Das Wasser fühlte sich eisig an Valions Füßen an, und der Grund am Ufer war unerwartet steinig. Unsicher stakte er in den Fluss hinein und hoffte, dass er sich schnell an die Kälte gewöhnen würde. Anya war ihm voraus und bereits bis zum Ansatz ihrer Brüste im Wasser, doch dann schien ihr etwas einzufallen, und sie wandte sich hastig zu Valion um.
„Warte! Kannst du überhaupt schwimmen?“
„Das fällt dir ja früh ein“, erwiderte Valion patzig. „Und ja, kann ich.“
Anya schenkte ihm einen langen Blick, auf den er schon aus Prinzip nicht reagierte, aber das stellte sich als Fehler heraus. Als Nächstes holte sie aus, spritzte einen Schwall kaltes Wasser in Valions Richtung und traf seine nackte Brust. Er schrie auf, stolperte rückwärts und hatte das Gefühl, sein Herz würde aussetzen.
„Das war schon beim letzten Mal nicht witzig, verdammt noch mal!“, schimpfte er und schüttelte sich, aber Anya lachte ihn nur aus.
„Aber es hat sich gelohnt, du hast genau dasselbe Gesicht gemacht!“, spottete sie, und sprang leichtfüßig zurück, als er Wasser in ihre Richtung spritzte. Sie revanchierte sich umgehend, und traf Valion zum zweiten Mal unvorbereitet, diesmal direkt ins Gesicht. Wasser geriet in seine Augen und lief aus seinen Haaren, und jetzt hatte er die Nase voll.
„Das kriegst du zurück!“ Valion achtete nicht mehr auf die spitzen Steine unter seinen Füßen, rannte los und machte einen Hechtsprung ins Wasser, direkt auf Anya zu. Sie quietschte vergnügt auf und brachte sich schwimmend vor ihm in Sicherheit, aber sie war nicht schnell genug für ihn. Er folgte ihr in tieferes Wasser und verlor den Grund unter den Füßen, aber dann hatte er sie schon. Er bekam im aufgewühlten Nass ihren Knöchel zu fassen, zog sie daran zurück. An Land hätte er es nicht leicht mit ihr gehabt, aber jetzt schien sie nichts zu wiegen. Er packte sie an der Hüfte, was gar nicht so einfach war, weil er nur knapp herum reichte, und setzte sie damit fest, da half auch kein Zappeln. Sie lachte immer noch aus vollem Hals.
„Und jetzt?“, fragte sie frech.
„Sagst du, dass es dir leidtut!“
„Auf keinen Fall!“
Sie stieß sich von Valion ab, aber nicht vorwärts, sondern nach unten, und weg war sie, verschwunden unter der Wasseroberfläche; sie tauchte einfach unter ihm hinweg. Sollte er ihr folgen? Bevor er eine Entscheidung fällen konnte, wurde sie ihm abgenommen: Eine Hand aus der Tiefe griff seine Wade und zerrte ihn nach unten. Valion schaffte es gerade noch, Luft zu holen, dann schloss sich das Wasser über ihm.
Der Fluss war recht klar, und als er die Augen öffnete, entdeckte er Anya auf Anhieb. Sie grinste immer noch, und dann deutete sie mit einer Hand in Richtung Flussmitte. Sonnenstrahlen tanzten auf der Oberfläche, und nicht weit darunter wogten die glänzenden Schemen einer Schar Fische. Anmutig, so zielgerichtet wie nur ein einziger Körper, bewegte sich der Schwarm durch sein Flussreich. Der Anblick war wunderschön, und Valion hielt bis zu letztmöglichen Sekunde durch.
Keuchend tauchte er schließlich wieder auf, direkt neben Anya, die eher als er aufgegeben hatte.
„Bezaubernd, oder? Ich musste sie dir einfach zeigen!“, sagte sie und lächelte glücklich, so begeistert wie er über ihre Entdeckung.
Du bist bezaubernd, dachte Valion, ein Gedanke aus dem Nichts. Keine Phrase, denn er fühlte wirklich so. Ihr Lachen, ihre Aufregung, ihre Freude am Wasser und ihrem kleinen Kampf, alles daran war liebenswert. Die Erkenntnis kam plötzlich, und sie war verwirrend. Anya war attraktiv, und schlimmer noch: Sie war nackt, sie war direkt vor ihm, und sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn gern hatte. Das alles wurde ihm schlagartig bewusst, und dem Rest seines Körpers leider auch. Er konnte fühlen, wie sein Gesicht heiß wurde.
Er sah nur einen Ausweg: Er tauchte wieder unter, weg von Anya, flussabwärts. Alles, damit sie es ihm nicht direkt ansah.
Valion tauchte so weit, wie er konnte, hob nur einmal den Kopf, um Luft zu schnappen. Seine Lunge protestierte gegen die ungewohnte Belastung, aber dafür hatte er wenigstens eine Ablenkung. In einiger Entfernung erspähte er einen Felsen, flach und rund, der knapp unter der Oberfläche lag, und wählte ihn als Ziel. Grüne Wasserpflanzen wuchsen von der Mitte abwärts bis zum Grund wie ein in der Strömung treibender Rock. Einige Fische, die sich darin verborgen hatten, nahmen Reißaus, als Valion sich näherte.
Mit einiger Mühe schaffte er es, sich auf den Felsen zu hieven, und setzte sich dann darauf. Das Wasser reichte ihm jetzt nur noch bis zum Bauchnabel, und durch seine erhöhte Position konnte er sich sogar ein wenig umsehen.
Weiter stromaufwärts wanderten Guy und ein anderer Mann, vermutlich der Vertreter für Levin, ihm und Anya hinterher. Anya schwamm gemütlich auf ihn zu, ließ sich aber Zeit.
Flussabwärts badeten immer noch die Knechte. Von seinem Posten aus konnte Valion sie recht gut überblicken; er war nah genug, um die Silhouetten auseinanderzuhalten, aber zu fern, als dass sie seine Gegenwart bemerkt hätten. Vermutlich hätten sie ihn, selbst wenn sie zu ihm geblickt hätten, für einen Wasservogel oder ein Stück treibendes Holz gehalten. So mussten sich wohl Wassernixen fühlen, wenn sie aus der Ferne die Menschenwelt beobachteten.
