eigene Heimat wusste, nicht einmal erahnt hatte, wie groß Galia war, wie das Land überhaupt geführt wurde. Und dann waren da die Bücher, die Anya ihm vorlas und aus denen er mit größter Mühe immer mehr Wörter klaubte. Gedichte, die seinen Kopf mit Bildern füllten, wie es früher Märchen und Geschichten getan hatten.
Manchmal, wenn er im Dunkel der Nacht ins Leere starrte und dem Wind lauschte, fragte er sich, wie er all das aufgeben sollte. Dann schlichen sich Eraviers Worte ungebeten an ihn heran, und er schauderte, weil er sie endlich verstand.
Sag mir, Valion, willst du wirklich in diesem Dorf leben, wenn es eine Welt der Schönheit und des Reichtums gibt, an der du teilhaben könntest? Du könntest ein viel besseres Leben führen.
Die Wahrheit war, dass er zweifelte. Er wusste, dass er Eravier auf jeden Fall entkommen wollte. Aber das Leben, das Anya gelebt hatte, umgeben von Büchern, von Wissen, von Kunst und schönen Dingen ... Er hätte gelogen, wenn er gesagt hätte, dass er nicht davon angezogen war. Aber wie, wenn nicht durch Eravier, hätte er daran teilhaben können?
Der Gedanke raubte ihm den Schlaf.
An einem klaren, milden Nachmittag hielt der Wagenzug schließlich an, und die Diener begannen, das Lager aufzuschlagen.
Valion erinnerte sich nur verschwommen an den ersten Aufbau, zwei Wochen, nachdem er ein Sklave geworden war. Er war im Pestwagen eingeschlossen gewesen und hatte, weit abseits vom Geschehen, wenig gesehen und gehört. Jetzt waren sie jedoch mitten im Getümmel, und die hektische Betriebsamkeit um sie hielt bis in die späten Abendstunden an.
Anya war sichtlich aufgeregt. „Es wird Zeit, dass wir wieder unter Menschen kommen. Spätestens morgen sollten wir diese Dinger hier los sein“, sagte sie mit einem Nicken zu ihrer verhassten Kette.
Wie sehr sie sich damit getäuscht hatte, begriff sie nach und nach. Der nächste Tag kam, und damit der erste Klatsch. In nicht allzu großer Entfernung sollte es einen kleinen Fluss geben, und das Dorf war glücklich über die Gelegenheit, zu handeln. Einige wilde Apfelbäume bescherten ihnen Obst, der Fluss ein paar Fische. Doch Valion und Anya blieben angekettet. Am Tag danach begannen die Verhandlungen mit dem Dorf, und am Abend bekamen sie praktisch ein Festmahl serviert, Suppe, frisches Brot, ein Stück gegrilltes Fleisch, Äpfel. Ihr Lagerplatz war wohl günstig gelegen, berichtete einer der Diener, auf einem flachen Hügel, umgeben von Wiesen und Weiden. Die Wachen konnten sich bequem einrichten, da jede Bedrohung sofort von weither ersichtlich war. Die Stimmung war gut, die Rebellen fast vergessen. Doch Anya und Valion blieben angekettet.
Der dritte Tag versprach bestes Wetter. Schon am frühen Vormittag herrschten sommerlich warme Temperaturen, ideal, um einen Spaziergang zu unternehmen. Trotzdem war niemand gekommen, um Anya und Valion zu befreien, nicht einmal für eine Stunde, und Anya riss endgültig der Geduldsfaden.
Als eines der jungen Dienstmädchen vorbei kam, um ihre Kleidung zum Waschen abzuholen, fragte sie rundheraus: „Meutern die anderen Sklaven nicht langsam? Wir rasten seit Tagen, und wir bleiben trotzdem angekettet?“
Das Mädchen schwieg betreten und sah zu Boden, und das war es wohl, was Anya eins und eins zusammen zählen ließ.
