„Mach den Mund zu, es fliegt noch was rein”, sagte Jan amüsiert und schob Valions Kiefer mit sanftem Nachdruck nach oben, dass seine Zähne leise aufeinander schlugen. „Aber… aber du siehst aus wie… ”, begann Valion, und Jan zuckte mit den Schultern. „Ja, ziemlich unheimlich, oder?”, sagte er und lachte verlegen. „Ich hab dich schließlich nicht umsonst danach ausgefragt, wie Nisha aussieht. Deine erste Beschreibung passte ziemlich gut…”
Ziemlich gut war gar kein Ausdruck. Natürlich gab es subtile Unterschiede, wie der Schwung der Augenbrauen oder das Fehlen der Sommersprossen, aber das Gesicht, das sich ihm jetzt zuwandte, war Nisha so ähnlich, als wäre er ihr Zwillingsbruder. Es war die selbe gerade Nase, der selbe sanft geschwungene Lippenbogen und die selben Augen, mit dem einzigen Unterschied, dass Nishas Augen grün waren. Jans Augen waren von einem unerwartet tiefen, sanften Braun, in dem man sich verlieren konnte.
Valion hatte sich bisher überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, ob er Jan bei ihrem ersten echten Zusammentreffen attraktiv finden würde. Im Grunde war es ihm auch gar nicht wichtig gewesen - er hatte sich in seinen Charme, seine dummen Witze und entwaffnende Fröhlichkeit verliebt, bevor er sein Gesicht überhaupt gesehen hatte. Doch Jans Ähnlichkeit zu Nisha und die starke Anziehung, die er sofort verspürte, stürzten ihn jetzt in völlige Verwirrung.
Eravier lachte leise auf. „Sie sind sich nie zuvor begegnet, nicht wahr? Scheint, als hätten sie beide gerade eine Überraschung erlebt.” Versonnen nahm er einen Schluck aus seinem Becher Wein und verfolgte das Schauspiel, das sich ihm bot. Tarn unterdrückte den Drang, sich abzuwenden und einfach zu gehen.
Eravier lehnte bequem am Stamm einer großen, ausladenden Buche und wurde wie Tarn und die Wächter und Diener, die er hierher beordert hatte, von den tiefhängenden Ästen abgeschirmt. Die bewegten, unregelmäßigen Schatten, die das dichte Blattwerk auf sie warf, machten die Tarnung perfekt - die Jungen schienen sie auf ihrem Beobachtungsposten nicht zu bemerken. Die Wächter hatten diesen Standort auf Eraviers Befehl hin gesucht und gefunden, damit er Valion und Jan bei ihrem ersten Zusammentreffen beobachten konnte, und er genoss diese Gelegenheit sichtlich. Er betrachtete das Geschehen vor dem Pestwagen so konzentriert und heiter wie die Aufführung einer besonders geliebten Oper.
Tarn jedoch krümmte sich innerlich. Vielleicht war diese Anwandlung mehr Scheinheiligkeit als alles andere, denn immerhin war er ein Mitglied der Rebellion. Er war es eigentlich gewohnt, Informationen durch gezieltes Lauschen zu sammeln, zu spionieren und im entscheidenden Moment nicht gesehen zu werden. Es war eine Fähigkeit, die er beherrschte, ohne stolz darauf zu sein, im Gegenteil. Die meisten Menschen konnten gehässig sein, dumm, launisch und bisweilen abstoßend, aber das, was sie im Geheimen preisgaben machte sie verletzlich. Er hatte niemals einen Menschen so sehr hassen können, dass er diese Verletzlichkeit ausgenutzt und jemand damit direkt geschadet hatte.
Eravier hingegen kannte keine Hemmungen und kein Mitleid. Sein gleichgültiger Blick sezierte jede Bewegung, jede Mimik, jede geheime Regung, und man konnte sich sicher sein, dass er jedes Detail, an das er sich erinnerte, zu einem geeigneten Zeitpunkt wiederverwenden würde. Wenn es um den Charakter und die Schwächen von Menschen ging, war sein Gedächtnis so umfangreich, dass es fast unheimlich war. Das Wissen, dass er diese Details zu einem späteren Zeitpunkt gegen Jan oder sogar Valion verwenden würde, erfüllte Tarn mit tiefem Unbehagen.
Aber natürlich war das auch seine eigene Schuld; er hätte nicht versuchen sollen, mehr als eine flüchtige Verbindung zu Valion aufzubauen. Er hatte angenommen, dass er sowohl ein unbeteiligter Zuschauer bleiben als auch ein Auge auf den Jungen haben konnte, doch selten hatte er sich so getäuscht. Diesen Fehler bezahlte er nun damit, dass ihm die Distanz, die er sonst zu jedem aufrecht hielt, abhanden gekommen war. Alles in ihm sträubte sich dagegen, Valion und seinen Freund in einer Situation zu sehen, in der sie sich unbeobachtet fühlten. Die Tatsache, dass sie sich bis jetzt nur angestarrt und ein paar Worte gewechselt hatten, änderte daran auch nichts.
„Wie geht es wohl weiter?”, fragte Eravier, und sein Gesichtsausdruck war sowohl neugierig als auch fasziniert. „Zwei Freunde, zusammengeschweißt durch ihre Isolation und Gefangenschaft, die sich das allererste Mal in ihrem Leben tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Ein Augenblick voller Emotionen, möchte man annehmen. Liegt es da nicht nahe, sich gegenseitig das Herz auszuschütten? Wie leicht lässt sich so ein Moment ausnutzen.” Sein Lächeln wurde noch breiter. „Na los, Jan. Beweis mir, dass du meine Zeit wert bist.”
„Bist du sicher, dass ihr nicht verwandt seid?”, fragte Valion immer noch perplex. „Also, ich würde es nicht völlig ausschließen”, sagte Jan etwas verlegen. „Mein Vater war ein ziemlicher Weiberheld, wenn du verstehst, was ich meine. Er war eine ganze Weile auf Wanderschaft, und er soll nicht gerade zimperlich mit dem Spielen, Huren und Witwentrösten gewesen sein. Ich wäre ja gern in seine berühmten Fußstapfen getreten, aber das ist ziemlich schwierig, wenn man den Damen nicht so sonderlich zugeneigt ist”, sagte er selbstironisch. Valion grinste. „Stimmt, du hast dich ja als großen Frauenheld aufgespielt. War denn irgendeine deiner Geschichten echt?”, fragte er. „Die Geschichten sind alle wahr”, behauptete Jan. Er sah Valions ungläubigen Blick und fügte hinzu: „Vielleicht ein kleines bisschen übertrieben. Aber trotzdem echt. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel”, sagte er etwas kleinlaut. Valion ergriff umständlich Jans Hand, was nicht so einfach war, da sie inzwischen beide durch ihre Handschellen stark eingeschränkt waren, und drückte sie. „Schon gut. Aber warum eigentlich? Wenn du überhaupt kein Interesse hattest… warum hast du dann immer wieder etwas mit Mädchen angefangen?” Jan war für einen Moment viel zu abgelenkt, weil er verlegen auf seine Hand in Valions starrte, sammelte sich aber gleich darauf. „Naja, am Anfang dachte ich noch, dass ich vielleicht nur noch nicht das richtige Mädchen gefunden habe. Ich meine, das sagen einem alle, oder? »Irgendwann wirst du die Richtige finden, das erkennst du, wenn du sie das erste Mal siehst!« Bis mir aufging, dass die Richtige im Grunde der Richtige ist, dauerte es eine Weile. Und danach… Ich hatte keine Freunde, denen ich mich anvertrauen konnte. Mir hat keiner geholfen, den schönen Schein aufrecht zu erhalten, also musste ich mir wohl oder übel den Ruf eines Schürzenjägers zulegen. Was denkst du, wie sehr meine Eltern darum gekämpft haben mir irgendein Mädchen zu beschaffen, das bereit war mich nach all meinen Skandalen noch zu heiraten? Nicht, dass sie es nicht trotzdem immer wieder versucht haben. Du würdest nicht glauben, wieviel lieber die meisten Leute ihre Tochter entehrt statt ihren Sohn mit einem anderen Jungen vorfinden, selbst wenn dabei keine Bastarde zu befürchten sind”, spottete Jan. Es klang leichtherzig, aber seine Mimik verriet, dass die Missbilligung seiner Eltern ihn schon lange verfolgen musste. „Das muss ziemlich hart gewesen sein”, sagte Valion. „Ich habe es durchgestanden”, meinte Jan abwehrend. „Und irgendwie hat es sich ja gelohnt - hätten sie mich nicht so dringend loswerden wollen, säße ich jetzt vermutlich nicht hier und würde dich gar nicht kennen.” Bei diesen Worten lächelte er breit, und Valion konnte nicht umhin, ihn fasziniert anzustarren. Er hatte Tage darauf gewartet dieses schiefe Grinsen zu sehen zu bekommen, und anscheinend hatte sich jede Sekunde des Wartens gelohnt. Jan wiederum starrte ihn nicht weniger neugierig an. „Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, du hättest dunkle Haare”, sagte er schließlich und strich vorsichtig durch Valions blonden Schopf, „Aber der Rest gefällt mir.” Valion errötete heftig, und es brachte Jan zum Lachen. „Ohje, schau dich an - ein Kompliment, und du bist völlig hin und weg.” Er lehnte sich ein Stück zur Seite, näher zu Valion hin, und plötzlich zuckte er zurück und betrachtete misstrauisch seine Handfläche. „Autsch! Ich glaube hier liegen irgendwelche Dornen herum.”