Anya tauchte neben ihm auf. Sie machte sich nicht die Mühe, den Felsen zu erklettern, sondern hielt sich lediglich an ihm fest, damit die Strömung sie nicht davon trieb. Valion sah ihr an, dass sie wusste, warum er vor ihr geflohen war. Glücklicherweise zog sie ihn diesmal nicht damit auf, sondern folgte seinen Blicken, hinab zu den Knechten.
Irgendetwas schien bei ihnen vorzugehen, denn sie hatten sich wie Zuschauer in einem großen Halbkreis aufgestellt. Ihre Rufe waren noch lauter als zuvor, und einen davon verstand Valion:
„Los, du schaffst das!“
„Was da unten wohl vor sich geht? Sie scheinen ja eine Menge Spaß zu haben“, sagte Anya.
„Gute Frage“, antwortete Valion achselzuckend.
„Wollen wir zu ihnen schwimmen und nachsehen, was sie so beschäftigt?“
Er konnte nicht glauben, dass sie das ernst meinte, aber ein Blick in ihr Gesicht überzeugte ihn vom Gegenteil. Anyas gute Laune beflügelte sie heute anscheinend zu besonderem Schabernack: Sie wollte tatsächlich nackt vor einer ganzen Gruppe Männer erscheinen und dachte sich nichts weiter dabei.
„Und dann?!“, fragte Valion perplex, „Sagen wir einfach Hallo und warten ab, was passiert?!“
Anya zuckte mit den Schultern, immer noch grinsend. Die Vorstellung war für sie anscheinend ein großer Spaß. „Was soll schon passieren? Was sollen sie tun?“
Schlimmstenfalls in Ohnmacht fallen, wegen Blutmangel, wollte Valion erwidern, aber er verkniff es sich. Stattdessen nickte er in Richtung ihrer Bewacher, die fast zu ihnen aufgeschlossen hatten.
„Werden sie uns nicht aufhalten?“
„Warum sollten sie? Du sollst lernen, vor anderen nackt zu sein. Wer wäre besser geeignet als eine Gruppe von Knechten, die kein Blatt vor den Mund nimmt?“
Valion seufzte. Worauf hatte er sich nur eingelassen, als er heute Morgen aus dem Bett gekrochen war?
Dann wiederum: Er hatte heute schon absonderlichere Dinge getan, als nackt vor Zuschauern herumzulaufen. Wie schlimm konnte es werden? Würde ihn überhaupt jemand bemerken, wenn Anya die Gelegenheit bekam, eine ganze Horde Männer auf einmal zu bezirzen? Vermutlich konnte er sich bequem ins Gras legen und warten, bis das Spektakel vorbei war.
Oder du könntest jemand über den Weg laufen, den du kennst.
„Meinetwegen“, murrte er und erhob sich, um vorsichtig von seinem Sitzplatz herunter zu steigen.
„Sieh es als Gelegenheit, kleiner Meermann“, erwiderte Anya, und bewies damit ein für alle mal, dass sie Valion besser kannte, als ihm lieb war. „Du könntest deinem Freund Marceus über den Weg laufen. Und wenn du ihm etwas Hübsches vorsingst, kannst du ihn vielleicht sogar mitnehmen.“
Irgendwie hatte Valion damit gerechnet, dass er und Anya schon von Weitem bemerkt werden würden. Aber das Gegenteil war der Fall: Sie schwammen völlig unbeachtet flussabwärts, niemand drehte sich auch nur in ihre Richtung um. Bei den Knechten schien irgendetwas vorzugehen und beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie lachten, klatschten und feuerten sich immer wieder gegenseitig an. Anscheinend war irgendeine Art Wettbewerb im Gange.
Selbst als Anya im flacheren Wasser die Füße auf Grund stellte und der Gruppe Männer entgegenging, blieb sie völlig unbemerkt. Valion war es nur recht; er wurde langsam nervös, ein dumpfes Gefühl der Unruhe in der Magengegend, das mit jedem Schritt stärker wurde. Trotzdem folgte er Anya durch das hüfthohe Wasser. Am Rand der Gruppe hielten sie schließlich inne und spähten zwischen den breiten Rücken hindurch.
Zuerst konnte Valion das Geschehen überhaupt nicht einordnen. Alle schienen auf die Wasseroberfläche fixiert, und einige wetteten auf einen Sieger, aber von den Kontrahenten war keine Spur. Dann durchbrach mit einem Mal ein Mann die Oberfläche und rang keuchend nach Atem. Er war im Unterhemd, das vollgesogen mit Wasser an seinem hageren Körper klebte. Hustend und schnaufend erhob er sich und wischte sich die Augen. Endlich erkannte Valion ihn: Es war Tarn. Er begann zu lachen, sobald er genug Atem geschöpft hatte.
„Verdammt noch mal, ist er immer noch unten?“, rief er gerade in die Menge, und dann, als hätte er ihn herauf beschworen, brach ein weiterer Mann durch die Wasseroberfläche, fast drei Meter von ihm entfernt, und sog gierig Luft in die Lungen. Marceus.
„Hab ... ich ... ihn besiegt?“, keuchte er, und die Knechte brachen in lautes Gejohle aus. Mehrere Männer schlugen ihm anerkennend auf die Schulter. Marceus grinste breit und zufrieden und sah sich dann nach Tarn um, der auf ihn zu watete und ihm die Hand reichte. Marceus packte sie kräftig und schüttelte sie.
„Du hast mich fair geschlagen!“, sagte Tarn und lachte, und der Stolz darüber stand Marceus ins Gesicht geschrieben.
„Ich dachte, es zerreißt mir die Lunge! Ich glaube, so weit bin ich noch nie getaucht!“
„Pass auf, dass dir nicht bald Kiemen wachsen!“, gab einer der Knechte zum Besten, und ein anderer fügte hinzu: „Dafür muss dir Jefrem heute Abend einen ausgeben!“ Sie ernteten Gelächter und zustimmendes Johlen.
Valions Blick blieb an Tarn und Marceus hängen. Sie spekulierten anscheinend darüber, welche Distanz sie nun wirklich zurückgelegt hatten, und lachten viel, ihre Haltung völlig entspannt. Valion hatte sie noch nie so gesehen; glücklich, sorglos. Sie waren hier unter Freunden, weit weg von ihrer Arbeit und Eraviers wachsamen Blick, und am liebsten wäre Valion sofort umgekehrt.