„Warte, lass mich raten. Wir sind die Einzigen, die noch ständig hier sind, nicht wahr?“
Das Mädchen duckte sich, als erwarte sie ein Donnerwetter, aber sie nickte.
„Und lass mich noch einmal raten: Der Befehl stammt von Eravier?“, fragte Anya weiter, ihre Stimme ausdruckslos. Mittlerweile wusste Valion, dass das kein gutes Zeichen war; sie war wirklich, wirklich wütend.
„Er hat sich sehr deutlich ausgedrückt, Herrin.“
„Und ich wette, er hat sich dabei mächtig ins Fäustchen gelacht!“, spie Anya, stapfte wütend zu ihrem Waschtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Sie schien mit aller Macht ihre Wut zurückzuhalten, und die Magd sammelte schnell die Wäsche ein und warf Valion einen unsicheren Blick zu.
„Tut mir leid“, flüsterte sie. „Jeder weiß es, aber niemand hat uns gesagt, warum.“ Doch bevor sie vor Anyas Zorn flüchten konnte, hielt die sie zurück.
„Halt! Du bleibst hier!“, sagte sie, und erhob sich wieder. „Du wirst Eravier etwas ausrichten“, kommandierte sie, ging zu dem Mädchen, und flüsterte ihr etwas zu. Sie sah Anya perplex an, blickte dann zu Valion, und von einem Moment auf den anderen errötete sie bis unter die Haarspitzen.
„D-d-das kann ich unmöglich-“
„Oh doch, das wirst du. Wenn du es dir nicht zutraust, dann soll es jemand anders tun, aber wenn diese Nachricht nicht bei Eravier ankommt, werde ich sehr ungemütlich werden.“
Man sah dem Mädchen deutlich an, dass sie nicht wusste, was sie mehr fürchten sollte: Anyas Wut, oder die Aussicht, Eravier eine Nachricht von ihr zu überbringen. Trotzdem knickste sie eilig und verließ den Wagen.
„Das wird jetzt wohl eine Stunde dauern, in der er sich einredet, dass er nicht auf mich hören will. Und dann werden wir einen Spaziergang zum Fluss unternehmen“, sagte Anya geschäftsmäßig und setzte sich erneut an den Waschtisch. „Komm, hilf mir. Der Anlass verlangt nach einer praktischen Frisur.“
Verwirrt trat Valion zu ihr und half ihr, ihr Haar zu lösen. „Du glaubst wirklich, dass er einfach so nachgeben wird?“
Anya zuckte mit den Achseln. „Das wird er. Verzeih mir diesen Ausdruck, aber du bist das perfekte Druckmittel dafür. Und sieh mich nicht so skeptisch an“, fügte sie hinzu, „Ich muss hier raus. Wenn ich noch einen Tag länger hierbleibe, werde ich schreien und etwas Unvernünftiges tun.
Jedenfalls möchte ich nicht, dass mein Haar nass wird. Gott weiß, wie lange es dauern wird, bis es getrocknet ist, und wie es danach aussieht, bei diesem wechselhaften Wetter.“
Valion hatte keine Lust, einem Monolog über ihr Haar zuzuhören und unterbrach sie: „Ich verstehe immer noch nicht, was du ihr gesagt hast. Was habe ich damit zu tun, ob Eravier dir erlaubt, Baden zu gehen?“
Anya schnaubte nur. „Liegt das nicht auf der Hand? Ich werde dir natürlich etwas beibringen, Dummerchen. Dafür bist du schließlich mit mir eingesperrt: damit ich deine Ausbildung voranbringe.“ Sie hielt inne, und fügte dann säuerlich hinzu: „Mittlerweile ist das vermutlich der einzige Wert, den er mir noch beimisst.“
„Schön, aber was willst du mir ausgerechnet beim Baden beibringen? Gibt es eine festgelegte Reihenfolge, in der ich die Fische grüßen muss?“
Anyas Mundwinkel zuckte nach oben, doch ihre Antwort fiel trocken und gänzlich ohne Mitgefühl aus. „Ich werde dir beibringen, wie du deine Scham ablegst.“ Sie beobachtete ihn, ob er jetzt endlich darauf gekommen war, was sie von ihm verlangen würde. Je länger sie ihn erwartungsvoll ansah, desto mehr begriff er.
