Nach Jans Geständnis fand Valion keine Ruhe. Er lag flach auf dem Boden, fühlte den groben Holzboden des Wagens unter sich und die scheuernde, eiserne Fessel um seine Hand und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Zum ersten Mal seit er Jan kennen gelernt hatte fühlte er sich wieder einsam und seltsam abgelöst von der Realität.
Jans Anwesenheit war ein Trost für ihn gewesen. Es war eine Ablenkung von dem, was ihn erwartete und eine Erinnerung daran, was er zurück gelassen hatte. Sie hatten sich gegenseitig von ihren Familien und Freunden erzählt und sich dadurch näher bei ihnen gefühlt. Doch die Wahrheit war, dass sie sich stattdessen mit jedem Tag weiter von ihnen entfernten und völlig machtlos dagegen waren.
Er war hilflos, in jeder Hinsicht. Hätte er die Chance gehabt, wäre Valion in diesem Moment weggelaufen. Das Gefühl, nicht an diesen Ort zu gehören und die Angst, niemals nach Hause zurück zu kehren, waren übermächtig. Er stellte sich vor, wie er ein Pferd stahl und sich irgendwo versteckte, vielleicht als Knecht bei einem Bauern, bis niemand mehr nach ihm suchte und er heimkehren konnte. Er wollte sich in dieser Vorstellung verlieren und alles um sich herum vergessen, aber er konnte es nicht. Es gab kein Entkommen, und seltsamerweise war die Verantwortung eine stärkere und schwerere Fessel als die Handschellen aus Eisen. Wenn er geflohen wäre, dann wäre Eravier verrückt genug gewesen seine ganze Familie dafür büßen zu lassen. Je länger er darüber nachdachte, desto lebhafter und schrecklicher wurde seine Vorstellung davon, was er ihnen antun konnte, und umso weiter rückten seine Fluchtpläne in die Ferne.
Gleichzeitig war er nicht bereit, aufzugeben. Vielleicht sah er jetzt noch keinen Weg zu entkommen, aber er würde nicht immer angekettet in einem Wagen liegen, abgeschnitten von Hilfe und ohne eine Ahnung, wo er sich befand. Tief in seinem Inneren war er sich sicher, dass der Moment kommen würde, an dem sich ihm eine echte Chance offenbarte.
Aber wenn er schon nicht fliehen konnte, konnte er denn wenigstens Jan helfen? Er dachte darüber nach, ob er es irgendwie schaffen würde Tarn davon zu überzeugen, dass Jan bei ihnen bleiben musste, und wusste doch, dass das nicht möglich war. Er wusste nicht wie Jan aussah, aber seine Stimme klang mit jedem Tag kraftloser und erschöpfter. Niemand würde sich davon überzeugen lassen, dass er dabei war seine Krankheit zu überwinden. Wenn sich keine Besserung einstellte, waren Jans Tage als Sklave vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hatten, und er hatte keine Chance, den Hof seiner Familie zu retten.
Gleichzeitig war es für Valion unbegreiflich, dass Jan sich zu diesem Schritt entschlossen hatte. Er hatte sich freiwillig entschieden Sklave zu werden, aber wusste er, was ihn erwartete? Valion hatte keine Vorstellung davon, und er schaffte es nicht einmal, sich selbst zu zwingen darüber nachzudenken, geschweige denn mit jemand darüber zu sprechen. Er wusste, dass er einer der Sklaven war, die für sexuelle Dienste gekauft wurden, aber abseits davon ließ ihn jegliche Vorstellungskraft im Stich. Jan auf der anderen Seite hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass er Erfahrungen mit Mädchen hatte, und Valion wünschte sich nichts mehr, als an seinen Erfahrungen teilzuhaben. Vielleicht war das ein egoistisches Gefühl, aber er wollte, dass Jan bei ihm blieb, mit ihm redete, ihn mit seinen Scherzen aufheiterte.
Er hätte gern mit Jan darüber gesprochen. Nicht nur das oberflächliche Geplauder, mit dem sie sich die Zeit vertrieben und sich gegenseitig ablenkten, sondern ein ernsthaftes Gespräch darüber, was er dachte und ob er eine Möglichkeit sah, dass sie zusammen blieben. Aber Jan schien zu schlafen, schon seit einer ganzen Weile. Manchmal hustete er leise im Schlaf, aber die schweren Anfälle blieben diesmal aus. Valion wagte zu hoffen, dass Tarn Recht behielt und Jan wirklich auf dem Weg der Besserung war. Vielleicht handelte es sich nur um ein letztes Aufflackern der Krankheit, und der Schlaf würde ihn heilen?
So lag Valion eine lange Zeit da und dachte nach, bis die Wagenkolonne auf einmal hielt. Irritiert setzte er sich auf und versuchte die Zeit einzuschätzen – wenn er sich nicht völlig täuschte würde es bis zum Sonnenuntergang noch eine Weile dauern. Warum hielten sie diesmal so früh? War das schon der geplante Ort, an dem sie ihr nächstes Lager aufschlagen wollten? Er wollte mit Jan darüber sprechen, dann fiel ihm ein, dass er schlief und beschloss, ihn jetzt nicht zu wecken. Stattdessen lauschte er noch aufmerksamer als sonst auf die Schritte rings um die Wagen, das Stampfen der Pferde und die anderen Geräusche der Diener und Wächter. Doch alle schienen ihrer normalen Arbeit nachzugehen.
Dann fiel ihm ein, dass Tarn ihm versprochen hatte, heute wiederzukommen und ihn aus dem Wagen herauszuholen. Von einem Moment auf den anderen war Valions trübsinnige Stimmung wie weggeblasen und wurde von Aufregung ersetzt. Er hatte keine Ahnung, was Tarn vorhatte, aber alles war besser, als tatenlos hier herum zu sitzen. Im Grunde war es sogar gut, dass Jan schlief, er würde sonst wohl für den Rest des Tages allein bleiben und sich langweilen, wenn Valion nach draußen ging. Sollte er schlafen und sich ausruhen, flüsterte ein kleiner und gemeiner Teil in ihm, dann konnte er auch nicht stören.