Er gehörte nicht hierher, genauso wenig wie Anya. Sie waren Eindringlinge, Außenstehende, und das lag nicht nur daran, dass sie die einzigen ohne Kleidung waren. Für diesen halben Tag waren die Männer einmal keine Bediensteten, mussten keine Autorität fürchten und niemandes Befehle befolgen. Welches Recht hatte Anya, hatte er selbst, hereinzuplatzen und sie zu stören?
„Wir sollten gehen“, flüsterte er Anya zu.
„Wir sind doch gerade erst angekommen!“.
„Ich denke wirklich-“, setzte Valion an, aber in diesem Moment hatte Anya schon dem nächststehenden Mann auf die Schulter getippt. Er drehte sich irritiert um, und fand sich einer nackten Frau gegenüber, die ihn selbstbewusst von unten herauf anstarrte.
„Hallo“, sagte Anya mit einem Lächeln.
Es war faszinierend, die Wirkung ihrer Begrüßung zu beobachten. Valion vergaß für einen Moment sogar seine Nervosität. Der Angesprochene zuckte vor Überraschung zusammen, als er Anya vor sich stehen sah, und verfiel in verwirrtes Schweigen. Die absurde Situation hatte ihn prompt schachmatt gesetzt. Ein weiterer Mann, vermutlich ein Freund, drehte sich zu ihm um, wollte wohl etwas sagen, und erstarrte ebenfalls. Er rieb sich sogar die Augen, aber Anya stellte sich nicht als Trugbild heraus. Er schlug dem Mann neben sich auf den Arm, der sich ebenfalls verwundert zu ihm umdrehte, und so ging es weiter.
Wie eine Welle breitete sich die lautlose Botschaft von Anyas Ankunft aus, und das nur mit einem einzigen Wort. Am Ende gab es niemand, der sie nicht anstarrte.
Valions Blick schweifte über die Menge und blieb dann wieder bei Marceus und Tarn hängen, die sich ebenfalls zu ihnen umdrehten. Marceus sah zuerst nur Anya, aber dann erkannte er Valion, und ihm fiel fast die Kinnlade herunter. Sein Gesicht war innerhalb von Sekunden rot. Tarn, der sowohl Anya als auch Valion zunickte, bemerkte es im selben Moment. Er grinste, so amüsiert, wie Valion es noch nie gesehen hatte, nicht einmal geglaubt hatte, dass er dazu in der Lage war. Sein Blick wanderte zwischen Marceus und Valion hin und her. Valion machte sich keine Illusionen darüber, dass er nicht genau durchschaute, was vor sich ging. Dann legte Tarn eine Hand auf Marceus Schulter, drückte kurz zu, und flüsterte etwas. Marceus schreckte auf und sah aus, als wäre er vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.
Jetzt, nachdem die Verwunderung abgeklungen war, brandete Gemurmel auf: das betretene Beratschlagen von Männern, die nicht wussten, was sie tun sollten, und ob sie nicht gleich einen Kopf kürzer gemacht werden würden. Das hätte noch eine Weile so weitergehen können, aber dann teilte sich die Menge, zurückgetrieben von zwei kräftigen Händen und einer gehörigen Portion Autorität. Triefnass und rund, wie ein gut gelaunter Wassergott, kam Jefrem heran und bahnte sich einen Weg zu Anya und Valion. Er war der Einzige, der über seinem Unterhemd eine einfache Leinenweste trug, was ihm eine seltsame Autorität verlieh. Die Knechte wichen hinter ihn zurück wie eine Schar sehr großer Küken hinter eine dicke Henne, sodass er schon einen Moment später die Speerspitze der Gruppe bildete.
„Sei gegrüßt, Herrin! Tag, Valion“, sagte er und deutete eine Verbeugung an. „Mir scheint, ihr habt euch ein wenig verlaufen!“
„Ach ja? Wie kommst du darauf?“, fragte Anya gespielt verwundert zurück und stützte eine Hand in die üppigen Hüften. Ihr ganzer Körper geriet dabei in Bewegung, ihr Busen wogte, und der Anblick genügte, dass sich mehrere Männer verlegen und fluchtartig abwandten. Selbst Jefrem schien nicht unbeeindruckt, auch wenn er besser die Fassung wahrte.
„Ich erinnere mich da an ein paar Regeln, was den Kontakt von Sklaven und Knechten betrifft. Die sollten dir eigentlich geläufig sein!“, konterte er frohgemut und verschränkte die kräftigen Arme vor der breiten Brust.
„Kann mich gerade gar nicht daran entsinnen“, sagte Anya mit einem spöttischen Lächeln. „Aber selbst wenn: Warst du schon einmal mehrere Wochen zu zweit eingesperrt? Die Gesprächsthemen erschöpfen sich irgendwann!“
„Dann ist dir also nach einer Unterhaltung?“
Anya zuckte mit den Schultern, eine erneute Provokation, und ging langsam und elegant auf Jefrem zu. „Ich hätte zumindest nichts dagegen einzuwenden, wenn du mir sonst nichts anzubieten hast“, erwiderte sie, und ihr Lächeln verwandelte vermutlich ein Dutzend Knie zu Pudding.
Jefrem seufzte; er erkannte wohl selbst, dass er gegen Anyas Charmeoffensive nicht ankam. „Dann kommt“, sagte er und bot Anya galant den Arm, den sie auch ergriff. „Ich nehme zwar an, eure Wächter werden gleich hier aufkreuzen und euch abführen, aber so lange seid ihr unsere Gäste.“
„Sehr liebenswürdig“, flötete Anya und ließ sich von Jefrem ans Ufer führen.
Valion blieb im Wasser zurück, praktisch unbeachtet. Anya war wie immer das Zentrum der Aufmerksamkeit, und ihr folgten eine Menge verlangende Blicke. Valion schüttelte lächelnd den Kopf, aber er gönnte es ihr. Sollte sie sich ein wenig amüsieren; Jefrem würde schon darauf achten, dass ihr nichts passierte.
Während er noch da stand und sich fehl am Platz vorkam, steuerte Marceus auf ihn zu, immer noch ein wenig rot im Gesicht, und stellte sich neben ihn. Einen Moment lang betrachteten sie beide Anya, die sich lebhaft mit Jefrem unterhielt.
„Wenn sie nicht so charmant wäre, könnte man sie glatt für unverschämt halten“, sagte Marceus, und Valion schnaubte amüsiert.