„Auf keinen Fall!“, platzte es aus ihm heraus, aber Anya ließ keinen Widerspruch gelten.
„Oh doch. Wir werden nackt sein.“
„Ich kann nicht glauben, dass das funktioniert hat“, murrte Valion, auch wenn es ihm schwerfiel, im strahlenden Sonnenschein an seiner schlechten Laune festzuhalten.
„Nimm es als Lektion, wie man Menschen beeinflusst“, gab Anya gleichmütig zurück. Sie hatte ihr Gesicht dem Licht zugewandt, die Augen geschlossen und genoss die lange vermisste Wärme der Sonne. Es hatte fast zwei Stunden statt nur einer gedauert, aber am Ende hatte Anya ihren Willen bekommen. Eine Wache war ohne Ankündigung in ihr Quartier gestapft, hatte ihre Ketten gelöst und sie nach draußen geschickt. Dort warteten sie seitdem darauf, dass sie abgeholt werden würden, wie die Wache es ihnen mit einem missgelaunten Halbsatz angekündigt hatte.
Valion nickte einem Diener zu, den er flüchtig kannte und der an ihm vorbei hastete, und ließ den Trubel des Lagers auf sich wirken. Er hätte froh sein sollen, aber irgendwie hatte er ein flaues Gefühl in der Magengrube. Sie wurden immer wieder aus den Augenwinkeln beobachtet, als wären sie Verbrecher. Jeder wusste, dass Eravier sie länger als nötig gefangen gehalten hatte. Welche wilden Gerüchte über sie machten wohl gerade die Runde? Alle, die Valion einfielen, waren nicht besonders schmeichelhaft, und einige davon nur allzu wahr. Verschwörung mit der Rebellion zum Beispiel. Die meisten der Diener wichen seinen Blicken aus, und die Wachen, die vorbei trabten, musterten sie lange, bevor sie ihren Weg fortsetzten.
„Denkst du nicht, dass die Sache einen Haken hat? Dass Eravier uns jetzt doch gehen lässt?“, fragte er an Anya gewandt. Sie seufzte.
„Natürlich gibt es, wie du dich so blumig ausdrückst, einen Haken. So wie ich Eravier kenne, wird er uns die widerlichsten Bewacher geben, die er finden kann. Und sei dir sicher, dass er nach Ablauf unserer Zeit ganz zufällig anwesend sein wird, um uns zu überwachen. Oder besser gesagt, dich.“
Valion verzog das Gesicht. Er hatte eine völlig nackte Musterung durch Eravier hinter sich; er hatte gehofft, sein Lebtag keine zweite mehr durchmachen zu müssen. Bevor er sich darüber beklagen konnte, sah er jedoch zwei Wächter auf sie zu kommen, die nicht einfach nur eine Runde drehten. Der eine entpuppte sich zu seiner Freude als Guy, aber der andere als Levin.
„Ich schätze, du hattest zumindest halb recht. Wir haben einen widerlichen Bewacher.“
Anya öffnete die Augen, um zu sehen, was er meinte, und verzog das Gesicht. „Ausgerechnet dieser schmierige Wurm“, flüsterte sie, und setzte ein gekünsteltes Lächeln auf.
„Wir sind hier, um euch abzuholen“, sagte Levin mit einem dreckigen Grinsen, als sie herangekommen waren.
„Habt ihr alles, was ihr benötigt?“, fragte Guy, in seiner Ruhe ein wohltuender Kontrast. Anya nickte und klopfte auf den Stapel Wäsche neben sich, zwei Abtrockentücher und ein neues Stück Seife.
„Wir sind bereit, wie du siehst. Ich habe sogar mein Haar zurückgesteckt, damit es nicht nass wird. Gefällt es dir?“, fragte sie an Guy gewandt und legte eine Hand auf seine Brust.