Endlich, nach endlosem nervösen Warten, näherten sich Schritte und Tarn betrat mit einem Wächter im Schlepptau den Wagen. Valion sprang sofort auf und streckte dem Wächter ungeduldig die Hand entgegen, ohne ihn auch nur anzusehen. Er wollte nur noch nach draußen. Der Wächter runzelte die Stirn und schnaubte ungehalten: „Nicht so schnell, Bürschchen“, aber Tarn warf ihm einen warnenden Blick zu. Für einen Moment schien es, als wolle der Wächter darauf beharren Valion nicht zu befreien, doch dann gab er nach und schloss die Handschelle mit einem verächtlichen Blick auf. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, Valion einen groben Stoß in den Rücken zu versetzen, der ihn Richtung Ausgang stolpern ließ. Doch im gleichen Moment fühlte Valion Tarns stützende Hand auf der Schulter, die ihn festhielt und sanft weiter nach draußen führte.
Obwohl es später Nachmittag war musste Valion seine Augen abschirmen, als er ins Licht trat. Er wäre fast gestrauchelt, so desorientiert war er, und ihn beunruhigte das Wissen, dass nur zwei Tage in der Halbdunkelheit des Wagens einen solchen Einfluss auf ihn hatten. Doch Tarn verstärkte den Griff um seine Schulter und hielt ihn fest, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnten. Erst jetzt hatte er Gelegenheit, die Umgebung zu betrachten.
Vielleicht war es seiner langen Isolation im kargen Inneren des Wagens geschuldet, aber im ersten Moment war er von der Schönheit der Landschaft überwältigt. Vor ihm erstreckten sich, nur durchbrochen von der breiten, staubigen Landstraße, weite, satt grüne Wiesen, die vom Wind der Ebene in wogende Bewegung versetzt wurden. In der Nähe wurde die Szenerie von einem kleinen Wäldchen aufgelockert, hinter dem er eine gemächlich grasende Schafherde ausmachte. In weiter Ferne, dort wo die Hügel sich zu einem breiten Tal absenkten, sah er einen gewundenen Fluss, der im Schein der Nachmittagssonne funkelte. Eine sanfte Brise streichelte Valions Wangen und trug den Geruch von Gras und Sonnenschein zu ihm, und für einen Moment schloss er die Augen und atmete nur tief ein.
Er hätte endlos so dastehen können, aber natürlich war er nicht allein, und er ließ Tarn warten. Schnell öffnete er die Augen wieder und murmelte hastig: „Tut mir leid, ich wollte nur-“ „Schon gut.“ Tarn lächelte, aber er sah auch besorgt aus und griff nach Valions Arm, der jetzt im Sonnenlicht deutliche Spuren der Fesseln zeigte. Die Haut war gerötet und abgeschürft. „Darum sollten wir uns kümmern“, sagte Tarn, aber Valion schüttelte nur ungeduldig den Kopf. Nicht jetzt. Was auch immer sie vorhatten, er wollte gleich damit anfangen. „Können wir gehen?“, fragte er leise. Tarn zögerte, doch dann nickte er und gab die Richtung vor.
Der Zug der Wagen war zu einem großen Halbkreis aufgestellt. Im Schutz dieses Halbkreises herrschte der meiste Betrieb, Feuer wurden entzündet, Lampen bereitgestellt, und der Duft von Speisen und Kräutern wehte herüber. Valion hatte angenommen, dass sie in das Innere dieses Halbkreises vordringen würde, doch stattdessen entfernten sie sich davon. Er erhaschte nur einen kurzen Blick auf das geschäftige Treiben, dann verschwand alles aus seiner Sicht.
Sie überquerten eine der grünen Weiden und gingen geradewegs auf die Gruppe Zugpferde zu, die inzwischen abgespannt worden war.
Die Tiere wurden gerade trocken geführt, wie Valion erkannte. Es waren Kaltblüter, robust, gesund und mit gut gepflegtem Fell. Die Wiese, auf die sie geführt worden waren, war von dichtem weichen Gras bewachsen und wurden auf einer Seite von dem kleinen Waldstück begrenzt, dass er schon zuvor bemerkt hatte. Es bestand aus einer Reihe großer, alter Bäume und war unregelmäßig mit dichtem Gebüsch durchsetzt. Die Knechte nutzten den Schatten, um ihre Vorbereitungen zu treffen. Um die Pferde nach ihrer Abkühlung zu versorgen legten sie Striegel, Bürsten und Decken bereit.