Valion schreckte auf und tastete nach den Scherben. In der Aufregung hätte er sie fast vergessen. Schnell sah er sich um, ob sie immer noch allein waren, aber obwohl er niemanden sah, erschien es ihm doch zu riskant Jan einfach etwas in die Hand zu drücken.
Er beugte sich stattdessen vor und flüsterte Jan direkt ins Ohr: „Halt die Hand am Boden. Ich gebe dir etwas.” Er wich nicht zurück, sondern zog, verdeckte durch seinen eigenen Körper, die Scherbe unauffällig heraus und schob sie unter Jans Hand. „Hier, nur für alle Fälle.” Jan spürte den scharfkantigen Gegenstand und sah Valion groß an. „Wo zum Teufel hast du das denn her?”, fragte er ungläubig, aber genauso unauffällig wie Valion nahm er die Scherbe an sich und ließ sie geschickt, fast wie ein Taschenspieler, in seiner Jackentasche verschwinden. „Ich hatte einen Spiegel dabei. Lange Geschichte”, erklärte Valion flüsternd, immer noch an Jans Ohr. „Und was hast du damit vor? Willst du ein paar Wächter tot pieken?”, flüsterte Jan zurück. „Du kitzelst mich übrigens, nur dass du es weißt”, fügte er hinzu. „Das ist nur für den Fall, das etwas passiert.” Jan schwieg einen Moment, dann fragte er: „Hat das etwas mit der Rebellion zu tun?”
Valion erstarrte, und Jan hob die Hände und strich ihm beruhigend über die Schultern. „Nicht verkrampfen, das fällt auf. Ich hatte es mir schon gedacht. Der ganze Krach bevor du angekommen bist, dass immer so viele Wachen herumgeschlichen sind… ich bin nicht so blöd.” „Ich kann dir nichts darüber erzählen, Jan”, sagte Valion schnell. „Schon gut, alles zu seiner Zeit. Wir müssen erstmal diesen Tag überstehen, dann sehen wir weiter. Selbst wenn wir nicht in einem Wagen schlafen können, bekommen wir etwas Freigang, und dann kannst du mir die Details verraten.” Valion nickte, zog seinen Kopf zurück und wollte sich aufrichten, doch Jan hielt ihn an seinem Hemd fest, sodass sie sich unmittelbar in die Augen sahen. „Wir sind jetzt zusammen. Wir passen aufeinander auf, ja?” Valion nickte, und bevor er wusste was geschah, hatte Jan ihn sanft zu sich gezogen und küsste ihn.
Die ersten Sekunden war es gar nichts Besonderes, ein einfacher, netter Kuss. Seltsamerweise hatte er mehr erwartet, etwas anderes als den kurzen, freundschaftlichen Kuss, den Nisha ihm damals gegeben hatte. Warum machten die Leute so einen Wirbel darum, wer wen küsste, wenn es so harmlos und unschuldig war? Wovor hatte er eigentlich die ganzen Jahre Angst gehabt?
Dann rutschten Jans Hände tiefer, kamen auf seiner Taille zum liegen und zogen ihn noch näher an sich heran, und reflexartig hob Valion die Arme und legte sie um Jan, so gut die kurze Kette zwischen seinen Handschellen es zuließ, und plötzlich wurde ihm heiß. Seine Hände fuhren über Jans Schulterblätter und den geraden Rücken, alles perfekt unter seinen tastenden Händen. Jans Hände hatten irgendwie den Weg unter sein Hemd gefunden und streichelten seine nackte Haut. Unvermittelt verstummten die lauten, immerwährenden Gedanken in seinem Kopf, und es blieben nur die einfachsten, geradlinigsten zurück. Fühlen. Schmecken. Riechen. Wo er war oder was mit ihm geschehen würde rückte in den Hintergrund, war plötzlich nicht mehr wichtig. Seine Hände fuhren in Jans Haare, und er küsste die sanft geschwungene Linie seines Kiefers und seinen Hals, sog den Geruch in sich ein, süß, herb, wie nichts was er kannte, und er wollte sich in diesem Gefühl einfach auflösen.
Jetzt war er es, der Jan näher zu sich heran zog, und Sekunden später saß Jan auf seinem Schoß und presste sich an ihn. Er konnte seine Erektion gegen seine eigene spüren, hörte Jan seinen Namen stöhnen.
Als ihm Einhalt geboten wurde hätte er es am liebsten ignoriert, aber er zwang sich dazu aufzuhören, die Hände zurückzuziehen. Jan schob ihn sanft, aber bestimmt zurück und sah ihn mit einem seltsamen Lächeln an. Seine Haare waren von Valions Händen völlig zerzaust, seine Wangen gerötet. Wenn sein Puls auch nur ansatzweise so raste wie der von Valion, war das wohl auch kein Wunder. „Du machst aber auch keine halben Sachen, oder?”, fragte Jan mit heiserer Stimme. „Hab ich dir wehgetan?”, fragte Valion, plötzlich überzeugt, dass Jan ihn aus einem bestimmten Grund aufgehalten hatte. „Nein, überhaupt nicht”, sagte Jan, und sein Lächeln trug nicht gerade dazu bei, Valions rasendes Herz zu beruhigen, „Aber willst du hier wirklich vor aller Welt… und selbst wenn, ich bekomme nicht einmal meine Hände auseinander. Schlechte Karten für Romantik, wenn du mich fragst.” „Es ist niemand hier”, sagte Valion drängend, „Und wenn ich mich richtig erinnere, hattest du gerade keine Probleme mit deinen Händen.” Er war sich bewusst, wie ungeduldig er sich anhörte, und gleichzeitig war es ihm niemals so egal gewesen wie in diesem Moment. Doch Jan schüttelte nur den Kopf und hob die Hände um ihm zu demonstrieren, wie begrenzt seine Reichweite tatsächlich war - die kurze Kette ließ ihm einen Spielraum von vielleicht zehn Zentimetern, das war alles. „Ich sage es nicht gern, aber damit kommen wir nicht weit. Zumindest im Moment.” Er sah Valions enttäuschten Blick und lachte leise. „Du hast es anscheinend wirklich eilig.” Valion sah ihm geradewegs in die Augen und sagte ernst: „Natürlich. Ich kann dich endlich anfassen, dich sehen, nicht nur mit dir reden… ich meine, ich rede gern mit dir, aber… das reicht nicht.” Zufrieden registrierte er, dass Jan seine Gefühle nur zu gut nachvollziehen konnte. Valion beugte sich erneut zu ihm herüber, fasste sein Kinn mit der Hand, küsste ihn sehnsüchtig, und er spürte, dass es Jan alles andere als kalt ließ. Sie fühlten beide die Anziehung zwischen ihnen, eine drängende, unaufhaltsame Kraft, und im Grunde wollten sie sich auch überhaupt nicht widersetzen.