„Oh, glaub mir, sie ist beides.“
Marceus musterte ihn von der Seite, fragte schließlich: „Wie geht‘s dir? Ich hab mir ein bisschen Sorgen gemacht. Aber Jefrem war sehr deutlich, was Besuche anging.“
Valion zuckte die Achseln. „Es geht mir gut, und Anya hat keine Langeweile aufkommen lassen. Ich lerne gerade von ihr, wie du siehst.“
„Schwimmen?“
Valion sah zu Marceus auf, der seinen Blick nervös erwiderte und anscheinend fürchtete, etwas Falsches zu sagen. Er war mit der Situation so überfordert, wie Valion sich zuerst gefühlt hatte. Irgendetwas von Anya musste wohl auf ihn abfärben, denn es kam Valion längst nicht mehr so schlimm vor, nackt vor Marceus zu stehen. Im Gegenteil, es verschaffte ihm einen unerwarteten Vorteil, verunsicherte sein Gegenüber. Anscheinend wirkte seine Nacktheit nicht nur auf Levin einschüchternd. Nur, dass er Marceus gar nicht einschüchtern wollte.
„Nein, mich nicht vor anderen zu schämen“, erwiderte er ruhig, blickte an sich herunter, dann wieder zu Marceus. „Du weißt schon.“
Marceus war seinem Blick gefolgt, und die Röte in seinem Gesicht war schlagartig zurück.
„Oh. Verstehe“, brachte er gerade so heraus. Dann entdeckte er scheinbar etwas Hochinteressantes irgendwo am anderen Flussufer, das er für einen langen Moment anstarrte. Valion verkniff sich das Lachen und sah sich um, ob irgendjemand ihn und Marceus bei ihrem Gespräch beobachtete. Aber nein, niemand schien es darauf anzulegen, vielleicht aus Respekt vor Marceus. Selbst Tarn hatte sich abgewandt, unterhielt sich mit Mischa und Viljo.
„Du schlägst dich jedenfalls besser, als ich gedacht hätte“, sagte Marceus. Anscheinend hatte er seine Fassung wiedergewonnen. „Ich wäre vermutlich schon vor Scham gestorben.“
„Hm“, antwortete Valion, aber er hörte nicht wirklich zu. Etwas an Tarn hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er stand halb abgewandt, und für einen Moment sah Valion durch sein nasses Hemd etwas auf seinem Rücken durchschimmern, das er sich nicht erklären konnte: Schwarze Linien, die eine Art Muster zu bilden schienen.
Vielleicht konnte er ihn danach fragen. So ein Gespräch beginnen. Er hatte nicht geplant, dass sie sich heute so treffen würden, aber warum sollte er die Gelegenheit nicht nutzen? Wer wusste schon, wann er wieder dazu kam.
Während er darüber nachdachte, hatte Marceus etwas gesagt, und Valion hatte kein Wort davon verstanden.
„Tut mir leid, ich hab gerade nicht zugehört.“
„Schien mir auch so“, antwortete Marceus, und Valion überhörte den gekränkten Unterton konsequent. Er brauchte nicht noch jemand, der ihm vorhielt, dass er Tarn mochte.
„Hör zu, es war gut, dich zu sehen“, sagte er, wieder an Marceus gewandt, „Aber ich glaube, ich muss mit Tarn reden.“
Marceus nickte, wenn auch sichtlich enttäuscht. „In Ordnung, ich will dich nicht aufhalten.“
Valion ergriff seine Hand, hielt sie einen Moment fest. „Tust du nicht. Wirklich nicht“, sagte er, und Marceus lächelte versöhnt.
„Ist vielleicht auch besser, wenn du gehst. Ich weiß gerade gar nicht, wohin ich schauen soll“, sagte er verlegen, und erlaubte sich einen weiteren Blick auf Valions Körper, der gefährlich tief ging.
„Wie wär‘s mit meinem Gesicht?“, fragte Valion zurück. Marceus hob ruckartig den Kopf, auf frischer Tat ertappt, und sah Valion hastig in die Augen. Dann mussten sie beide lachen.
Tarn unterhielt sich noch mit Mischa, als Valion ihn erreichte, aber Valion blieb einfach geduldig stehen und wartete ab. Er hatte es nicht eilig, und es gab genug zu sehen. Unauffällig erlaubte er sich einen Blick auf Mischas beeindruckend muskulöse Brust; Mischa hatte sein Unterhemd zum Schwimmen abgelegt. Ohne seine weite Kleidung wirkte er weniger wie ein Schrank und mehr wie der Held einer Sage, groß, kraftstrotzend und ein wenig einschüchternd. Selbst Tarn, der nicht gerade klein war, wirkte neben ihm eher mickrig. Mischa hätte Valion vermutlich aus einer Laune heraus in zwei Hälften brechen können, und irgendetwas an dieser Vorstellung war weniger bedrohlich als vielmehr interessant.
Valion musste über sich selbst den Kopf schütteln; Anya färbte noch mehr auf ihn ab, als er gedacht hatte. Oder er hatte unterschätzt, was es bedeutete, mit einer ganzen Schar halb nackter Männer konfrontiert zu werden.
Mischa hatte seine Blicke wohl bemerkt, denn er nickte in Valions Richtung und sagte an Tarn gewandt: „Ich glaube, dich will jemand sprechen.“
„Ja?“ Tarn wandte sich etwas überrascht um. „Ach, du.“
„Wir reden später weiter“, sagte Mischa. Er zwinkerte Valion kurz zu und stapfte dann davon.
„Tut mir leid, ich habe dich gar nicht gesehen“, sagte Tarn an Valion gewandt. Valion hob die Augenbrauen zum Zeichen, dass er das nun wirklich nicht glauben konnte, und brachte Tarn damit tatsächlich zum Lachen.
„Ich meinte, eben gerade nicht. Deine und Anyas Ankunft war kaum zu übersehen. Also, was gibt es?“
Jetzt, im entscheidenden Moment, versagte Valions Stimme. Es gab zu viel zu sagen. Zu viele Fragen. Und er konnte sie nicht hier stellen, umgeben von anderen Menschen.
„Können wir reden? Allein, wenn möglich?“ Tarn sah überrascht aus, und zaghaft fügte Valion hinzu: „Wenn jetzt keine gute Gelegenheit ist-“
„Doch, natürlich“, unterbrach Tarn ihn. „Komm. Setzen wir uns ans Ufer.“
Tarn führte Valion flussaufwärts ein Stück am Ufer entlang, zu einer sandigen kleinen Bucht. Ein schmales Rinnsal vereinte sich hier mit dem Fluss. Das Gras war hoch und undurchdringlich und schirmte sie vor neugierigen Blicken ab.