Doch auch die Pferde selbst waren zunächst nicht ihr Ziel, sondern ein vierschrötiger Mann, um den sich der ganze Trubel konzentrierte. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, hatte schütteres Haar, das grau oder auch braun sein konnte, ein vom Wetter gegerbtes Gesicht und ziemlich speckige Kleidung. Gelassen stand er im Schatten des größten Baumes wie ein General vor seiner Truppe und rief den Knechten immer wieder Anweisungen und Ermahnungen zu. Als er Tarn sah, grinste er zufrieden und rief: „Ah, der rechte Mann zur rechten Zeit! Ich will, dass du dir das Hinterbein von dem Dicken da hinten ansiehst!“ Er deutete auf einen großen, schwarzen Hengst, dessen Stirn und Flanken mit weißen Fellzeichnungen übersät waren, die ihn aussehen ließen, als hätte ihn jemand mit Mehl bestäubt. „Mati hat schon wieder einen unsicheren Tritt?“, fragte Tarn, und der Mann nickte bestätigend. „Ich weiß nicht, was das mit ihm noch werden soll! So ein robuster Gaul, er hat heute wieder den schwersten Wagen fast allein gezogen und keinen Mucks gemacht. Aber gleich als wir ihn auf die Weide führten hatte er wieder dieses Humpeln. Ich mache mir Sorgen, wie das weitergehen soll. Du hast wirklich nichts gefunden beim letzten Mal?“ „Nein, es gab keine Wärme und keine Schwellungen.“ „Na, wir werden das beobachten. Du schaust ihn dir erst einmal an. Wir spannen ihn morgen vor einen leichteren Wagen, da kann er sich etwas ausruhen, vielleicht hat es sich damit schon erledigt. So, wen bringst du mir hier eigentlich mit, Tarn?“, fragte der Mann und nickte Valion zu. Der hatte gar nicht damit gerechnet angesprochen zu werden und zuckte scheu zusammen. Er hatte den Ausführungen der beiden Männer gelauscht und eigentlich angenommen, dass sein Freigang bedeutete, dass er Tarn bei seiner Arbeit mit den Pferden beobachten durfte. Dass er zu einem bestimmten Zweck hier war, hatte er bisher nicht erwartet.
„Das ist Valion, unser Neuzugang“, stellte Tarn ihn vor, „Und Valion, das ist Jefrem. Er ist für die Pferde verantwortlich.“ „Ganz richtig, das ist meine Aufgabe, seit über zehn Jahren!“, bestätigte Jefrem stolz. „Alles hier hört auf mein Kommando, selbst die sturen Maulesel da drüben!“ Er wies mit einem gehässigen Grinsen auf die Knechte. „Also, was soll das junge Gemüse hier? Er wurde mir ja wohl kaum als neue Hand angeschafft, oder?“ „Nein, eigentlich wollte ich ihn nur für eine Weile aus dem Pestwagen herausholen“, erklärte Tarn, „Und Joshanna sollte doch eigentlich ausgeruht genug sein, um einen kurzen Ausritt zu wagen.“
Jefrem runzelte die Stirn, er schien damit überhaupt nicht einverstanden zu sein. „Das hier ist kein Zirkus und keine Mietstation, das sollte dir wohl klar sein“, brummte er, „Das kostet dich einen Gefallen!“ Tarn antwortete unbeeindruckt: „Von denen sollte ich inzwischen eine ganze Menge haben, oder?“ „Aber wir kommen ganz mit dem Zeitplan durcheinander! Du weißt, dass wir morgen noch eine Etappe vor uns haben, bevor wir das Lager aufschlagen!“, protestierte Jefrem weiter. „Ich... ich könnte auch aushelfen!“, warf Valion ein.
Er hatte sich erst gar nicht einmischen wollen, aber die Aussicht, auch nur ein paar Minuten auf einem Pferd zu sitzen und in Ruhe die letzten Sonnenstrahlen zu genießen stachelten ihn an. „Nicht, Valion“, mahnte Tarn, aber Jefrem hob die Hand. „Moment, Moment, ich habe mich wohl verhört? Du Lümmel weißt, wie man mit Pferden umgeht?“
Eigentlich nur ein bisschen, hätte Valion am liebsten gesagt, aber tapfer erwiderte er stattdessen: „Ja.“ Jefrem betrachtete ihn nachdenklich mit schräg gelegtem Kopf. „Hm hm, hab mir schon gedacht, dass du kein fauler Aristokrat sein kannst. Könnte ja gut sein, dass du tatsächlich schon einmal ein Pferd versorgt hast.“ Tarn wollte etwas sagen, aber Jefrem brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und blieb auf Valion fixiert. „Na gut, dann sag’ mir mal, was ist denn jetzt mit den Pferden zu tun?“ Valion kramte verzweifelt in seinem Gedächtnis. „Nun, sie sind verschwitzt und staubig, man muss sie abreiben, striegeln... das Fell bürsten... die Hufe auskratzen und sehen, ob sie sich verletzt haben. Vielleicht haben sie geschwollene Beine, oder sich am Geschirr aufgerieben. Aber ich denke, das würde eher Tarn sich ansehen, oder?“ Das klang alles ziemlich vage, aber Valion hoffte, dass es reichte.
Jefrem nickte zumindest zustimmend und sagte: „Na, das war ja gar nicht so dumm. Pass auf Tarn, ich mache dir ein Angebot: Du schaust dir die Pferde an, während der Kleine hier ein bisschen mithilft, und danach gebe ich euch zwei Pferde und ihr könnt sie eine halbe Stunde mitnehmen.“ Tarn seufzte, dann sagte er: „Na gut, aber lass das Valion wenigstens nicht allein machen. Ich weiß doch, dass du irgendetwas vorhast.“ Jefrem zwinkerte grinsend und behauptete: „Wie könnte ich? Liegt mir völlig fern!“ Von seinen Gästen abgewandt brüllte er den Knechten zu: „Marceus! Sammle deinen Kram ein! Du hilfst heute unserem Gast Tjoma zu striegeln!“ Das Lachen der anderen Knechte sagte Valion alles, was er wissen musste.
„Tut mir Leid“, murmelte Valion bedrückt, als Tarn und er von einem Knecht weiter geführt wurden. Jefrem hatte sich mit dem Hinweis, dass er noch viel zu tun hatte, fürs Erste von ihnen verabschiedet. „Schon gut“, sagte Tarn und schmunzelte. „Er will dich ärgern, aber er würde dich auch niemals in Gefahr bringen. Hör zu, ich muss jetzt meinen Teil der Abmachung erfüllen. Wir sehen uns später wieder, wenn wir Glück haben und schnell arbeiten erwischen wir noch etwas Tageslicht.“ Damit schlängelte er sich zwischen den anderen Knechten hindurch und war gleich darauf aus Valions Blickfeld verschwunden.