Valion hätte es nicht für möglich gehalten, aber Levins dreckiges Grinsen wurde noch breiter. „Warum zeigst du es uns nicht irgendwo, wo wir ungestört sind?“, fragte er.
Anya rollte nur mit den Augen. „Dich hat niemand gefragt“, zischte sie unfreundlich zurück und brachte sich aus seiner Reichweite.
„Gehen wir jetzt besser. Ihr habt nicht unbegrenzt Zeit“, sagte Guy unbeeindruckt und schenkte Levin einen mürrischen Blick.
Valion seufzte innerlich. Das konnte ja heiter werden.
Die Landschaft um sie war geradezu malerisch. Valion hatte einen Vorgeschmack davon bekommen, als er das Quartier verlassen hatte. Aber erst, als sie das Lager hinter sich ließen und in Richtung des Flusses spazierten, konnte er die Schönheit des Ortes wirklich in sich aufnehmen.
Sie lagerten auf einer grünen Hügelkuppe, die in alle Richtungen sanft abfiel. In einiger Entfernung, nördlich des Lagers, sah man eine Ansammlung Häuser, durch die eine Straße führte. Ein hübsches Dorf, das Valion sehr an seine Heimat erinnerte, auch wenn es ein ganzes Stück größer war. Mehr Häuser machte er rings um ihr Lager aus, jedoch in einiger Entfernung; kleine Bauerngüter, die wohl noch zum Dorf gehörten, aber ihre Felder außerhalb angelegt hatten.
Aus der erhöhten Position des Lagers konnte man bereits erahnen, dass sie der Stadt näher kamen; in der Ferne, im Westen, entdeckte Valion noch mehr Dörfer. Anscheinend hatten sie eine Route gewählt, die sie jetzt durch dichter besiedelte Gebiete führen würde. Die Straße, die sie gekommen waren, hatte einen weiten Bogen gemacht, aber in ihrem weiteren Verlauf führte sie ziemlich genau von Osten nach Westen und verbreiterte sich stetig.
Jetzt waren sie allerdings in südliche Richtung unterwegs. Dort schlängelte sich ein kleiner Fluss durch ein breites, üppig grünes Tal. Seine Ufer waren grasig und flach, und an einigen Stellen hatten sich kleine Sandbänke gebildet. Nach Westen hin fiel er jedoch deutlich ab, und die Strömung schien stark zu sein. Valion vermutete, dass seine Mitte recht tief sein musste, und nicht ganz ungefährlich. Weiter stromabwärts, jedoch in einiger Entfernung, war das Flussufer für eine Wassermühle begradigt. Dort führten auch einige Stege ins Wasser. Valion zählte sechs Boote, bevor sie zu weit hinab gestiegen waren und er den weiteren Flussverlauf aus den Augen verlor.
Etwas anderes erregte dafür seine Aufmerksamkeit: Anscheinend waren sie nicht die Einzigen, die das schöne Wetter nutzten. Eine Gruppe Männer schien weiter flussabwärts zu baden. Durch das Weiß ihrer Unterbekleidung, die sie anbehalten hatten, waren sie deutlich sichtbar. Obwohl sie einige hundert Meter entfernt waren, schallten ihr Gelächter und ihre Rufe dennoch zu Valion und den anderen hinüber. Auch Anya bemerkte sie und warf Guy einen fragenden Blick zu.
„Die Pferdeknechte haben heute einen halben Tag freibekommen“, erklärte Guy.
„Eravier gibt sich großzügig, was?“, sagte Anya spöttisch.
Guys Gesicht blieb völlig neutral, aber seine Augen huschten zu Levin hinüber. „Darüber erlaube ich mir kein Urteil. Und das solltest du auch nicht.“
„Lass das Püppchen doch ruhig ein bisschen reden“, sagte Levin und lachte. „Sieh dir an, mit was für einem blassen Bürschchen sie sich die letzten Wochen abgeben musste. Kein Wunder, dass ihr nach Gesellschaft ist.“
Anya verdrehte nur die Augen und beschleunigte ihren Schritt.