Valion ließ sich auf dem Sand nieder und wollte sich unbewusst in den Schneidersitz setzen. Er erkannte rechtzeitig, dass das keine gute Idee war. Wie setzte man sich völlig nackt neben jemand, der es nicht war? Er wünschte, Anya hätte ihm in diesem Moment sagen können, was er tun sollte. Er löste das Problem, indem er ein Bein ausstreckte und das andere, Tarn zugewandte anwinkelte. Das war nicht perfekt, aber besser als nichts.
Tarn beobachtete sein Dilemma und lächelte dabei. In diesem Moment erinnerte er Valion sehr an Anya; er amüsierte sich darüber, wie unbeholfen Valion sich anstellte. Anders als Anya hatte er jedoch Mitleid.
„Fühlst du dich auch nicht zu unwohl? Ich könnte dir mein Hemd holen“, bot er an. „Das wäre trocken, und du musst nicht frieren.“
Das war nett gemeint, und die Vorstellung war tröstlich. Valion würde in seinem sonnenwarmen, trocknen Hemd versinken, das nach Gras und Seife roch. Es würde ihm viel zu groß sein und ihn vermutlich komplett verhüllen. Aber gerade deshalb durfte er es nicht annehmen.
„Nein, danke. Ich muss mich daran gewöhnen. Und die Sonne ist warm genug.“
Tarn schmunzelte und sagte nichts.
„Was ist daran komisch?“
„Nichts. Es erscheint mir nur untypisch für dich. Anscheinend bist du mittlerweile recht selbstsicher geworden. Und du trägst Anyas Eskapaden mit Fassung. Als ich dich traf, warst du unsteter. Und unglücklicher. Vielleicht war es gut, dass du eine Weile Abstand von mir hattest. Dich auf eigene Füße gestellt hast.“
Vielleicht hatte er Recht damit. Warum sträubte sich dann alles in Valion dagegen?
„Nein, war es nicht“, widersprach er. „Ich hätte darauf verzichten können! Ich-“
Er verstummte, weil er sich, ganz unvermittelt, in Rage geredet hätte. Da war er wieder, dieser Stachel, der immer noch tief im Fleisch steckte. Da war das Gefühl des Verrats, und des Verlassenseins. Es war zu schwer gewesen, mit diesen Gefühlen umzugehen. Also hatte er sich von Tarn ferngehalten und vermieden, darüber nachzudenken. Bis heute.
Er atmete tief durch, begann von Neuem.
„Weißt du, wie ich aufgewacht bin, nach meinem Fluchtversuch? Nachdem alles vorbei war? Im Dunkeln, angekettet, ohne jemand, den ich kannte. Es gab niemand, der mir sagen konnte, was passiert war. Mit Jan, mit mir. Wie es weitergehen würde. Ich musste selbst sehen, wie ich zurechtkomme. Nenn es, wie du willst, Abstand, was auch immer. Ich hätte darauf verzichten können. Wenn du mich schon belogen hast, hättest du mir wenigstens später die Wahrheit sagen können. Du hättest da sein können.“
Er sah zu Tarn auf, der auf den Fluss hinaus blickte. Er wandte sich Valion zu, erwiderte seinen Blick, aber sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte. Er nickte nur, zum Zeichen, dass er zuhörte, und dass Valion weitersprechen sollte.
„Aber ich habe auch gesagt, dass ich dir vertrauen will. Und ich verstehe immer noch nicht alles, und ohne Hilfe werde ich das wohl auch nie“, fuhr er fort. „Du hast gesagt, egal wie ich entscheide, du wirst es mir nicht nachtragen. Aber ich weiß nicht mal, wie ich mich entscheiden soll. Ich weiß überhaupt nichts. Deshalb bin ich wohl hier.“
Tarn nickte. „Wie kann ich dir dabei helfen?“
Valion schwieg einen Moment, sammelte seine Gedanken. „Ich muss über etwas die Wahrheit erfahren“, sagte er ernst. „Ich habe Fragen, und ich brauche Antworten. Ehrliche Antworten.“
„Ich werde versuchen, sie dir zu geben“, sagte Tarn, aber jetzt war er angespannt. Er griff nach einem flachen Stein, begann ihn in der Hand zu drehen. Was erwartete er? Valion wusste es nicht, aber er würde nicht locker lassen.
„Die Rebellen ...“, begann er, und Tarn zuckte zusammen, hob die Hand. Seine Augen huschten reflexhaft hin und her, als vergewissere er sich, dass sie wirklich allein waren. Erst dann nickte er Valion zu, zum Zeichen, dass er sprechen konnte.
„Sie haben mich kontaktiert, vor einer Weile schon. Und sie haben mich vor dir gewarnt. Mir sogar geraten, dich zu ignorieren. Sie meinen, dass du nicht mehr auf ihrer Seite bist. Aber ich verstehe nicht, wieso. Was hast du getan?“
Tarn atmete seufzend aus, und das Unbehagen war deutlich in seinem Gesicht abzulesen.
„Das ist nicht ganz einfach erklärt.“
Valion zuckte mit den Schultern. „Ich habe Zeit.“
Tarn überlegte eine Weile. Der Stein drehte sich in seiner Hand, Runde um Runde. Schließlich begann er, leise und zaghaft, zu sprechen:
„Ich bin ... schon sehr lange in Eraviers Dienst. Länger, als ich der Rebellion geholfen habe, sogar viel länger. Ich ging nicht zur Rebellion, um gegen ihn zu arbeiten, ich wollte lediglich etwas Gutes tun. Aber recht bald verlangten sie von mir, dass ich mich entscheide. Dass ich meine Loyalität unter Beweis stelle, indem ich Eravier hintergehe. Ich verstand die Notwendigkeit nicht, und ich wehrte mich dagegen.
Ich weiß, was du jetzt denkst. Du fragst dich, warum ich ihn verteidigen sollte. Warum ich es immer noch tue. Aber damals war er ganz anders, als er jetzt ist. Und ich wollte unsere gute Beziehung nicht aufs Spiel setzen.“
Valion nickte. Etwas in der Art hatte er erwartet. Das erklärte nur zu gut, warum Tarn eine Sonderstellung zukam. Selbst ein Monster wie Eravier hatte also Vertraute. Oder hatte sie zumindest einmal gehabt.
„Ihr wart Freunde?“, fragte er. Ein undeutbarer Ausdruck huschte über Tarns Gesicht. Aber dann nickte er, mit einem traurigen Lächeln.