Valion wurde weitergewunken, und wenige Momente später stand er vor einem riesigen Hengst, der ruhig dastand und träge mit dem Schweif Fliegen verscheuchte. Sein braunes Fell und die schönen, cremeweißen Beine waren wie erwartet voller Staub und Schweiß von der harten Arbeit des Tages.
Bevor Valion auch nur ein Wort wechseln konnte, war sein Führer schon wieder verschwunden, als hatte es sich vermutlich nicht um Marceus gehandelt. Wer auch immer das war, er ließ auf sich warten, also beschloss Valion, sich zumindest mit dem Pferd vertraut zu machen; das konnte schließlich nicht schaden. Bisher konnte er jedenfalls noch keinen Haken an seiner Aufgabe erkennen, denn Tjoma schien ein friedliches Gemüt zu haben. Valion näherte sich langsam an, blieb unsicher stehen, doch der Hengst überbrückte die Distanz bereitwillig und trat einen Schritt auf ihn zu. Schnaufend näherte er sich und beschnupperte Valions Hand, gleich darauf ließ er sich am Hals streicheln. Vorsichtig kraulte Valion ihn zwischen den Ohren, was ihm ebenfalls gut zu gefallen schien.
Doch dann, gerade als Valion dachte, dass er mit Tjoma überhaupt kein übles Pferd erwischt hatte, schob der Hengst seinen Kopf mit Nachdruck gegen seine Schulter. Valion verlor das Gleichgewicht und fiel mit Schwung und einem vermutlich sehr amüsanten Aufschrei rückwärts auf den Hintern.
Das Gelächter der Knechte um ihn herum machte ihm deutlich, dass sie genau das hatten sehen wollen. Beschämt rappelte er sich auf und wäre beinahe wieder umgestoßen worden. „Ich sehe, du hast schon bemerkt, warum man dir Tjoma zugeteilt hat.“ Valion wandte sich zu dem Knecht um, der ihn angesprochen hatte und lächelte kläglich. „Er hat mich ganz schön erschrocken“, gab er zu und brachte sich außer Reichweite des Hengstes. „Tjoma ist kein Biest, aber ziemlich verzogen“, erklärte der Knecht mit einem breiten Lächeln, trat auf den Hengst zu und streichelte seine mächtige Flanke. „Jemand hat ihm als Fohlen beigebracht, dass Menschen es mögen wenn man sie anstupst. Dummerweise weiß Tjoma nicht, dass er kein Fohlen mehr ist, sondern ein riesiges Pferd und inzwischen eine halbe Tonne wiegt!“ „Beißt er auch?“, wollte Valion vorsichtshalber wissen. „Nein, er wird dich nur anknabbern, wenn du ihn lässt. Wir haben schon alles versucht, ihn besser zu erziehen, aber das Meiste bekommt man einfach nicht aus ihm heraus, zumindest nicht in der kurzen Zeit. Dafür ist er ein sehr gutes Zugpferd. Ich bin übrigens Marceus. Komm, ich helfe dir, wir werden Tjoma, den furchtbaren Schubser, schon bezwingen.“
Gemeinsam machten sie sich daran, den Kopf des Hengstes auf Abstand zu halten, während der jeweils andere ihn striegelte und bürstete. Dabei hatten sie Zeit genug, sich ein wenig zu unterhalten. „Jefrem meint es nicht böse, weißt du“, erklärte Marceus und brachte seinen Schopf rabenschwarzer Locken vor Tjoma in Sicherheit, der sich daran machen wollte ihn anzuknabbern. Marceus war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Valion, groß, schlank, mit hellbrauner Haut. Er wirkte nicht sonderlich stark, bis man sah, wie er Tjoma sanft, aber mit Kraft zurückdrängte, damit er nicht wieder einen von beiden umstieß. „Er macht sich nur gerne einen Spaß daraus, Tjoma dem zuzuteilen, der Mist gebaut oder mal verschlafen hat. Es dauert einfach doppelt so lange ihn zu versorgen, weil man immer aufpassen muss. Zum Glück ist er nur gemietet und nicht eins unserer Pferde, nächstes Mal werden wir ihn nicht wieder mitnehmen. Wie kommt es eigentlich, dass du hier bist? Tarn bringt sonst eigentlich niemand zu uns.“ Valion zuckte mit den Schultern, aber er konnte sich auch das Grinsen nicht verkneifen. Dass er aus dem Wagen heraus durfte war also ein Privileg, das Tarn irgendwie für ihn arrangiert hatte. Er wusste noch nicht, was er damit bezweckte und ob sie überhaupt noch dazu kommen würden sich zu unterhalten, aber allein dass er bei den Pferden und in Gesellschaft der Knechte sein konnte heiterte ihn auf, auch wenn letztere ihn ständig misstrauisch musterten.