Sie erreichten kurz darauf das Ufer. Ein Streifen Sand zwischen Gras und Wasser schuf einen kleinen Strand, auf dem sich Blätter, kleine Stöcke und Steine angesammelt hatten. Im Wasser machte Valion einige silberne Schemen aus, die davon glitten, sobald sie näher kamen.
Anya streckte sich zufrieden im Sonnenlicht und sah über den Fluss hinweg. „Schön ist es hier. Was meinst du? Wollen wir uns ins Wasser wagen?“
Valion zuckte mit den Achseln. „Dazu sind wir schließlich hier, oder?“
Anya nickte. Sie hatten wohl kaum eine Wahl. Guy hätte Valion vielleicht nicht verraten. Aber Levin war schäbig genug, sie auflaufen zu lassen. Seine Anwesenheit war eine wahre Strafe.
„Tretet zurück“, sagte Anya an Guy und Levin gewandt. „Ihr habt hier nichts zu bewachen, also stört mich wenigstens nicht.“
Levin öffnete den Mund und wollte etwas erwidern, vermutlich etwas Anzügliches, aber Guy packte ihn an der Schulter und schenkte ihm einen warnenden Blick.
„Natürlich. Aber entfernt euch nicht zu weit“, sagte er, und schob Levin einige Meter weiter zu einer Bodenwelle, auf der sie sich, leicht erhöht, zur Wacht aufstellten. Für sie war dieser Ausflug keine Erholung, sondern nur eine weitere Aufgabe. Valion hätte fast Mitleid mit ihnen gehabt, wenn es sich nicht ausgerechnet um Levin gehandelt hätte.
Anya berührte Valion leicht an der Schulter. „Komm. Lass uns anfangen.“
„Schon gut.“ Er wandte sich wieder Anya zu und hoffte, dass sie ihm sagen würde, was er zu tun hatte. Wenn es möglich war, seine Gabel falsch zu halten oder falsch dazustehen, dann hatte er sich vermutlich auch sein Leben lang falsch aus- und angezogen. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln, und Anya lächelte zurück.
„Dann das Wichtigste zuerst: Versuch, dich zu entspannen. Denk nicht zu viel darüber nach, dass du Zuschauer hast. Aber vergiss sie auch nicht, du sollst deine Kleidung nicht einfach loswerden. Du willst deinen Körper offenbaren, Stück für Stück. Wer auch immer dir dabei zusieht, soll das gern tun.“
Sie öffnete die Jacke über ihrem Kleid, ruhig und sehr bedacht. Valion bemerkte vom ersten Moment an, dass sie jetzt anders vorging als sonst; wenn sie allein waren, war sie viel effizienter, schnell und gründlich. Ihre Langsamkeit war spielerisch. Sie streifte nicht jeden Ärmel einzeln ab, sondern ließ ihre Jacke eher von ihren Schultern gleiten und fing sie mit einer Hand, bevor sie sie ins Gras legte. Ihr Oberkleid folgte, und dann ihr Rock. Sie ließ ihn simpel über ihre Hüfte hinab gleiten und stieg elegant aus dem Kreis von Stoff, bevor sie ihn zum Rest ihrer Kleidung legte. Jetzt trug sie nur noch ihre Schnürbrust über ihrem langen Unterhemd, das ihr bis knapp über die Knie reichte.
Ihre Augen blieben die ganze Zeit auf Valion gerichtet, und es war schwer, sich ihrem Blick zu entziehen. Er war nicht gewohnt, dass sie ihn so ansah, und fühlte, wie er errötete. Peinlich berührt sah er zu Levin und Guy, die sie beobachteten. Guy trug immer noch den gleichen, neutralen Gesichtsausdruck, aber Levin stand grinsend mit verschränkten Armen da. Er genoss die Darbietung, selbst wenn sie nicht für ihn war.