„Sehr gute. Vielleicht war ich naiv, aber ich wollte ihn beschützen, um jeden Preis. Ich weigerte mich, ihn ans Messer zu liefern, selbst wenn ich ihm über die Jahre wohl trotzdem beträchtlich geschadet habe. Aber das war nicht genug. Es ging bergab mit dem gegenseitigen Vertrauen zwischen der Rebellion und mir, und über die Jahre wurde es schlimmer.
Ich weiß nicht warum, aber all die Jahre haben sie mich nie ganz aufgegeben. Und sie zogen mich dazu, als es um dich ging, vermutlich, weil sie wussten, wie nützlich ich dir sein kann.
Aber dann, in dem Moment, in dem du geflohen bist, habe ich einen entscheidenden Fehler gemacht.“
Valions Herz schlug schneller. Jetzt waren sie der Wahrheit nahe; dem Moment, der ihn schon so lange verfolgte.
„Du hast uns abgehalten, zu fliehen?“, fragte er, und erwartete, dass Tarn nicken würde. Es eingestehen.
Stattdessen schüttelte er langsam den Kopf.
„Nein. Ich habe es euch ermöglicht. So lange ich konnte, bis Fourmi mich im Auftrag der Rebellion aufspürte und mich dazu zwang, euch zurückzubringen. Ich hätte sonst mit meinem Leben bezahlt.“
Ein Stück von Valions Weltbild brach für ihn zusammen. Er hatte die ganze Zeit die Schuld bei der völlig falschen Person gesucht. Tarn hatte ihm helfen wollen, die ganze Zeit über. Die Rebellion selbst hatte ihn verraten. Hatte Jan verraten. Hatte Tarn dazu gezwungen, ihn zu hintergehen.
„Warum?“, fragte er tonlos, „Warum verdammt noch mal wollten sie mich unbedingt hier haben?“
Tarn seufzte erneut. Er warf den Stein, den er in der Hand gedreht hatte, schwungvoll Richtung Fluss, und er sprang zweimal von der Wasseroberfläche auf, bevor er versank.
„Soweit ich es sagen kann, wollten sie niemals dich persönlich hier haben. Es war nicht geplant, dass du Eravier auffällst, dass er ausgerechnet dich aussucht. Jemand anderes sollte an deiner Stelle seine Aufmerksamkeit erregen und mit ihm kommen. Jemand, der ihn davon ablenken würde, dass er Spione in den eigenen Reihen hat, und dass ein Angriff auf ihn geplant ist.
Ich hätte dir davon erzählt, aber ich wurde überstimmt. Man kam überein, dass du sicherer wärst, wenn du nicht Bescheid wüsstest. Dass das ein Trugschluss war, haben sie ja am eigenen Leib erfahren. Unwissentlich hast du aufgedeckt, dass du unter dem Schutz der Rebellion stehst, und dass sie Eravier unterwandert haben.
Ich war der Überzeugung, dass es von diesem Moment an kein Zurück mehr gab; dass Eravier zu misstrauisch sein würde, um dich noch bei sich zu behalten. Deshalb glaubte ich, die Flucht wäre das Einzige, was dir bliebe. Die Rebellion war anderer Ansicht.“
Valion schwieg, starrte hinaus auf die glitzernden Reflexionen des Wassers und schlang die Arme um die Knie. Plötzlich war ihm kalt, selbst im Sonnenschein. Er war ausgespielt worden, von Anfang an. Und jetzt brauchten sie ihn, und fütterten ihm nur die nötigsten Informationen. Hielten ihn von Tarn fern, weil sie ihn nicht kontrollieren konnten; weil er seinem Gewissen folgte statt nur einem Plan. Schoben Jan und ihn herum wie eine Spielfigur, um zu sehen, wo sie den meisten Nutzen brachten. Und wenn sie Tarn mit dem Leben bedroht hatten, was beinhaltete dann ihr „Abkommen“ mit Anya? Oder mit Jan?
Nicht zu sterben?
„Haben sie dir gesagt, dass du dich von mir fernhalten sollst?“, fragte Valion. Tarn nickte. „Also war es nicht deine Schuld. Dass ich von Jan getrennt wurde. Dass du mich allein gelassen hast. Dass ich immer noch hier bin.“
Doch zu seiner Überraschung widersprach Tarn ihm. „So gern ich das sagen würde, das wäre zu einfach. Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, obwohl ich wusste, welche Rolle du zu spielen hast. Ich hätte dir von Anfang an nichts vorenthalten sollen. Und auch wenn Fourmi mir gedroht hat: Ich hätte mich eher mit dir aussprechen können.
Letztendlich haben wir wohl alle Fehler gemacht. Die Rebellen sind nicht grundschlecht. Sie haben getan, was sie konnten, um dich zu schützen. Und sie hatten recht, was Eravier betraf: Du bist hier sicherer, als du es auf der Flucht vor ihm gewesen wärst. Ich wünschte, ihre Methoden wären weniger radikal, aber sie haben dich und Jan gerettet.“
Valion glaubte nicht, was er da hörte. „Warum verteidigst du sie noch?!“, spie er, „Sie wollten dich töten! Sie sind so skrupellos wie Eravier!“
„Weil ich ihnen dafür zu ähnlich bin. Ich habe Fourmi den Arm gebrochen, als er mich angriff; das hätte ich nicht tun müssen. Ich hätte selbst fliehen können, statt meine Sicherheit gegen deine einzutauschen. Und ich habe in Erwägung gezogen, Jan zu erschießen, um dich zu retten. Ich wäre nicht stolz darauf gewesen, aber ich hätte es getan.“
Tarn hatte die Worte sehr ruhig ausgesprochen, sehr beherrscht. Und als Valion sich ihm zuwandte, in seinem Gesicht forschte, lag dieselbe Ruhe in seinem Blick. Aber darunter lauerte etwas, das Valion schon lange gesehen hatte, wenn auch nie so deutlich. Bitterkeit. Bedauern. Eine Traurigkeit, die in jeder Faser seines Wesens zu stecken schien. Eine Andeutung von Finsternis, die alles durchdrang.
Er ist kein guter Mensch, Val. Ich weiß nicht warum, aber an seinen Händen klebt Blut. Ich sehe es. Was das angeht, ist er nicht besser als Eravier.