„Ich verstehe ja, was du meinst”, sagte Jan, als Valion sich von ihm löste, „Aber hier stehen bestimmt gleich eine Menge Leute auf der Matte. Entweder es geht jetzt schnell, oder wir lassen es sein.” „Schnell?”, fragte Valion irritiert, und Jan grinste schief. „Wenn ich dich nicht völlig falsch einschätze, sehr schnell.” Valion wog hastig das Für und Wider ab, aber in diesem Moment überstimmte sein Körper seinen Verstand um Längen. „Was auch immer du vorhast, tu’ es einfach”, sagte er ungeduldig. „Na schön, wie du willst, sag’ nur nicht, ich hätte dich nicht gewarnt”, antwortete Jan mit einem Lächeln und zog Valion mit sich auf die Knie, um seine Hände wieder auf seine Taille zu legen. Sie küssten sich, aber Jan hielt sich jetzt nicht mehr mit Nebensächlichkeiten auf. Mit geschickten Händen und ohne lange zu überlegen streifte er Valions grobe Stoffhosen nach unten und griff nach Valions Erektion. Seine Hände waren warm und fest, kräftiger, als Valion zuerst gedacht hatte, und er stöhnte auf. „Jan… ”, sagte er, unsicher was er tun sollte. Er hatte keine Ahnung, ob Jan etwas von ihm erwartete, ob er selbst aktiv werden, oder es einfach nur geschehen lassen sollte. „Shhh…”, beruhigte Jan ihn. Er lächelte, während seine Hand ihn quälend langsam streichelte. „Lehn dich zurück und lass mich machen.” „Du machst das nicht zum ersten Mal, oder?”, fragte Valion, obwohl es ihn seine ganze Konzentration kostete. Es schien ihm, als wüsste Jan ganz genau was er tat, also musste er irgendwie, irgendwo Erfahrungen gesammelt haben. Wann, mit wem? Er hätte es gern gewusst. Jan lachte heiser. „Ich glaube, die Frage beantwortet sich gleich von selbst.” Damit beugte er sich hinunter und ließ Valions Erektion in seinen Mund gleiten, und jede weitere Frage wurde von glutheißem Verlangen ausgelöscht.
„Was zum Teufel…” Eravier richtete sich plötzlich auf, beugte sich vor und starrte konzentriert auf die Szenerie, die sich ihm zu bieten schien. Tarn, der sich schon seit Minuten abgewandte hatte, drehte sich nicht um. Wollte er wirklich wissen, was Eraviers Interesse erregte?
„Sieh einer an… so jung, und schon so hemmungslos”, sagte Eravier, und aus seiner Stimme sprach für den Bruchteil einer Sekunde kein Spott, sondern echte, unverfälschte Verblüffung. Widerwillig, ohne dass er es wollte, wandte Tarn sich nun doch um, warf einen Blick auf die beiden Jungen… und war sprachlos.
Seltsamerweise kam ihm der Moment in den Sinn, als er Valion das erste Mal gesehen hatte. Er hatte zwischen den Wächtern gestanden, unsichtbar in ihren Reihen, und hatte zugesehen, wie Valion Seite an Seite mit seiner Mutter versucht hatte, das Unmögliche zu schaffen und sie alle niederzustrecken, um Valions Vater zu befreien. Im nächsten Moment erkannte er auch, welches Detail ihn daran erinnerte - es war die bedingungslose Hingabe, als wäre ein Teil seines selbst ausgelöscht, ersetzt durch die Emotionen der Person, von der er sich führen ließ.
Aber hatte er das nicht schon früher bemerkt? Er wäre niemals so weit gegangen, Valion seine eigene Identität abzusprechen, er war viel mehr als ein Schoßhund, der nicht selbst denken oder handeln konnte. Doch gleichzeitig gab es in seiner Persönlichkeit einen Aspekt, der sich völlig an den Menschen orientierte, die sich in seiner Nähe aufhielten, und ihren Charakter wie ein Spiegelbild zurückwarf. Im Beisein seiner Mutter hatte Valion ihre unkontrollierte, verzweifelte Wut in sich aufgenommen und ausgelebt, und später hatte er Tarns Respekt und Besorgnis ihm gegenüber mit ähnlichen Emotionen beantwortet, und ihn unbewusst auf seine Seite gezogen. Und jetzt…
War es das, was Eravier in ihm gesehen hatte, was ihn dazu bewogen hatte, Valion gegen jede Vernunft und schlechten Vorzeichen gefangen zu nehmen? Wenn er richtig lag, dann war Valion tatsächlich der perfekte Sklave. Es würde egal sein, was sein Herren von ihm verlangte, denn er würde immer das sein, was sein Gegenüber ihm vorgab.
Er wollte seinen Blick abwenden. Was er sah, war nicht für seine Augen bestimmt, für niemandes Augen, und trotzdem hatte er Mühe, sich davon loszureißen. Das Gefühl, Valion beschützen zu müssen, wenn nötig auch vor sich selbst, war plötzlich übermächtig. Er schlief mit Jan, ohne ihn zu kennen, ohne sich seiner Loyalität sicher sein zu können, aus einem Impuls heraus. Hatte er denn überhaupt nicht zugehört, überhaupt nichts verstanden? Am liebsten wäre er zu Valion gegangen und hätte ihn durchgeschüttelt, ihn gefragt, wie er so naiv sein konnte.
Und gleichzeitig, das stellte er mit Erschrecken fest, konnte er nicht wegsehen, weil Valion schön war. Jede andere Beschreibung war nur leeres Geschwätz. Obwohl noch ein Junge, war Valion an der Schwelle zum Erwachsenenalter, und selbst in seiner schlichten, zerschlissenen Kleidung und mit dem struppigen Haarschnitt war seine Schönheit offensichtlich. Tarn hatte sich dagegen gesperrt sie zu bemerken, sie sogar abgetan, weil sie so anders war als die kalkulierte Attraktivität der ausgebildeten Sklaven. Er hatte versucht Valion als einen Schützling zu sehen, eine Art Adoptivsohn oder jüngeren Bruder, den er anleiten und die richtige Richtung weisen musste.
Das alles wurde ihm mit einem Schlag unmöglich, er konnte diese Vorstellung nicht mit dem vereinbaren, was er sah. Und mit Erschrecken musste er feststellen, dass er sich von Valion angezogen fühlte.
Eravier trat neben ihn, und sein süffisantes Grinsen deutete an, dass ihm sehr wohl bewusst war, wie gefesselt Tarn von der Szene war. „Man müsste noch einmal so jung sein, nicht wahr?”, fragte er, und Tarn wusste, was er damit meinte, auch wenn er wünschte, es wäre nicht so. „Ich habe wirklich eine exzellente Wahl getroffen, scheint mir”, sagte Eravier, als er sich wieder den Jungen zu wandte. Es war einer der wenigen Momente, in denen Eraviers Augen keine Kälte und Gleichgültigkeit ausstrahlten. Hätte Valion diesen Blick gesehen, er hätte ihn wiedererkannt. Es war der Ausdruck einer brennenden Besessenheit. Valion hatte ihn gesehen, als er auf dem Boden des Hauses seiner Eltern lag und sich Eraviers Stiefel tief in seine Schulter gegraben hatte. Nachdenklich legte Eravier die Hand an sein Kinn, während er Jan und Valion betrachtete. „Sie sind einfach nur perfekt.”