„Konzentrier dich.“ Anyas tadelnde Stimme lenkte Valions Aufmerksamkeit zurück zu ihr. Sie war seinem Blick nicht gefolgt, immer noch ganz auf ihn fokussiert. Bemerkte sie nicht, was vorging, oder ignorierte sie Levin?
„Er glotzt dich an“, sagte Valion, aber Anya schien es egal zu sein.
„Natürlich tut er das. Und er wird dich genauso anglotzen; du wirst dich damit arrangieren müssen. Wenn du dich erst für einen Kunden ausziehen musst, wird es keine Rolle spielen, ob du ihm etwas abgewinnen kannst. Im Gegenteil, du musst genauso elegant und charmant sein, wie du es sonst auch wärst. Egal, ob vollständig bekleidet oder splitterfasernackt. Also los, du bist dran.“
Valion seufzte, aber er tat, was sie wollte und ahmte sie, so gut er es konnte, nach. Er entledigte sich seiner Jacke, bückte sich und wollte seine Schuhe öffnen. Anya sah ihm einen Moment lang zu und verbarg dann ihr Gesicht in ihrer Handfläche.
„Nicht so, du meine Güte. Du hast Zuschauer! Mit Eleganz! Hast du dich noch nie- Vergiss es, falsche Frage. Setz dich.“
Valion verdrehte die Augen und gehorchte. Zumindest hatte sie daran nichts auszusetzen, das hatten sie schon geübt.
„Gut, jetzt streck dein Bein aus“, dozierte Anya weiter. „Beug dich vor, aber lass den Rücken gerade, und dann kannst du dir den Schuh ausziehen. Gut so.“
In dieser Art ging es weiter, und obwohl Valion sich fühlte, als würde er ein Theaterstück aufführen, war er doch irgendwie froh. Er musste nicht darüber nachdenken, was er tat, er musste nur Befehle ausführen und sich einprägen, was er zu tun hatte. So legte er nach und nach seine Schuhe, Strümpfe, die Weste und seine Hosen ab, bis ihm nur noch Unterhemd und Unterhose blieben.
„Schön, das war ein Anfang“, kommentierte Anya. „Jetzt wird es interessant, es sei denn, du warst aufgrund außergewöhnlicher Umstände ohne Unterwäsche unterwegs.“ Valion lachte auf, und Anya musste selbst schmunzeln. „Sollte es dazu kommen, ist das letzte Kleidungsstück, das du trägst, ausschlaggebend. Denk daran, spätestens jetzt solltest du alle Aufmerksamkeit haben, und es hat keinen Sinn mehr, noch irgendetwas hinauszuzögern. Werde den Rest möglichst schnell los, und ohne viel daran herum zu zupfen. Ich würde dir ja gern eine praktische Anleitung geben. Aber wie du siehst“, sie zeigte auf ihre Schnürbrust, „tragen wir dazu zu unterschiedliche Unterwäsche.“
„Was für ein Zufall“, gab Valion mit einem schrägen Grinsen zurück, und Anyas Mundwinkel zuckten. Trotzdem blieb sie ernst und fuhr fort: „Was dein Unterhemd angeht, zieh es dir möglichst mit einem Mal über den Kopf.“
„Und wie?“
„Kreuz am besten die Arme vor dem Körper und zieh es am Saum nach oben, dann sparst du dir den Ärger mit den Ärmeln. Versuch es einmal.“
Valion runzelte die Stirn und versuchte sich vorzustellen, wie er das bewerkstelligen würde, was Anya ihm gerade erklärt hatte. Er war so in Gedanken versunken, dass Levins gehässige Stimme ihn zusammenfahren ließ.
„He, meine Schöne, wann machst du weiter?“, rief er zu Anya herüber. „Bekommen wir noch was von dir zu sehen statt nur von dem hageren Bübchen?“
Anya fuhr wütend zu ihm herum, und hätten Blicke töten können, wäre Levin nicht nur niedergesunken, sondern auf der Stelle zu Staub zerfallen. Stattdessen grinste er nur und verschränkte die Arme.