Das alles konnte er kaum Marceus erklären, obwohl er ihn auf Anhieb sympathisch gefunden hatte, deshalb sagte er möglichst beiläufig: „Ich weiß nicht warum, aber vielleicht ist es besser für meine Schulter, nicht immer bewegungslos herum zu sitzen. Meine Brandmarkung ist nicht so gut verlaufen.“ Marceus nickte. „Ich habe gehört, dass einer der Sklaven diesmal nicht von Tarn gebrandmarkt wurde.“ Er lachte, als er Valions verdutzten Gesichtsausdruck sah. „Das kannst du nicht wissen, aber hier bleibt einfach nichts geheim. Gerüchte und Neuigkeiten verbreiten sich bei uns schnell. Aber eine Schande, dass Tarn dich nicht gebrandmarkt hat. Er kann das wirklich gut, wenn er ein neues Pferd brandmarkt, merken die fast gar nichts und alles heilt schnell ab. Hier, schau es dir an!“ Er deutete auf die Flanke eines anderen Pferdes einige Schritte von ihnen entfernt, auf der sich das selbe, verschnörkelte E deutlich abzeichnete. Selbst aus der Entfernung sah man, wie absolut sauber die Linien waren, und nicht einmal besonders tief. Valion nickte beeindruckt. „Dagegen kommt meine Schulter nicht an“, meinte er, was Marceus Neugier zu wecken schien. „Darf ich es mal sehen?“ Valion nickte, zog kurzerhand das Hemd über den Kopf und zeigte Marceus seinen Rücken. „Autsch!“ Vorsichtig, um ihn ja nicht zu verletzen, strich Marceus einige Haarsträhnen aus Valions Nacken beiseite, vermutlich um einen besseren Blick auf das Ausmaß der Wunde zu bekommen. Seine Stimme zitterte leicht, als er sagte: „Was für eine Schande... Kein Wunder, dass Tarn sich um dich kümmert.“
Valion schwieg, und Marceus verstand den Wink und stellte keine weiteren Fragen dazu. Stattdessen wartete er ab, bis Valion wieder angezogen war, streichelte dann noch einmal prüfend über Tjomas Fell und nickte zufrieden. „Gut, wir müssen die Hufe auskratzen und sehen, ob er sich einen Stein eingetreten hat. Willst du das machen oder soll ich?“, fragte Marceus. Valion warf einen besorgten Blick auf die kräftigen Beine und riesigen Hufe des Hengstes und antwortete: „Äh... mach du das lieber.“ „Dann sieh aber gut zu – wie Jefrem so gern sagt, was man heute durch Zufall lernt, braucht man eine Woche später plötzlich dringend.“ Valion dachte an das Wenige, das er über Pferde gewusst hatte und wie es ihm heute geholfen hatte Marceus kennenzulernen und nickte. Konzentriert sah er zu und lauschte den Erklärungen.
Als Tjoma versorgt war, gingen sie weiter zu den anderen Pferden, und sie versorgten jeder einen weiteren Hengst. Valion war es zunächst nicht geheuer, aber Marceus erklärte ihm geduldig alles Wesentliche, und so machte er nur kleine Fehler. Der Hengst hatte zum Glück ein sanftes Gemüt, blieb ruhig stehen und schnaufte nur dann und wann etwas unleidig, wenn Valion ihn falsch bürstete.
Die Arbeit machte Spaß, vor allem da Marceus ein geduldiger und einfühlsamer Lehrer war. Wenn Valion unsicher absetzte, unterbrach oder hilfesuchend zu ihm sah, verstand er sofort und sprang ein. Währenddessen genoss Valion nicht nur die neue Gesellschaft, sondern auch die Sonne und die frische Luft in vollen Zügen, selbst der starke Geruch der Pferde konnte ihn jetzt nicht stören. Der einzige Wermutstropfen war nach wie vor seine Schulter, die sich langsam bemerkbar macht. Die viele Ruhe hatte die Heilung beschleunigt, aber jetzt, da er die Arme bewegen und sich beugen und strecken musste, spannte die Haut und juckte, und der Schweiß brannte. Dazu kamen die Abschürfungen an seinem Handgelenk, die von Staub und Sonne gereizt wurden und ebenfalls begannen zu schmerzen. Trotzdem arbeitete er tapfer weiter, um Marceus weiter ausfragen zu können, nicht nur über die Pferde, sondern auch über Jefrem und die anderen Knechte.
„Sind die Knechte alle frei?“, wollte er jetzt wissen, während er die Flanken des Hengstes sorgfältig abbürstete. Marceus, der schon weiter war und gerade die Hufe seines Pferdes auskratzte, antwortete: „Manche, aber nicht alle. Im Grunde läuft es darauf hinaus, wer normalerweise in Lutejia im Hauptwohnsitz beschäftigt ist.“ „Hauptwohnsitz?“ „Ja, alle neuen Sklaven werden dort untergebracht, bevor sie weiterverkauft werden. Einige erhalten auch eine Ausbildung, aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wer und wieso. Jedenfalls, für eine Reise benötigt man viele Knechte und viele Pferde, aber wir sind nicht das ganze Jahr hindurch auf Reisen. Deshalb werden zusätzliche Knechte angeworben und für den Zeitraum bezahlt, und die sind alle frei. Die anderen sind wie ich Sklaven. Du kannst leicht herausfinden, wer was ist, wir sind alle gekennzeichnet.“ Zum Beweis zeigte er sein Handgelenk, auf dem ein kleineres, weniger elegantes E eingebrannt war. „Die Arbeitssklaven bekommen alle so eins, zusätzlich zu dem auf der Schulter, aber das sieht auch anders aus als deins. Und die besonders hochrangigen Sklaven, wie Jefrem, bekommen ein drittes, es steigert ihren Wert beim Wiederverkauf.” Mit einem Grinsen fügte Marceus hinzu: „Obwohl Jefrem sich schon wie ein König aufgeführt hat, bevor er sein Drittes hatte.“
Die Offenheit, mit der Marceus über seinen Sklavenstand sprach, war für Valion verwirrend. „Stört es dich nicht, ein Sklave zu sein?“, fragte er irritiert. Marceus ließ den Huf des Hengstes zu Boden gleiten, hielt in der Arbeit inne und überlegte. Es schien ein Teil seines Wesens zu sein, dass er erst gründlich überlegte, wenn er nicht sofort eine Antwort geben konnte. „Ich denke... nein, ehrlich gesagt stört es mich nicht“, erklärte er schließlich. Er nahm sich einen weiteren Huf vor und fuhr nachdenklich fort: „Versteh' das nicht falsch, ich denke auch oft darüber nach frei zu sein, aber ehrlich gesagt habe ich überhaupt kein Ziel. Ich bin Waise, also zu wem oder wohin sollte ich? Ich arbeite nur für mein Essen und meine Unterbringung, aber mehr würde ich als Knecht auch sonst nicht kriegen. Meine Freiheit ist im Grunde nicht viel Wert, und als Sklave ist es...“, er zuckte mit den Achseln, eine unentschlossene Geste, „.. ich schätze es ist sicherer?“ Valion hörte zu, aber verstehen konnte er es nicht, obwohl er sich darum bemühte. Wenn es darum ging, frei zu tun und zu lassen, was man wollte, oder sein ganzes Leben in die Hand eines Anderen zu geben, dann konnte er nicht verstehen, wie man das eine dem anderen vorziehen konnte.