Die Erregung füllte seinen ganzen Körper aus. Wie durch einen Nebel nahm Valion war, dass seine Hände wieder in Jans Haar fuhren, und er hatte gerade genug Beherrschung übrig, um ihn gewähren zu lassen, statt ihm mit seinen Händen gewaltsam einen Rhythmus aufzuzwingen. Er biss sich auf die Unterlippe, um seinen verräterischen Mund geschlossen zu halten, obwohl er am liebsten laut gestöhnt hätte. Jan tat mit seinen Lippen und seiner Zunge Dinge, die er auch in hundert Jahren nicht mit seinen eigenen Händen fertig gebracht hätte. Er sah zu ihm herunter, auf das wunderschöne blonde Haare, die dichten dunklen Wimpern, die atemberaubenden Lippen. Vage wurde ihm bewusst, dass Jan nicht nur ihn mit seinem Mund, sondern nebenbei auch sich selbst mit seiner freien Hand befriedigte. Das Wissen darum und die Tatsache, dass Jan nicht weniger Freude an ihrem Intermezzo zu haben schien als er, verstärkte seine Lust nur noch mehr. Ohne es zu wollen war er jetzt schon nicht mehr fähig, sich zurückzuhalten. Sein ganzer Körper versteifte sich für einen Moment, und er wusste, dass er schreien würde, schreien musste, er konnte es nicht verhindern. Genau in diesem Moment richtete Jan sich auf und zog ihn zu sich heran, verschloss seinen Mund mit einem Kuss und brachte es mit den Händen für sie beide zu einem Ende, und mit einem kehligem Schrei gab Valion sich seinem Orgasmus hin. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an seinen Geliebten und spürte, wie Jans Körper sich unter seinen Händen aufbäumte, dann entspannte, als er nur einen Moment nach ihm kam und seinen eigenen Aufschrei mit Valions Lippen erstickte.
Valions Kopf schwamm, und für einen Moment fühlte er sich, als müsste die Welt unter seinen Knien nachgeben. Völlig überwältigt hielt er sich an Jans Taille fest, bettete seinen Kopf in seine Halsbeuge und brachte nicht mehr fertig, als zu keuchen. „Ich hab doch gesagt, es geht schnell”, hörte er Jan zufrieden murmeln. „Du hast nur nicht erwähnt, dass es mich ganz nebenbei auch umbringt”, flüsterte Valion heiser zurück und holte schluchzend Luft. „Ich habe dich aber gewarnt”, antwortete Jan und lachte leise. „Verdammt, das war…” Valion brach ab, weil es keinen Vergleich gab. Es war besser als alles gewesen, was er jemals erlebt oder sich auch nur vorgestellt hatte. Selbst seine feuchten Träume waren dagegen harmlos.
Jan löste sich sanft von ihm und streifte seine nassen Hände gleichgültig an einem Grasbüschel ab, rückte dann seine Kleidung zurecht, und Valion tat es ihm gleich.
Zusammen ließen sie sich wieder zu Boden sinken, und konnten den Blick nicht voneinander lösen. Jan war inzwischen so zerzaust, dass sein Haar nach allen Seiten ab stand, und sein Gesicht war immer noch gerötet, aber seltsamerweise schien er jetzt wieder nervös zu sein. „Wie war es so?”, fragte er unsicher, und Valion lächelte nur breit. „Besser als alles andere, was ich je getan habe”, sagte er und küsste Jan. Danach verharrten sie, Stirn an Stirn, sahen sich in die Augen, noch völlig gefangen in ihrem gemeinsamen Erlebnis.
„Ach, wie rührend.” Sowohl Jan als auch Valion zuckten unter der spöttischen Stimme so heftig zusammen, dass sie sich beinahe gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hätten. Valion sprang auf, während Jan sich instinktiv duckte.
Eravier trat zielstrebig aus dem Schatten der Bäume, in dem er sich verborgen hatte, baute sich vor den beiden Jungen auf und betrachtete sie mit einem widerwärtigen Grinsen. Er war nicht allein, denn hinter ihm folgten sowohl einige Wächter als auch drei Diener, die ihre Köpfe gesenkt hielten und zu den Feuern eilten, um mit einigen Vorbereitungen zu beginnen. Die Wächter wiederum postierten sich in einem lockeren Halbkreis um den Platz vor dem Wagen und garantierten so, dass weder Jan noch Valion eine Chance hatten, zu entkommen.
Innerhalb eines Moments war der vormals verlassene Platz plötzlich nicht mehr so einsam, und Valion wurde bewusst, dass er schon wieder getäuscht worden war. Dass er allein mit Jan gewesen war, war ein kalkulierter Schachzug gewesen, um sie zu beobachten, und er fragte sich sofort, ob Eravier darauf gewartet hatte, dass er irgendeine Art von Widerstand offenbarte. War das ein weiterer Test gewesen, um zu prüfen, ob er fliehen würde, oder zumindest den Versuch dazu unternehmen? Zu seiner Überraschung sah Valion außerdem, dass die Wachen diesmal alle mit Musketen bewaffnet waren. Er erinnerte sich an Tarns Warnung, dass Eraviers Misstrauen nur langsam nachlassen würde, und sah nun die Bestätigung.
Siedendheiß fiel ihm auch die Spiegelscherbe ein, die er jetzt in seiner Tasche trug. Doch Eravier machte keine Anstalten, ihm diese abnehmen zu lassen, was vielleicht bedeutete, dass er dieses Detail aus der Entfernung nicht bemerkt hatte.
Stattdessen wurden Valion und Jan mit einer Mischung aus Spott und Interesse gemustert. „Ehrlich gesagt bin ich angenehm überrascht. Ihr habt eine phantastische Vorstellung geliefert, so etwas gefällt potentiellen Käufern”, erklärte er amüsiert.
Seltsamerweise ließen erst diese Worte Valion verstehen, dass er gerade vor aller Augen mit Jan geschlafen hatte. Es war ein Moment gewesen, der nur für sie beide bestimmt gewesen war, und er war ihm entrissen und für alle Welt offen gelegt worden. Ohnmächtiger Zorn wallte in ihm auf, und er ballte die Fäuste. Vielleicht hätte er es tatsächlich gewagt zuzuschlagen, doch in diesem Moment erhob sich Jan, trat neben ihn und ergriff seine Hand. Er musterte Eravier mit sichtbarer Verachtung und murmelte dann gut hörbar: „Perverser alter Sack.” Valion wusste, dass es keine gute Idee war Eravier zu provozieren, Tarn hatte ihn eindringlich davor gewarnt. Aber er konnte nicht verhindern, dass seine Mundwinkel nach oben zuckten. Jan hatte anscheinend vor Nichts und Niemand Angst, und in diesem Moment war seine Respektlosigkeit genau das was sie beide brauchten, um ihrer Wut Luft zu machen.
Eravier lächelte, obwohl seine Augen so kalt und ausdruckslos blieben wie zuvor, und antwortete: „Na na, wir wollen doch nicht ausfällig werden.” Jan grinste nur herablassend und fragte provozierend: „Wieso? Ist doch ein zutreffendes Wort für einen Kerl, der andere aus einem Gebüsch heraus bespannt. Falls du überhaupt einen hoch gekriegt hast, Opa.” Wenn er gedacht hatte, Eravier damit zu treffen, wurde er jedoch enttäuscht, denn der lachte nur schallend. „Er hat wirklich Sinn für Humor, das muss man ihm lassen, oder was denkst du, Tarn?” Valion fuhr zusammen und blickte zu den Dienern, und tatsächlich sah er Tarn bei ihnen stehen. War er erst jetzt dazu gekommen, oder hatte er ihn übersehen, als er aus dem Schatten der Bäume getreten war? War er hier um zu arbeiten, oder hatte Eravier ihn nur herzitiert, um Valion unter Druck zu setzen? Er wusste keine Antwort auf diese Fragen, aber sein Herz sank, als er ihn sah. Hatte er ebenfalls zugesehen, oder mitbekommen, was Eravier zu ihnen gesagt hatte? Wenn ja, was dachte er jetzt von ihm? Er war sich fast sicher, dass bei der nächstbesten Gelegenheit eine Standpauke auf ihn warten würde, schließlich hatte er schon wieder jemand sein absolutes Vertrauen geschenkt, ohne sich sicher zu sein, dass derjenige kein Verräter war. Natürlich konnte er Jan vertrauen, das wusste er, aber Tarn würde das nicht so einfach akzeptieren. Er hätte gern Tarns Blick gesucht, doch der unterhielt sich leise mit den Dienern und blickte überhaupt nicht auf.
„Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, Val”, flüsterte Jan kaum hörbar neben ihm, „Er war vielleicht nett zu dir, aber du kannst ihm nicht vertrauen. Er ist auf der Seite dieses Bastards.” Eravier hatte es dennoch gehört und schüttelte mitleidig den Kopf. „Natürlich steht er auf meiner Seite, Jan. Jeder hier sollte besser auf meiner Seite stehen, weil es nur diese Seite gibt, oder den Tod. Oder willst du mir da widersprechen, Valion?” Valion sagte nichts, starrte nur wütend zu Boden - so einfach würde er sich wirklich nicht aus der Reserve locken lassen. Wenn Eravier ihn nur mit ein paar drohenden Worten zu einer unbedachten Äußerung reizen wollte, dann musste er sich etwas Besseres einfallen lassen. Er erwartete fast, dass Eravier weiter versuchen würde ihn auszuhorchen, doch der ließ das Thema selbst fallen. „Wir werden uns noch darüber unterhalten”, sagte er gelassen, nur um an Jan gewandt hinzuzufügen: „Und du, mein Kleiner, solltest den Mund nicht so voll nehmen. Ach, ich vergaß, daran scheinst du schon gewöhnt zu sein.” Er beobachtete befriedigt, wie sich Röte auf Jans Gesicht ausbreitete und er den Blick senkte.
„So gerne ich auch mit euch schwatze, es gibt Wichtigeres zu tun. Ich bin nicht zur Unterhaltung hier, sondern um mein Eigentum zu inspizieren”, sagte er gleichgültig und gab zwei Wächtern einen Wink, die daraufhin Valion und Jan packten. Grob wurden ihnen ihre Fuß- und Handfesseln abgenommen. „Das, was jetzt geschieht, wird euer Eintritt in das tatsächliche Leben eines Sklaven sein”, fuhrt Eravier fort, während Valion und Jan näher zu den zwei Feuern und den bereit stehenden Dienern geschleift wurden. „Es gibt ein paar Grundregeln, die ihr besser lernen solltet, vor allem deshalb, weil sie euch einiges an Ärger und Schmerz ersparen werden”, dozierte Eravier kalt, während er sie umrundete wie ein Aasfresser einen Kadaver. „Die erste Regel lautet, dass ihr euren Befehlen zu gehorchen habt, egal von wem sie kommen und egal, ob sie euch unangenehm oder lästig sind. Sehen wir mal, ob ihr das auf Anhieb verstanden habt. Zieht euch aus. Diese Lumpen braucht ihr nicht mehr.”
Valion und Jan tauschten einen Blick aus den Augenwinkeln, aber es war sinnlos, sich zu widersetzen. Valion zog sich als Erster das Hemd über den Kopf und warf es zu Boden, Schuhe, Hose und Unterhose folgten im nächsten Augenblick. Er war sich bewusst, dass sowohl er als auch Jan ihre Waffe verlieren würden, aber er konnte kaum etwas dagegen tun. Als letztes wickelte er sich, mit zusammengebissenen Zähnen, den Verband von seinem Arm. Er war versucht, seine Scham zu bedecken, und seine Hand zuckte schon in die entsprechende Richtung, doch schließlich widerstand er dem Drang und ließ die Arme stattdessen gerade herunter hängen. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen, kein Zögern, und er hoffte, dass Jan es ebenfalls durchstehen konnte.
Jan ließ sich mehr Zeit, zog umständlich seine Jacke aus und faltete sie, um sie dann auf den Boden zu legen, stellte seine Schuhe ordentlich dazu, zog langsam erst die Hose, dann die Unterhose aus. Danach trat er einen Schritt vor und verschränkte mit einem wütenden Blick die Arme vor der Brust.
So standen sie nun da, splitterfasernackt, den Blick unbehaglich und starr auf Eravier gerichtet, der wiederum die Diener heranwinkte. Einer nahm die zwei Bündel Kleidung und warf sie ohne einen weiteren Kommentar ins Feuer, und Valion krümmte sich innerlich. Die spärlichen Dinge, die er mit auf Reisen genommen hatte, waren Eravier und seinen Kumpanen wie erwartet keinen Pfifferling wert, aber er fühlte sich beraubt. Jan schien die Verbrennung seiner Kleidung gelassener hinzunehmen, war aber überhaupt nicht begeistert davon, dass die zwei anderen Diener mit Maßbändern auf sie zu traten.
Eravier umrundete sie immer noch, betrachtete sie von allein Seiten, und nicht zum ersten Mal fühlte Valion sich unter seinen Blicken wie ein Stück Vieh. Dieses Gefühl verstärkte sich nur noch, als seine Größe und der Umfang von Brust, Hüfte und Taille ausgemessen wurden. Er sah hinüber zu Jan, der nur widerwillig seine verschränken Arme löste um den Diener seinen Brustumfang messen zu lassen. Obwohl es nicht kalt war, zitterte er leicht, und Valion fragte sich, ob es daran lag, dass er so beängstigend dünn war. Ohne seine Kleidung wurde erst offenbar, wie stark er tatsächlich abgemagert war. Rippen und Wirbel zeichneten sich deutlich unter der Haut seines Rückens ab, und seine Hüftknochen ragten beängstigend weit hervor. Er war einen Kopf größer als Valion und eigentlich auch breitschultriger als er, aber in seinem derzeitigen Zustand musste er dennoch einige Kilo leichter als er sein. Er ähnelte Nisha körperlich jetzt am meisten, aber er musste früher kräftiger und muskulöser gewesen sein, auch wenn nach seiner langen Krankheit nicht mehr viel davon übrig war. Valion versuchte sich einen Moment vorzustellen, wie Jan früher ausgesehen haben musste, doch er ließ es schnell wieder sein. Nicht, weil er es sich nicht vorstellen konnte, sondern weil er es sich zu gut vorstellte, und hier war weder der Ort noch die Zeit ins Schwärmen zu geraten.
Außerdem ließ ihn etwas an Jan auch stutzen. Er wusste es nicht einmal zu benennen, bis ihm klar wurde, dass es keine Besonderheit an Jans Körper war, die er bemerkt hatte, sondern dass etwas an ihm fehlte. Jan trug kein Brandmal wie er. Hatten sie ihn bisher davor verschont, weil er noch zu krank dafür gewesen war? Oder gab es einen anderen Grund dafür?
Jan bemerkte seine Blicke und sah zu ihm herüber, und Valion bemühte sich, ein neutrales Gesicht aufzusetzen, damit Jan nicht seine Besorgnis sah. Jan wiederum musterte Valion genau von oben bis unten, um anschließend anerkennend mit den Augenbrauen zu wackeln. Nicht schlecht, sollte das wohl heißen, und Valion war fast versucht zu lächeln, doch gleichzeitig war er sich voll bewusst, dass sie diese Tortur noch nicht einmal ansatzweise überstanden hatten.
„Regel Nummer 2: Euer Körper ist wichtiger als alles andere. Ihr stellt ihn zur Verfügung und zur Schau, wenn ihr dazu aufgefordert werdet. Ihr werdet ihn pflegen und euch darum kümmern, dass er so bleibt, wie er jetzt ist, es sei denn euer Käufer stellt ihn sich anders vor. Um eure Hygiene kümmert ihr euch so lange selbst, wie ihr ein angemessenes Maß an Sauberkeit einhaltet. Andernfalls werdet ihr unter Zwang gewaschen werden, so wie heute”, fuhr Eravier inzwischen fort.
Die Diener füllten zwei Eimer mit dem Wasser aus dem Kessel, gingen zu Valion und Jan und begannen sie zu waschen. Einer der Diener, eine kleine, hagere Frau rieb außerdem erst Jan, dann Valion einen stinkenden Kräutersud in die Haare, der vielleicht gegen Läuse wirken sollte. Valion war sich ziemlich sicher, dass er keine hatte, aber vermutlich war es mehr eine Vorsichtsmaßnahme als alles andere. Noch während er darüber nachdachte und mit dem überwältigenden Gestank nach Kräutern kämpfte, wurde ein Rasiermesser gezückt. Er hatte nicht einmal Zeit erschrocken zu sein, innerhalb von Minuten wurden kommentarlos seine Scham und seine Achseln rasiert. Auf sein Unbehagen und die Angst geschnitten zu werden nahm niemand Rücksicht. Im Gegenteil, als er einmal zusammenzuckte, weil die Spitze der scharfen Klinge gefährlich nah an der Innenseite seiner Schenkel vorbeischrammte und ihn fast verletzt hätte, würde er grob angewiesen still zu halten. Danach wurden seine Haare ausgespült und geschnitten, es folgte eine letzte Waschung, die im großen und ganzen daraus bestand, dass man ihm das restliche, inzwischen fast kalte Wasser, über den Kopf kippte.