Jan hatte nicht gelogen, und Valion hatte ihm im tiefsten Inneren geglaubt. Er wusste, dass Tarn die Wahrheit sagte; er wäre dazu imstande gewesen, Jan zu töten. Genauso wie Jan Marceus im Wald getötet hätte, wenn es notwendig gewesen wäre.
Deshalb wusste er auch, was kommen würde, bevor Tarn weitersprach. Weil er und Jan sich in manchen Dingen erschreckend glichen. Weil sie lieber eine Mauer um sich aufbauten, als andere an sich heranzulassen.
Ich weiß nicht einmal, warum du nicht aufspringst und abhaust. Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass du es tust. Ich würde es an deiner Stelle tun.
„Ich kann verstehen, wenn du diese Unterhaltung nicht fortführen möchtest“, sagte Tarn. „Denn mittlerweile dürftest du genug wissen, um eine Entscheidung getroffen zu haben.“
Wie sehr sich diese Gespräche glichen. Valion wünschte, Tarn hätte es gewusst. Vielleicht hätte er ihn nicht instinktiv zurückgestoßen, diese Distanz zwischen ihnen aufgebaut. Was er nicht wissen konnte war, dass Valion diese Entscheidung schon einmal getroffen hatte, und dass sie gültig blieb. Wie hätte Valion dem einen vergeben können, und dem anderen nicht? Wie hätte er Jans Taten akzeptieren können, und Tarn von sich weisen? Dazu waren sie sich zu ähnlich.
„Ja, habe ich. Und ich habe mich entschieden, dir weiter zu vertrauen.“ Er hielt Tarns überraschtem Blick stand. „Ich wollte die Wahrheit hören. Jetzt kenne ich sie. Was ich damit anfange, ist meine Sache.“
„Aber-“
„Vielleicht hättest du Jan erschossen, vielleicht auch nicht. Aber es ist nicht passiert. Er lebt. Was mich betrifft, ist das das Einzige, was zählt.“
Tarn öffnete den Mund, wollte widersprechen. Doch dann besann er sich eines Besseren.
„Vermutlich schon“, sagte er stattdessen. Ein schmales Lächeln erschien auf seinem Gesicht, aber es war zweifelnd. „Du bist vertrauensseliger, als gut für dich ist. Ich will nicht sagen, dass das nicht auch etwas Gutes sein kann, aber-“
„Ich weiß gar nicht, wie oft ich das schon gehört habe“, unterbrach Valion ihn. „Aber das ist auch meine Sache.“
Valion lächelte, und es fühlte sich anders an als sonst. Er selbst fühlte sich anders. Gefasster. Ein Stück erwachsener als zuvor. Er konnte für sich selbst entscheiden, selbst bestimmen, wie es weitergehen würde. Und mehr als alles andere war er froh, dass er sich mit Tarn ausgesprochen hatte. Etwas von dieser Erleichterung sah er auch in Tarns Gesicht. Noch zweifelte er vielleicht an Valions Vertrauen, aber das hatte Zeit.
„Gut, dann lassen wir das hinter uns“, sagte Tarn. „Beginnen wir von Neuen. Nachdem du nun die Wahrheit kennst, was hast du vor?“
„Das, was ich schon vorher vorhatte: Ich will mit den Rebellen reden. Ich will ihre Seite der Geschichte hören. Du sagst, sie sind nicht ganz schlecht. Vielleicht werden wir uns einig.“
„Ein guter Plan. Aber sie werden vermutlich nicht besonders erfreut darüber sein, dass du mich ins Vertrauen gezogen hast.“
Valion zuckte mit den Achseln. „Damit müssen sie zurechtkommen, wenn sie wollen, dass ich ihnen helfe.“
Tarn schmunzelte. „Eigne dir nur nicht zu viel von Anyas Übermut an. Du kannst viel von ihr lernen, aber nicht alles.“
Eine Idee entstand in Valions Kopf. Ein Weg, wie er die Rebellion vielleicht sogar wieder auf Tarns Seite bringen konnte. Oder zumindest eine Allianz schaffen, solange es nötig war.
„Ich weiß“, sagte er, „Deshalb brauche ich deine Hilfe.“
Das überraschte Tarn sichtlich. „Und wobei?“
„Ich muss lernen, mich zu verteidigen. Wenn ich das nächste Mal ein Messer in der Hand habe, will ich nicht noch jemand aus Versehen verletzen. Ich will kämpfen können, wenn es sein muss, statt nur wegzulaufen. Anya kann mir dabei nicht weiterhelfen.“
Tarn sah nachdenklich aus, aber er nickte. „Eigentlich keine schlechte Idee. Selbst wenn dir im entscheidenden Moment keine Waffe in die Hände fällt, könntest du dich vermutlich besser gegen einen bewaffneten Angreifer verteidigen. Aber dir ist klar, dass wir damit ein großes Risiko eingehen? Du darfst nicht mit einer Waffe gesehen werden, und Eravier darf nie erfahren, dass du dich so zur Wehr setzen kannst. Er hält dich immer noch für harmlos. Wüsste er, dass du ihm gefährlich werden könntest, würdest du bis zur Hauptstadt keinen Finger mehr rühren können.“
Etwas kränkte Valion an der Vorstellung, dass Eravier ihn für ungefährlich hielt. Das war absurd, weil es ihm eigentlich zu Pass kam, aber vermutlich hatte Eravier nicht einmal unrecht. Valion hatte in letzter Zeit mitgespielt, sich wenig gewehrt. Es wurde Zeit, dass sich das änderte; nicht so, wie Jan es angegangen war, mit einem frontalen Angriff. Und auch nicht so, wie Anya vorging, mit zähneknirschender Zusammenarbeit. Sondern mit heimlichem Widerstand.
„Ich werde vorsichtig sein“, versprach Valion. „Heißt das, wir haben eine Abmachung?“
Er hob die Hand, hielt sie Tarn entgegen. Aber Tarn antwortete eine Weile nicht, sah ihn nur an.
Womöglich durchschaute er Valions Plan. Vielleicht war er sich nicht sicher, worauf er sich einließ. Oder er versuchte immer noch, Distanz zu halten; keine Freundschaft zuzulassen, egal, wie zaghaft sie war.
Sklaven sind Tabu.
Hatte Jefrem ihm das ebenso eingeschärft wie Marceus? Wahrscheinlich. Das wäre seine Art gewesen. Aber Tarn unterschied sich von den anderen Knechten. Valion hätte nicht den Finger darauf legen können, wieso. Aber er war anders, und deshalb brauchte Valion seine Unterstützung besonders.