Marceus sah seine Zweifel, doch zu Valions Erleichterung wurde er nicht wütend, nur ratlos. „Ich schätze ich bin nicht besonders gut im Erklären“, sagte er verlegen, „Ich meine, ich bin auch nicht diese Art von Sklave, wie du, ich meine...“ Er brach ab, noch verlegener als zuvor.
Diese Art von Sklave. Die Worte trafen Valion wie Schläge ins Gesicht, und er war gleichzeitig beschämt und wütend. Beschämt, dass er zu dieser Art von Sklaven gehören würde, und wütend, dass er auf diese Worte nicht vorbereitet war. Wie lange würde es dauern, bis er sich nicht mehr als Valion, der Bauernsohn, sondern als Sklave sah?
Gleichzeitig kränkte es ihn, so beschrieben zu werden. Es klang herablassend, als wäre er kein normaler Mensch, sondern eine eigene Tierart. Hatte er sich wirklich so in Marceus getäuscht? Valion wusste, dass er Eravier unterschätzt hatte, und es ließ ihn an seinem Urteilsvermögen zweifeln. Sah Marceus heimlich, ohne dass Valion es merkte, auf ihn herab und war bisher nur zu höflich gewesen, es offen auszusprechen? Der Gedanke war unerträglich.
Er musste weg hier. Schnell, aber möglichst ordentlich, legte Valion alles beiseite, murmelte: „Ich muss jetzt gehen“ und machte auf dem Absatz kehrt, um Tarn zu finden. Doch bevor er davon stürmen konnte, hielt Marceus ihn zurück.
„Tut mir Leid, das war nicht meine Absicht! Ich wollte dich nicht verscheuchen!“
Zuerst wollte Valion ihn ignorieren und einfach flüchten, aber dann kam er sich dumm vor. Warum zweifelte er plötzlich an jemand, der die ganze Zeit nur freundlich und hilfsbereit zu ihm gewesen war? Es war nicht Marceus Schuld, dass Valion sich in seinem neuen Schicksal nicht zurechtfand. Die Formulierung war unbeholfen gewesen, aber im Grunde hatte er nichts Falsches gesagt. Valions Fantasie und die erlebten Strapazen hatten ihm nur einen Streich gespielt.
In diesem Moment wurde Valion zum ersten Mal klar, dass Eravier vielleicht mehr getan hatte, als ihn nur körperlich zu verletzen, und stattdessen einen Teil seines Selbst beschädigt hatte. Er fühlte sich dünnhäutig und misstrauisch, Dinge, die er sonst nicht von sich kannte. Marceus sah betreten aus und schien zu begreifen, dass er Valion mit seinen Worten unabsichtlich verletzt hatte. Und genau wie bei Jan war Valion schmerzlich bewusst, dass Marceus vielleicht für lange Zeit die einzige freundliche Person bleiben würde, die er kannte.
Valion atmete tief durch und versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben. Es gelang ihm nicht ganz, aber er brachte ein schmales Lächeln zustande. „Du verscheuchst mich nicht, ich muss nur-“ „Ich weiß, du musst weg“, unterbrach Marceus ihn. „Ich meine nur, bevor du gehst, ich wollte fragen... kommst du vielleicht mal wieder vorbei? Es macht Spaß, wenn du dabei bist.“ Er lächelte verlegen und schien nicht recht weiter zu wissen. „Es ist so, ich habe nicht viele Freunde“, gestand er, „aber ich würde dich gern dazu zählen.“ „J-ja, warum nicht?“ Marceus Verlegenheit steckte Valion an, und das plötzliche und offene Freundschaftsangebot überraschte ihn, aber gleichzeitig war er froh. Für einen Moment hatte er befürchtet, Marceus würde ihn verachten, aber jetzt wurde ihm klar, dass diese Art von Überheblichkeit nicht zu ihm passte, im Gegenteil. Das Wissen darum ließ ihn lächeln, und er sagte: „Ich habe noch keine Ahnung, ob und wann ich wieder nach draußen darf, aber irgendwie wird das schon“, Jetzt lächelte auch Marceus und drückte seine Schulter noch einmal freundschaftlich. „Alles klar! Ich meine, wenn alle Stricke reißen, sehen wir uns wieder, wenn wir die Hauptstadt erreichen. Halt die Ohren steif!“ Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, und Valion ging davon, um Tarn zu suchen.
Während er sich an den inzwischen versorgten Tieren vorbei bewegte dachte er darüber nach, ob Marceus wirklich so wenige Freunde hatten. Die meisten anderen Knechte waren älter als er, und weil sie keine Sklaven waren, schlossen sie vermutlich keine Freundschaften mit den anderen, denn sie waren nur für ein paar Monate ein Teil des Wagenzugs. Oder vielleicht mochten sie Marceus nachdenkliche Art nicht, schließlich wurde auch Valion öfter damit aufgezogen. Auf der anderen Seite konnte er sich nicht vorstellen, dass jemand Marceus nicht mögen konnte. Bisher waren Valion nur positive Eigenschaften an ihm aufgefallen. Wenn er ihn mit irgendjemand vergleichen müsste, dann wohl mit Tarn, und alle die er bisher kennen gelernt hatte mochten Tarn genauso gern wie er selbst.