Am Ende dieses Prozesses fühlte Valion sich wund. Seine Kopfhaut brannte, sein Arm ebenso, seine Achseln juckten, seine Augen waren gerötet und vor allem war ihm kalt. Er stand wie ein begossener Pudel da und bekam nicht einmal etwas zum Abtrocknen, bis Jan ebenfalls fertig gewaschen war. Er beschloss, dass er etwas in der Art nie wieder tun würde - lieber wusch er sich bis ans Ende seines Lebens jeden Tag gründlich und rasierte sich selbst, als dass er noch einmal erlebte, wie ein gelangweilter Diener ihm mit einem Rasiermesser zu nahe kam. Er sah zu Jan hinüber, dem es kaum besser ging, zudem hatten sie seine Haare ein ganzes Stück gekürzt, was ihm nicht zu behagen schien. Außerdem fror er noch erbärmlicher als Valion. Doch sie erhielten keinen Moment, sich auszuruhen, die Stofftücher zum Trocknen wurden ihnen nach nur wenigen Momenten wieder abgenommen.
„Die dritte Regel: Solltet ihr krank werden, egal was es ist oder wie schlimm es ist, habt ihr das zu melden. Das betrifft alles, Hautkrankheiten, schlechte Zähne, Schmerzen, Brüche, jegliche Verletzung, die euch ein potentieller Käufer zufügt. Versäumt ihr das und seid deshalb länger krank als nötig, oder schlimmer, steckt jemand an, egal ob Käufer, Diener oder andere Sklaven, werdet ihr bestraft, im schlimmsten Fall entsorgt.” Es gab keinen Zweifel daran, was er damit meinte, und Valion sah, wie Jan mit einem mal noch blasser wurde. Valion konnte es ihm nicht verübeln - es ging ihm besser, er hüstelte nur immer wieder verhalten, aber wer wusste schon, ob seine Krankheit wirklich überstanden war?
Doch für Grübeleien blieb keine Zeit, denn jetzt trat Tarn vor und ging zielstrebig auf Jan zu. Valion versuchte immer noch, seinen Blick zu erhaschen, doch zu seinem Unbehagen musste er feststellen, dass Tarn völlig reaktionslos war, wenn man von der mechanischen Verrichtung seiner Arbeit absah. Er begann Jan abzutasten, prüfte Haut, Gelenke, Haare, Zähne, hörte erneut seine Lunge ab, und die einzigen Kommentare waren kurze Befehle. Er nickte immer wieder einem der Diener zu, der eine Liste abzugleichen schien und auf jedes Nicken mit einer gekritzelten Notiz reagierte.
Danach trat er zu Valion, und er wiederholte die selben Schritte, und auch jetzt blieb er völlig kalt und distanziert. Er atmete, sprach und bewegte sich, aber innerlich war er nicht erreichbar. Valion dachte daran, was er zu ihm gesagt hatte, als sie allein gewesen waren.
Wenn wir nicht unter uns sind, musst du immer damit rechnen, dass ich dir nicht die volle Wahrheit sagen kann. Ich werde vielleicht anders mit dir umgehen…
Valion versuchte sich innerlich damit zu arrangieren, aber ein unheimliches Gefühl der Leere überwältigte ihn. Sieh mich an, wollte er sagen. Behandle mich nicht, als wäre ich Luft. Ich bin noch hier.
Es war, als wäre er plötzlich blind, als könnte er nicht mehr lesen was in Tarn vor sich ging, und dieses Gefühl lähmte ihn. Und gleichzeitig hatte er immer noch Angst, dass es wegen dem war, was er getan hatte. Er war plötzlich überzeugt, dass Tarn ihn ebenso beobachtet hatte wie Eravier, und dass er deshalb so distanziert war. Es war ein paranoider Gedanke, aber konnte ihn nicht abschütteln.
„Öffne den Mund”, sagte Tarn, und griff nach seinem Kinn, und er ertrug es nicht mehr. Reflexartig hob er die Hand, griff nach Tarns Handgelenk.
Mehrere Musketen hoben sich in Sekunden und zielten auf ihn, und Valion wurde bewusst, dass er heftiger zu gegriffen haben musste, als er beabsichtigt hatte. Aber die völlige Distanziert brach für einen Moment, und es war als könnte er plötzlich die Augen öffnen und sehen. Er blickte in Tarns Gesicht, und sah keine Maske mehr, keine leeren, stumpfen Augen. Stattdessen sah er Sorge und Müdigkeit, und für einen Moment etwas Anderes, das er nicht herauslesen konnte. Tarn, formulierte er stumm mit seinen Lippen, und er sah die Reaktion, den warnenden Blick, das kurze Zucken der Augen. Wir sind nicht allein, war die ebenso stumme Antwort, und Valion verstand sie, aber er war auch froh. Es stand nichts zwischen ihnen, das erkannte er jetzt, zumindest kein Groll und keine Enttäuschung. Es war alles noch genau so wie zuvor, und es gab ihm seine Sicherheit zurück. Er ließ Tarns Handgelenk los, ließ zu, dass seine Zähne betrachtet und seine Haare und Kopfhaut überprüft wurden.
Hätte er zu Eravier oder zu Jan gesehen, hätte er Zorn in den Augen des einen und Verwirrung, sogar Unsicherheit in der Miene des anderen gesehen. Eravier gab den Wachen widerwillig einen Wink, und sie ließen die Waffen sinken, immer noch wachsam und bereit.
Schließlich war auch Valions Musterung abgeschlossen, und Tarn trat zurück und beriet sich mit den Dienern. Eravier beobachtete sie und lauschte ihren Worten, ohne den Jungen für einen Moment Beachtung zu schenken.
Valion nutzte die Pause, um einen unauffälligen Schritt näher an Jan heran zu treten, der sich gerade hinunter beugte um sich am Knöchel zu kratzen. „Wir haben es gleich geschafft, denke ich”, sagte er, als Jan sich wieder aufgerichtet hatte, und berührte für einen Moment seine Hand, die sich kalt anfühlte. Jan versuchte zu lächeln, aber etwas Bestimmtes schien ihn zu besorgen, und bevor Valion nachfragen konnte, wies er ihn darauf hin: „Nicht, bevor ich nicht gebrandmarkt bin.”
Verdammt, das hatte er völlig vergessen. Seine Augen wanderten hinüber zu dem Feuer, in dem tatsächlich das Brandeisen lag. Diese Vorbereitung musste stattgefunden haben, als Tarn ihn untersucht hatte. Obwohl die Sonne langsam unterzugehen begann und den ganzen Platz in ein rötliches Licht tauchte, war es für einen Moment wieder Nacht für Valion. Die Erinnerung an den Tag, als er selbst gebrandmarkt worden war stand ihm wieder bildlich vor Augen, als er das glühende E sah, das wie ein dämonisches Auge aus dem Feuer glotzte. Er roch für einen Sekundenbruchteil verschmortes Fleisch und musste sich zusammenreißen, das Gefühl der Angst und der Hoffnungslosigkeit abzuschütteln.
Er zwang sich, nicht mehr hinzusehen und stattdessen Jan anzusehen, der, vermutlich verursacht durch die Kälte, wieder stärker hustete und sich die Hand vor den Mund hielt, und sagte leise: „Du schaffst das. Das habe ich auch.” Jan warf einen Blick auf Valions Schulter, und sein Unbehagen war deutlich, aber er nickte. Sie wagten nicht sich weiter aneinander anzunähern, deshalb streckten sie nur die Arme aus und hielten sich für einen Moment an den Händen. Doch sie ließen schnell los, als Eravier sich umwandte und sie ansah.