Schließlich ergriff Tarn Valions Hand. Valion hatte erwartet, dass er kräftig zupacken würde; ein Handschlag unter Männern, so wie er ihn Marceus gegeben hatte. Stattdessen ergriff er sie sanft. Sie trafen eine Abmachung, aber es war eine andere, als Valion gedacht hatte. Vielleicht das Versprechen, das Tarn ihm gegeben hatte, als sie sich kennengelernt hatten.
Keine Sorge, ich habe ein Auge auf dich.
Dann zog Tarn seine Hand zurück und erhob sich.
„Ich fürchte, wir müssen zurückgehen“, sagte er. „Ich bin nicht sicher, ob man uns vermisst hat, aber wir sollten kein Risiko eingehen.“ Valion nickte und stand selbst auf, streckte sich. Sie hatten lange gesessen, und sein Hintern war mittlerweile kalt und sehr sandig.
„Das mache ich auch nicht noch mal“, murrte er, während er die gefühlte Hälfte der Bucht von seiner Kehrseite und der Rückseite seiner Oberschenkel abbürstete. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Tarn grinste, bevor er sich abwandte und flussaufwärts blickte.
In diesem Moment sah Valion zum zweiten Mal die schwarzen Schemen auf seinem Rücken.
„Tarn?“
„Ja?“, antwortete er und wandte sich zu Valion um. Im selben Moment wurde Valion klar, dass Tarn sein Hemd vielleicht nicht grundlos anbehalten hatte. Vielleicht wollte er keine Erklärung abgeben, oder dass jemand einen Blick darauf warf.
„Ist nicht so wichtig“, murmelte er, aber Tarn schien erraten zu haben, was ihn beschäftigte.
„Ah. Ich dachte mir schon, dass dir das aufgefallen sein muss.“ Er griff, ohne zu zögern, nach dem Saum seines Hemdes.
„Tut mir leid, du musst es mir nicht zeigen, ich war nur neugierig, aber-“, sagte Valion hastig, aber Tarn zuckte nur mit den Schultern.
„Schon gut. Es ist kein Geheimnis. Im Gegenteil: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass du etwas Ähnliches erhältst. Deine Brandmarkung heilt, aber sie ist nicht wirklich deutlich. Vielleicht wird Eravier das korrigieren lassen.“
Tarn zog sich das Unterhemd über den Kopf und legte es sorgsam ausgebreitet auf den Boden. Valion konnte den Blick nicht abwenden. Er wusste nicht, was er in diesem Moment fühlen sollte. Tarn war dünn, viel zu dünn. Er war schlank gewesen, als Valion ihn das erste Mal getroffen hatte. Jetzt waren seine Rippenbögen sichtbar, und die Kanten seiner Hüftknochen ragten deutlich hervor. Er sah abgemagert aus, und blass. Valion sorgte sich um ihn, und das passte überhaupt nicht zu seinen Gefühlen der Bewunderung.
Tarn war attraktiv, das konnte man nicht leugnen. Seine Schultern waren breit, aber er war nicht so muskulös wie Mischa, nicht einmal wie Marceus. Er wirkte sehniger, eher beweglich, gewandt. Dunkles, aber glattes Haar zog sich über seinen Bauch, seine Brust hinauf, bis knapp unter die Schlüsselbeine. Seine Haut war selbst jetzt eine Spur dunkler als Valions. Einige verheilte Narben darauf zeigten, dass er schon öfter in Kämpfe geraten sein musste. Auf Höhe des Bauchnabels sah Valion einen großen Bluterguss, der fast verblasst war.
Das alles erfasste Valion in den Sekundenbruchteilen, bevor er sich umdrehte und Valion seinen Rücken zeigte. Doch auch hier war das Erste, was Valion ins Auge fiel, die hervorstehenden Schulter- und Brustwirbel und die spitzen Kanten der Schulterblätter. Er musste sich zwingen, sie auszublenden und sich auf die Tätowierungen zu konzentrieren. Das war es, was Tarn ihm zeigen wollte.
Eraviers Brandzeichen stach deutlich hervor, und Valion erkannte erstaunt, dass es nicht nur eingebrannt war: Die Umrisse waren auch in Tarns Haut tätowiert, umgeben von unendlich vielen verworrenen Zierelementen. Linien, Punkte, Spiralen. Sie schienen sich quer über seinen Rücken aufzubäumen wie eine Welle. Valion glaubte, die Silhouetten von Pferden darin erkennen zu können. Aber sie verschwammen immer wieder vor seinen Augen, wenn er sich auf ein einzelnes fokussieren wollte; das Gewirr war einfach zu abstrakt.
Valion erhob sich, trat näher heran, um die Muster zu studieren, und hielt plötzlich inne. Ihm war etwas ins Auge gefallen, dass sich direkt unter den schwarzen Linien verbarg. Die Tätowierung hob Eraviers Brandzeichen hervor, aber sie verbarg auch etwas anderes, das nur von Nahem sichtbar war: die narbigen, groben, wie hinein gefetzten Umrisse eines anderen Buchstabens. Ohne nachzudenken hob Valion die Hand, fuhr sie mit dem Finger nach.
K.
Karvash. Valion war sich seltsam sicher, und verstand doch nicht, welche Schlüsse er daraus ziehen sollte. Tarn war Sklave unter jemand anderem gewesen, bevor er zu Eraviers Besitz geworden war. Eravier hatte versucht, die Spuren dieser Vergangenheit zu tilgen. Warum?
Ich wollte ihn beschützen. Um jeden Preis.
Im selben Moment wandte sich Tarn um, ergriff seine Hand und hielt sie fest. Nicht grob, aber unnachgiebig.
„Nicht“, sagte er schlicht. Valion blickte zu ihm auf, und einen Moment lang sahen sie sich direkt in die Augen. Tarns Augen waren braun, und sie blickten seltsam traurig. Woran erinnerte ihn das? Er hatte irgendetwas vergessen, etwas Wichtiges. Eine Erinnerung, derer er nicht mehr habhaft werden konnte.
Er wollte sich entschuldigen, aber Tarn lächelte nur. „Schon gut.“ Er ließ ihn los, bückte sich nach seinem Hemd und zog es sich wieder an. „Wollen wir gehen?“, fragte er, und Valion nickte.
Seltsamerweise schien es ihm, dass er einen wichtigen Moment hatte vorbei ziehen lassen.