Nachdem er sich eine Weile nach Tarn umgesehen hatte, entdeckte er ihn bei Jefrem. Sie hatten sich zu einem Gespräch in den Schutz der Bäume zurückgezogen und schienen völlig darin vertieft. Valion beschloss, sie jetzt nicht zu stören und stattdessen abzuwarten. Müßig schlenderte er auf das kleine Wäldchen aus Büschen und Bäumen zu. Einen Moment lang zögerte er, ob er weiter gehen sollte, denn hier würde Tarn ihn nicht sehen, da die tiefhängenden Äste der Bäume ihn verdeckten. Auf der anderen Seite war er neugierig und wollte er einen Blick auf die Weiden hinter der Baumgruppe werfen und sehen, ob er ein Dorf oder sogar eine Stadt in der Ferne erspähte. Schließlich trat er doch zwischen die Bäume, mit dem festen Entschluss, nur einen kurzen Blick zu riskieren und dann wieder umzukehren. Vielleicht konnte er dann ein paar Kräuter suchen, die Pferde gern fraßen. Er könnte sie Tjoma geben und einen halbherzigen Versuch machen, ihm das Schubsen abzugewöhnen.
Er vergaß seine Idee sofort, als er auf einmal Bewegung zwischen den Bäumen sah. Für einen Moment fragte er sich, ob er nur einen Schatten gesehen hatte, aber dann verwarf er den Gedanken. Irgendjemand hatte sich im Schutz der Bäume an ihm vorbei bewegt, in die Richtung, in der Tarn und Jefrem standen. Sein Misstrauen war sofort geweckt. Tarn war ein Teil der Rebellion - wenn jemand versuchte, ihn zu belauschen, dann musste es jemand sein, der entweder ihm schaden wollte, oder den Rebellen selbst.
Nervös sah Valion sich um, aber er war außer Sichtweite der Knechte. In den Büschen sah er keine Bewegung mehr, aber irgendein Instinkt sagte ihm, dass jemand dort war. Der Lauscher würde nicht damit rechnen, dass ihm jemand folgte…Kurz entschlossen sah sich Valion ein letztes Mal um, um sicherzugehen, dass niemand ihn sah, dann ging er in die Hocke und tauchte in dem Gewirr aus Blättern und Zweigen unter.
Das Problem beim Verstecken, das hatte er schon als Fünfjähriger beim Spielen festgestellt, war dass jedes Geräusch plötzlich wie Donnerschläge klang und der eigene Herzschlag einem so laut in den Ohren dröhnte, dass man meinte, jeder müsste ihn hören. Er versuchte, so flach wie möglich zu atmen und kroch vorwärts. Die Aufregung schärfte seine Sinne, und er nahm alles in seiner Umgebung überdeutlich war; den erdigen Geruch der alten Blätter auf dem Waldboden, der frische grüne Geruch der Büsche, der Gesang eines einsamen Vogels und das Rascheln einer Feldmaus, die ihm erschrocken auswich. Und dann war da der Schemen, der sich in einiger Entfernung vor ihm durch das Dickicht bewegte, langsam, lauernd.
Was sollte er nun tun? Spontan entschied er sich das Wäldchen auf der anderen Seite zu verlassen. Die Sonne stand günstig und warf seinen Schatten nicht in diese Richtung, sondern auf die Weide. Er würde die Person umrunden und dann, wenn er ihr entgegen kroch, das Gesicht sehen können. Wenn jemand Tarn und Jefrem ausspionierte, würde er wissen wer.
Er bewegte sich schnell und leise weiter und war froh, dass sich auf der angrenzenden Weide Schafe befanden, die blökten und gemächlich über das Gras stapften, denn so wurden seine eigenen Schritte vermutlich unhörbar. Der große Baum diente ihm als sicherer Anhaltspunkt, und als er ihn umrundet hatte, tauchte er erneut in das Gebüsch ein, das an dieser Stelle sogar noch dichter war. Er war jetzt ganz in der Nähe des Baumstamms und konnte die Beine der Männer durch das Dickicht schimmern sehen.
Er hatte sich eigentlich vorgenommen, das Gespräch zwischen Jefrem und Tarn nicht zu belauschen, doch jetzt, so nahe vor ihnen, war es unmöglich sie zu überhören, denn sie schienen zu streiten.
„… nichts damit zu tun haben”, knurrte Jefrem wütend. „Ich weiß. Aber so ist es beschlossen worden.” „Seit wann kümmert dich, was von ihnen beschlossen wurde? Ein bisschen spät, um sich daran zu erinnern, wem deine Loyalität gehört.” Die nächsten Worte von Tarn konnte Valion nicht verstehen, obwohl er angestrengt lauschte, aber als Antwort darauf lachte Jefrem bitter. „Wegen ihm? Sag bloß, du hast plötzlich Mitleid bekommen! Das wäre ja mal etwas ganz Neues. Aber gut, ich will keinen Ärger, ich werde mich darum kümmern. Was sollte ich auch sonst tun? Die Frage ist aber doch, wie ich das anstellen soll, ohne dass es auffällig wird. Ich kann nicht einfach Sachen verschwinden lassen, und erst recht nicht so etwas Großes wie ein Pferd. Du müsstest von allen am besten wissen, dass Eravier nicht dumm ist, und auch weiter als bis drei zählen kann. Wir brauchen eine handfeste-”
Das Ende des Satzes hörte Valion nicht mehr. Eine Faust traf ihn fest in den Magen, und jemand riss ihn zu Boden. Im nächsten Moment hatte er einen Stoffknebel im Mund und lag auf dem Bauch, den Kopf zu Boden gedrückt und den Arm nach hinten verdreht. Valion bäumte sich auf, aber sein Angreifer packte sein Handgelenk fester, genau an der Stelle, an der die Haut von der Handfessel aufgeschürft war. Obwohl der Unbekannte weiche Handschuhe trug, war der Schmerz stark und beißend. Valion schrie innerlich auf, doch er wagte nicht die Stimme zu erheben. Er konnte jetzt schon kaum atmen, hätte er geschrien, hätte sein Angreifer den Knebel vermutlich noch fester gehalten, um sein Geschrei noch besser zu dämpfen. Valion hatte nicht vor, an diesem Tag noch elendig in einem Gebüsch zu ersticken. Innerlich verfluchte er sich, denn er war das Opfer seiner eigenen Taktik geworden. Derjenige, den er zu Umrunden gehofft hatte, hatten stattdessen ihn umrundet und sich von hinten an ihn heran geschlichen. Noch einmal versuchte Valion sich zu befreien, aber der Unbekannte griff sein Handgelenk so fest, dass Valion glaubte er wollte es brechen.