Die Beratung schien beendet, denn Eravier trat wieder zu ihnen, und musterte sie von allen Seiten. „Nicht schlecht”, sagte er anerkennend, als er sie erneut umrundete, und Valion spürte, dass seine Einstellung zu ihnen sich ein wenig gewandelt hatte. Das war nichts Gutes, im Gegenteil, es ekelte Valion regelrecht an. Jetzt waren sie für Eravier keine schmutzigen, ungepflegten Tiere mehr, entsprachen stattdessen einer verkäuflichen und attraktiven Waren. Erst ihr neues, verbessertes Aussehen schien sie in Eraviers Augen überhaupt würdig zu machen, als Mensch anerkannt zu werden, und er fragte sich, wie er die Diener oder die Menschen aus seinem Heimatdorf wahrnahm. Er nahm an, dass sie für ihn auf einer Stufe mit Würmern standen, und der Zorn, der in ihm aufkam, war fast stärker als der Widerwillen und Ekel, als Eravier ihm prüfend durch das trocknende Haar und über die nun glatt rasierte Haut strich.
Es hatte sich nichts geändert, stellte er fest - von Eravier berührt zu werden war schlimmer als alles andere, was er kannte. Die wenigen Tage außerhalb seiner Reichweite hatten ihn von dieser Empfindung nicht kuriert. Es stand nicht im Zusammehang mit der Verbrennung, die Eravier ihm zugefügt hatte, und nicht einmal mit den Schmerzen, die Valions Familie erlitten hatte. Irgendwo, auf tiefster Ebene, spürte Valion eine Verbindung zwischen ihnen und das Interesse von Eravier an ihm, und war davon gleichermaßen fasziniert und abgestoßen. Es war eine entsetzte Neugier, was diesen Mann antrieb sich so zu verhalten, wie er es tat, und gleichzeitig eine völlig emotionslose Faszination für den Wahnsinn, die Valion selbst ängstigte. Er wollte verstehen, und hatte gleichzeitig Angst davor, zu verstehen, weil in dieser Richtung nur Abgründe lauerten.
Das alles schoss durch seinen Kopf, während Eravier ihn betrachtete, und Valion zwang sich, seine Miene gefrieren zu lassen, nichts zu denken, die selbe Abschottung wie Tarn aufzubauen, und in diesem Moment glaubte er zu verstehen, was Tarn durchmachte.
Nachdem Eravier auch Jan inspiziert hatte, gab er den Dienern erneut einen Wink, und sie gaben ihnen verblichene, aber sehr saubere Kleidung, die ihnen beiden ein wenig zu groß war. Valion erhielt ein Hemd und eine Hose und zog sie kommentarlos über, er fror inzwischen außerordentlich. Doch Jan erhielt zunächst nur eine Hose, in die er ebenfalls stumm hinein schlüpfte. Sie wussten beide, was das bedeutete - die Brandmarkung stand Jan immer noch bevor.
Währenddessen erklärte Eravier heiter: „Euer Gesundheitszustand und eure körperliche Verfassung ist recht zufriedenstellend, und ihr seid in die wichtigsten Grundregeln eingewiesen. Das wird nicht das Ende euer Lektionen sein, sondern erst der Anfang. Ihr habt noch viel darüber zu lernen, wie ihr euch zu verhalten habt, aber das hat Zeit, bis wir die Hauptstadt erreichen.”
Valion hoffte schon, dass er endlich verschwinden und die Brandmarkung Tarn überlassen würde, doch nach einer lauernden Pause fuhr Eravier fort: „Es gibt eine letzte Regel, und sie betrifft euch beide in unterschiedlicher Hinsicht.” Er sah zuerst Valion, dann Jan an, und Valion registrierte verwirrt, dass er diesmal seinen Blick viel länger auf Jan ruhen ließ. Ging es um Respekt, war das die letzte Regel? Das würde Sinn ergeben, denn Jan war die ganze Zeit respektlos gegenüber den Wachen und Eravier gewesen. Aber plötzlich lief Valion ein Schauer über den Rücken, ohne dass er sich erklären konnte wieso.
„Loyalität”, sagte Eravier leise, und sein Blick blieb auf Jan fixiert. Valion sah zu ihnen, und plötzlich krampfte sich sein Herz zusammen. Was ging hier vor? Jans Gesicht war zuvor ausdruckslos gewesen, doch verzog sich jetzt zu einem Lächeln. Es hatte nichts mit dem Lächeln gemein, dass er sonst zeigte. Eravier bemerkte es auch, denn er fragte lauernd: „Was kannst du mir über Loyalität berichten, Jan? Hast du etwas dazu zu sagen?” Und Jan nickte stumm, lächelnd.
Das Blut in Valions Adern schien zu Eis zu gefrieren.
Nein. Nein, das konnte nicht sein.
Er versuchte Jans Blick zu erhaschen, doch wünschte im gleichen Augenblick, er hätte es nicht getan. Jegliche Wärme, jeglicher Humor war verschwunden, als er Valion für einen Moment in die Augen sah, und nur kalte Berechnung blieb zurück. Das war nicht Jan, das war jemand anders, den er nicht kannte.
Du wirst hier und in der Hauptstadt viele Einzelkämpfer finden, denen jeder und alles egal ist. Die anderen können zu einer Gefahr für dich werden, hatte Tarn gesagt. Warum hatte er es nicht geglaubt? Warum hörte er immer mehr auf sein Herz als auf seinen Verstand? Wenn es überhaupt dein Herz war, sagte eine kalte Stimme in ihm, und plötzlich standen ihm Tränen in den Augen. Ich habe mich verliebt, protestierte sein Innerstes schwach, aber er wusste auch, dass ein ausschlaggebender Teil seiner Anziehung die Ähnlichkeit zu Nisha gewesen war. Vielleicht war das auch geplant gewesen.
Eravier legte Jan gönnerhaft einen Arm um die Schultern und führte ihn zu den Feuern. Dort bot er ihm einen Becher mit Wein an, den Jan gleichgültig entgegen nahm. Er hustete mehrmals mit vorgehaltener Hand, schien aber sonst völlig ruhig zu sein. „Ich habe herausgefunden, dass… ”, begann Jan, doch Eravier unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Nicht so hastig, wir haben doch alle Zeit der Welt. Ich habe das Gefühl, dass wir das letzte Mal als wir uns sahen überhaupt nicht die Gelegenheit hatten, uns angemessen auszutauschen. Ich muss sagen, ich bewundere dich ein wenig, Jan”, sagte er im Plauderton und winkte währenddessen alle Diener bis auf Tarn fort. Sie hasteten davon, ohne sich umzusehen, und Valion wünschte sich für einen Moment, er könnte das gleiche tun.