„Beachte ihn gar nicht“, zischte Anya und wandte sich wieder Valion zu. „Mach einfach weiter.“
Das war leichter gesagt als getan. Valion versuchte, seine Konzentration wiederzufinden, starrte auf sein Hemd. Er verstand durchaus, was Anya von ihm verlangte, aber er fand nicht mehr zu der vorherigen Ruhe zurück. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sich nicht abschütteln und blockierte ihn. Levin stand immer noch mit verschränkten Armen neben Guy, aber er hätte Valion genausogut ins Genick atmen können. Valion fühlte seinen höhnischen Blick, sah vor seinem inneren Auge sein dreckiges Grinsen.
Hageres Bübchen.
Er durfte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er musste lernen, und er durfte Anya nicht im Stich lassen. Aber es war sinnlos; er hätte auch versuchen können, einen Ameisenhaufen direkt unter seinem Hintern zu ignorieren. Der Wille allein half nicht.
Valion ballte die Fäuste. Musste er sich schon wieder diesem Dreckskerl geschlagen geben? Eingestehen, dass er sich von ihm beeinflussen ließ? Nein, nicht diesmal. Levin hatte es einmal geschafft, ihn so lange zu bearbeiten, bis er fast nachgegeben hatte. Diesmal würde er den Spieß umdrehen. Aber wie?
Die Antwort lag nahe: mit denselben schmutzigen Methoden, mit denen Levin selbst arbeitete. Denn er musste eine Schwachstelle haben, so wie jeder andere auch. Etwas, das gegen ihn verwendbar war.
Valions Wut verschwand nicht, aber jetzt fühlte er sich gefasster. Er hob den Kopf, und statt Levin nur mit seinem Blick zu streifen, fixierte er ihn, sah ihm direkt in die Augen.
Wovor hatte er Angst? An welcher Wunde konnte Valion kratzen?
Levin erwiderte seinen Blick unbesorgt, aber dann veränderte sich seine Miene subtil. Sah er verunsichert aus? Ja, ein wenig. Er schien nicht zu begreifen, warum er plötzlich beachtet wurde. Er war es gewohnt, dass man ihm auswich. Legte er es nicht sogar darauf an? Lenkte die Aufmerksamkeit von sich ab? Je länger Valion ihn anstarrte, desto unsicherer wurde er. Valion hatte eine Ahnung, warum, hatte sie vielleicht von Anfang am gehabt. So wie Anya ein Gespür dafür hatte, ob ein Mann an ihr interessiert war oder nicht.
Das war verwirrend. Einen Moment lang wollte Valion an seinem Gefühl zweifeln. Ausgerechnet Levin? So wie er Jadzia in die Ecke gedrängt hatte? Oder Anya begafft hatte wie ein Stück Fleisch?
Wenn das nicht seine Art ist, sich zu schützen.
Und spielte es letztendlich eine Rolle? Valion würde seine Ahnung ausspielen, nur um zu sehen, was passierte.
Levin war mittlerweile so beunruhigt, dass er drauf und dran war, den Blick abzuwenden. Aber das würde er nicht zulassen, das schwor sich Valion in diesem Moment. Er hatte zusehen wollen; Das konnte er haben.
Valion griff nach dem Saum seines Hemdes, und wie Anya gesagt hatte, zog er es sich mit einem Mal über den Kopf und warf es achtlos neben sich. Ließ nicht zu, dass Levin ihn nur einen Moment aus den Augen ließ. Er hätte fast gelacht, als er sah, dass Levin jetzt tatsächlich zurückgewichen war. Irgendetwas machte ihn schrecklich nervös.
Nicht irgendetwas. Du.
Sehr gut.
Valion griff nach dem Bund seiner Unterhosen und schob ihn gerade so weit herunter, dass die Schwerkraft den Rest erledigte, so wie Anya es mit ihrem Rock getan hatte. Sie fielen zu Boden, und achtlos stieg er aus dem Bündel Stoff. Einem Impuls folgend ging er auf Levin zu. Der wand sich regelrecht vor ihm.