„Ah ah ah - das würde ich sein lassen”, flüsterte der Mann, und Valion erkannte die Stimme. Das war Tarns Begleiter gewesen, als er im Haus seiner Eltern gewesen war. Der, dessen Gesicht und Namen er nicht kannte. Was tat er hier? Warum spionierte er seine eigenen Verbündeten aus? Oder war er vielleicht ein Verräter?
Bevor er sich über seine Situation klar werden konnte, wurde er auf die Knie gezogen. Der unbekannte Spion hielt seinen Arm weiterhin fest, aber hielt mit der anderen Hand stattdessen den Knebel und damit Valions Kopf in Position. Valion würgte und versuchte seinen Kopf zu befreien, doch was er auch tat, er hatte keine Chance einen Blick auf sein Gesicht oder auch nur die Statur des Unbekannten zu werfen. Er spürte den Atem des Mannes im Nacken machte einen weiteren Versuch sich zu befreien. „Lass die Mätzchen”, flüsterte sein Angreifer gelangweilt, „Ich kann dir Mund und Nase zudrücken und dich innerhalb von Minuten ersticken lassen. Ich könnte dir auch deine verletzte Schulter aufreißen und zusehen, wie du vor Schmerzen schreist. Aber das ist völlig unnötig, weil wir auf der selben Seite sind.” Widerwillig hörte Valion auf, sich zu wehren, und deutete ein Nicken an. „Gut, sehr schön. Ich gebe zu, es war gerissen, dass du mich von der Gegenseite aus abfangen wolltest”, fuhr der Unbekannte fort, „und ich nehme an, deine Motive sind edel. Wer würde nicht den guten, alten Tarn beschützen wollen? Aber lass das Spionieren ab sofort sein. Verstanden?” Valion nickte erneut. Er dachte nicht daran, dieses Versprechen einzuhalten, aber wenn er unbeschadet aus dieser Sache heraus wollte, dann hatte er wohl keine andere Wahl als zuzustimmen. “Ich weiß was du jetzt denkst”, meinte der Unbekannte und lachte verhalten. Valion wünschte sich, dass der Mann aufhören würde ihm in den Nacken zu atmen. „Du denkst, dass du jetzt zu allem nickst, und dann einfach weiter machst. Aber ich behalte dich im Auge, das solltest du wissen. Ich sehe dich, egal ob du schläfst oder wach bist. Und ich höre mir die kleinen Geschichten an, die du dir mit Jan erzählst. Denk einfach daran, wenn du das nächste Mal die Idee hast einen kleinen Ausflug zu unternehmen.” Er schwieg und ließ diese Warnung wirken, und Valion hätte lügen müssen wenn er behauptet hätte, dass die Worte des Unbekannten ihm nicht einen Schauer über den Rücken jagten. Er konnte nur nicken, schon wieder. „Gut. Da du jetzt deine Lage begreifst, wie wäre es damit: Du wirst jetzt durch das Gebüsch dort hinaus kriechen, zu den Schafen. Du wirst die hübschen Schäfchen streicheln und so tun, als würde dir das Freude bereiten. Ich werde mich entfernen, und nach einer Weile werde ich Tarn sagen, wo er dich suchen soll. Und dann werdet ihr einen netten kleinen Ausritt machen. Du wirst ein bisschen mit Tarn plaudern, aber mich wirst du tunlichst nicht erwähnen. Besser noch, du solltest mich und diese Begegnung völlig vergessen. Ich lasse dich jetzt los. Dreh’ dich nicht um, verstanden? Sonst garantiere ich für nichts.” Valion nickte, und langsam wurde sein Arm losgelassen. Danach wurde der Knebel von seinem Mund gezogen, und mit einem groben Stoß wurde er losgeschickt. Er wagte nicht sich umzusehen, nicht einmal aus den Augenwinkeln, bis der den Rand des Gebüschs erreichte und hinaus auf die Schafweide kroch. Erst jetzt sah er zurück, doch er war allein. Sowohl der Spion als auch Tarn und Jefrem waren verschwunden.
Langsam stand Valion auf und klopfte sich sorgsam die alten Blätter und die Erde von den Beinen ab, um keine Fragen von Tarn zu provozieren. Dann betrachtete er einen Moment nachdenklich sein Werk. Und nun? Schafe streicheln. Ja, das konnte er tun, und darauf warten, dass er „gefunden” wurde.
Aber er war einen Schritt weiter. Er hatte nicht viel aus dem Gespräch erfahren, das zwischen Tarn und Jefrem stattgefunden hatte, das stimmte. Und er hatte weder das Gesicht noch die Statur des Unbekannten gesehen. Aber trotzdem wusste er jetzt, wer der Unbekannte war, denn eines hatte dieser nicht verbergen können. Der Mann hatte Handschuhe getragen, und so hatte Valion keine Ringe und keine Narben an seinen Händen sehen können. Aber das Brandzeichen an seinem Handgelenk, das grobe, eingebrannte E, das er von Marceus kannte, das hatte er nicht übersehen. Er wusste nicht, wie viele Diener Sklaven Eraviers waren, aber einer von ihnen war der Unbekannte.