Ein spöttisches Lächeln legte sich auf Valions Lippen. Er sah plötzlich Anya vor sich, wie sie eine Hand auf die Brust eines Mannes legte, dessen Aufmerksamkeit sie wollte. Eine unschuldige Berührung, die doch so viel bewirkte. Valion überwand den Abstand zu Levin, hob den Arm, legte eine Hand auf seine Brust. Levin schluckte trocken.
Aus der Nähe sah er gar nicht so schrecklich aus. So eingeschüchtert, wie er gerade war, brachte er nicht einmal einen Ton heraus. Und jetzt würde Valion ihm den Gnadenstoß geben. Er näherte sich ihm noch weiter, so nah, dass Levin sich furchtsam versteifte, und flüsterte ihm zu: „Na? Hast du jetzt was zu sehen bekommen?“
Er hatte ins Schwarze getroffen, er sah es, und Levin sah, dass er es sah. Er hatte jetzt Angst; nicht vor Valion, sondern vor dem, was er gerade über Levin herausgefunden hatte. In diesem Moment wollte Valion ihn auslachen, sein Selbstbewusstsein zerschmettern. Ihm zeigen, wer der Stärkere war.
Dann legte sich eine große Hand auf Valions Schulter und zog ihn sacht, aber mit deutlichem Nachdruck, von Levin weg.
„Ich glaube, das reicht jetzt“, sagte Guy. „Du hast ihm eine Lektion erteilt; lass es gut sein.“
Valion sah zu ihm auf, und er war versucht, sein Glück auch bei ihm zu versuchen. Zu sehen, ob er diesen neu entdeckten Hebel nicht auch bei ihm ansetzen konnte. Aber ein Blick in Guys funkelnde Augen sagte ihm, dass das sinnlos war. Er amüsierte sich vielleicht darüber, was Valion gerade getan hatte, aber er war absolut nicht beeindruckt davon.
Also hob Valion die Hände und trat einen Schritt zurück, aus Levins Reichweite. „Tut mir leid. Ich bin schon weg.“
Guy sah ihn mit dem gleichen, ruhigen Blick an, der ihm zu verstehen gab, dass er kein Wort seiner Entschuldigung glaubte, aber ihn auch nicht verpfeifen würde. Er nickte in Anyas Richtung, zum Zeichen, dass er zu ihr zurückgehen sollte. Levin versuchte, etwas zu krächzen, aber er brachte kein Wort heraus, und Valion war auch nicht daran interessiert. Er würde eine Rechtfertigung stammeln, versuchen, wieder Boden zu gewinnen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Als Dreingabe durfte er jetzt Valions nackten Hintern anstarren, während er gemächlich zum Flussufer zurück spazierte.
Anya hatte die Gelegenheit genutzt, ihre Kleidung abzulegen, und war jetzt so nackt wie er. Sie lächelte breit, aber nicht aus Häme. „Gut gemacht“, sagte sie schlicht, „Was meinst du? Wollen wir ins Wasser?“
Valion nickte, und Anya ging leichtfüßig voraus. Nichts an ihrer Haltung deutete darauf hin, dass ihre Nacktheit ihr etwas ausmachte, und Valion bewunderte sie dafür. Dann begriff er, dass sie ihm gerade auch nichts ausmachte. Levin hatte ihn tatsächlich wütend genug gemacht, dass er seine Scham einfach vergessen hatte.
Valion wandte sich zu ihm um, um zu sehen, wie er mit seiner Niederlage umging. Aber Levin stand nicht mehr neben Guy. Er war auf dem Rückweg zum Lager; er lief buchstäblich davon.
Sehr gut, dachte Valion. Aber irgendwie war er sich sicher, dass das nicht das letzte Mal gewesen war, dass sie aneinandergerieten. Sie waren noch nicht fertig miteinander.