„Ich habe mir deine Geschichte von Faure erzählen lassen, als ich ihm deinen Vertrag abgekauft habe, und wie mir scheint, hattest du einiges auszustehen?” „Das kann man wohl sagen”, stimmte Jan bitter zu. „Es sei denn man findet Gefallen daran, so lange verprügelt zu werden, bis man seine Vorlieben ändert.” Eravier nickte verständnisvoll. „Ich hörte, sie haben dreimal versucht dich zu verkaufen, und anscheinend hat es erst beim dritten Mal geklappt. Warum bist du erst jetzt ein Sklave geworden?” Jan grinste kalt und höhnisch. „Oh ja, versucht haben sie das. Das erste Mal bin ich nur weggelaufen. Das war das Beste, was ich tun konnte. Ich habe all die illegitimen Kinder meines Vaters aufgespürt, eines nach dem anderen. War ja nicht schwer, ich habe schließlich seine Visage geerbt. Als ich zurückkam und sie mich wieder verkaufen wollten, konnte ich meinem Vater ziemlich genau darlegen, in welchen Dörfern er sich nie wieder blicken lassen darf. Schade, dass ich nie dazu gekommen bin mein Wissen in meinem Dorf zu verbreiten - die Drohung war einfach zu gut, sie haben mich auf der Stelle in Ruhe gelassen.” Eravier lachte auf, und er strahlte eine bestimmte Art von Zufriedenheit aus, die Valion Übelkeit bereitete. Er war tatsächlich stolz auf Jan. Stolz darauf, wie Jan es geschafft hatte Valion hinters Licht zu führen, stolz darauf, dass Jan Druckmittel gegen seinen eigenen Vater gefunden und eingesetzt hatte. „Aber nachdem alle krank geworden waren, war es sowieso egal, und außerdem hatte ich dann endlich ein Interesse daran, dass nicht alles zum Teufel geht. Meine Eltern und mein Bruder sind schließlich tot, jetzt ist es mein Erbe, und meine Regeln.” „Krankheiten können Familien wirklich tragisch auseinander reißen”, sagte Eravier mit hörbarer Schadenfreude, und Jan schnaubte belustigt und sagte sarkastisch: „Oh ja, wie traurig. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, auf ihr Grab zu pissen.” Eravier lachte auf. „Du bist wirklich ganz nach meinem Geschmack. Eines interessiert mich aber noch, bevor wir zu deinem kleinen Freund kommen”, fuhr Eravier fort, „War es wirklich Zufall, dass ausgerechnet dein großer Bruder, der Stolz deiner ganzen Familie, sowie alle, die dich jahrelang gequält haben, an einer tödlichen Krankheit gestorben sind?” Jan blieb für einen Moment ausdruckslos, dann begann er zu Lachen, und Valion stellten sich die Nackenhaare auf. „Das ist eine gute Frage, was? Ich meine, warum sollte mir nicht daran gelegen sein, dass alles den Bach runter geht?” Er lachte weiter, und sein Lachen ging in Husten über. Es ging so weit, dass Eravier ihm eine besorgte Hand auf die Schulter legte, und er zeigte für einen Moment echte Besorgnis. „Machen wir es kurz, mir scheint, du brauchst noch etwas Ruhe.” „Ich schaffe das schon”, widersprach Jan unwillig, „immerhin habe ich ja noch gar nichts erzählt. Und ich will das wirklich loswerden, um endlich mit dieser ganzen Scharade abzuschließen.” Er nickte kalt zu Valion, der die Fäuste ballte. „Na gut, mein junger Freund”, stimmte Eravier zu, „aber ich denke, wir können zumindest deine Brandmarkung um ein paar Tage verschieben.” „Kann nicht behaupten, dass ich mich unglaublich darauf freue”, meinte Jan. „Nun, wer weiß”, erklärte Eravier mit einem Lächeln und strich durch Jans Haare. „Vielleicht lassen wir diesen Teil auch ausfallen. Du gefällst mir Jan. Ich könnte mir vorstellen, dich zu viel mehr als einem einfachen Sklaven zu machen.” Er wandte sich ab und gab Tarn einen Wink, dass er gehen konnte. In diesem Moment schnellte Jan vor.
Er bewegte sich so abrupt und so gezielt, dass niemand ihn aufhalten konnte. Er nutzt aus, dass Eravier ihm den Rücken zu wandte, packte seinen Arm, riss ihn mit einer Kraft, die Valion ihm nicht zugetraut hatte auf den Rücken und zerrte Eravier herum. Er hatte etwas scharfes, glänzendes in der Hand, das in seine Handkanten einschnitt, so fest hielt er es umklammert. Es war die Spiegelscherbe, die Valion Jan gegeben hatte, und ohne zu zögern drückte er sie Eravier an den Hals. Mit einer Erleichterung, die er nie gekannt hatte, begriff Valion dass Jan zurück war. Der echte Jan.
Ein Dutzend Musketen richtete sich innerhalb von Sekunden auf ihn, und er schrie den Wächtern zu: „Nur eine falsche Bewegung, und das letzte, was ihr von ihm hören werdet, ist ein ziemlich hässliches Gurgeln!” Für einen Moment sah es aus, als würden die Wächter trotzdem versuchen wollen zu schießen, doch Eravier hob panisch die Hand. Auch ihm war klar, dass eine Kugel nicht nur Jan, sondern genausogut auch ihn treffen konnte. „Na, wie fühlt es sich an, wenn der Spieß mal umgedreht wird, du verdammtes Schwein?”, fragte Jan, während er Eravier keuchend weiter zerrte. Er behielt sich den Pestwagen als Schutzschild im Rücken und bewegte sich langsam, aber zielstrebig auf die Stelle zu, wo die Distanz zwischen dem kleinen Waldstück und dem Wagen am geringsten war.
Eravier erkannte seinen Fluchtplan und rang für einen Moment mit ihm, doch Jan schien Kräfte mobilisiert zu haben, die man seinem dürren Körper überhaupt nicht zutraute. Er packte Eraviers Arm nur noch fester, sodass dieser schmerzerfüllt aufschrie, und drückte die Scherbe mit mehr Kraft in sein Fleisch. Träge Rinnsale von Blut begannen Eraviers Hals hinab zu laufen und tränkten das teure Hemd. „Du dachtest wirklich, ich wäre so ein verdammtes Arschloch wie du, was?”, fragte Jan, und er lachte bei diesen Worten, „Du dachtest wirklich, ich verrate jemand den ich liebe, nur um in deinem kranken kleinen Königreich der Hofnarr zu werden. Du bist so ein-” Eravier versuchte erneut sich loszureißen, und Jan trat ihm so heftig gegen den Knöchel, dass er vor Schmerz erneut aufschrie. „-so ein Stück Dreck. Und weißt du, was das Beste ist? Es war so einfach, dich hinters Licht zu führen, weil du von jedem Menschen erwartest zu sein wie du. Meine Eltern waren genau so. Ich habe ihnen überhaupt nichts getan, ihre Krankheit haben sie sich durch ihre eigene Habgier und Gewissenlosigkeit zugezogen! Und ich hoffe, oh nein, ich bete zu Gott, dass dir eines Tages genau das Gleiche passiert! Aber bis es so weit ist, bist du einfach nur ein guter Schutzschild.” Er sah zu Valion, lächelte ihn an, und nickte ihm zu. „Komm her”, sagte er sanft, aber bestimmt, und Valion ließ sich nicht zweimal auffordern. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, vor Sorge, Ungewissheit und Erleichterung, aber trotz seiner Angst war er überglücklich. Jan hatte ihn nicht verraten, keine Sekunde lang.
Sie standen jetzt mit dem Rücken zum Wald, und die Wächter, obwohl sie ihre Waffen nach wie vor erhoben hatten, wagten immer noch nicht zu schießen. Sie waren jetzt in der idealen Position, sich die Dichte der beginnenden Wälder zu Nutze zu machen und zu fliehen. „Wir brauchen ein Pferd”, sagte Jan leise. Valion nickte. „Ich weiß, wo sie sein müssten. Was ist mit ihm?”, fragte er und nickte Eravier zu, der so flach wie möglich zu atmen schien. Seine panischen Augen glitten immer wieder zu der Scherbe, die Jan umklammert hielt. „Lassen wir ihn laufen. Egal ob tot oder lebendig, wir werden verfolgt werden”, sagte Jan nüchtern, um dann hinzuzufügen: „Und so sehr ich ihn auch hasse, seinetwegen werde ich nicht zum Mörder.” Valion wurde erst jetzt bewusst, wie sehr er gefürchtet hatte, dass der alte Jan nur Schauspielerei gewesen war. Für einen Moment war Jan tatsächlich Eraviers Ebenbild gewesen, kalt, distanziert, mitleidlos. Dass er jetzt Gnade zeigte bewies ihm einmal mehr, dass sein Jan mit diesem Schauspiel nichts zu tun gehabt hatte. „Gib mir ein Signal, und dann laufen wir los”, sagte Valion, und Jan nickte. Sie traten noch einen Schritt zurück, und Jan schenkte Eravier noch ein letztes gehässiges Grinsen. „Dann noch viel Spaß mit deiner Demütigung”, sagte er, warf die Scherbe zu Boden und gab ihm einen so groben Stoß in den Rücken, dass Eravier sich nicht auf den Beinen halten konnte und nach zwei Schritten auf den Knien landete. Der erste Schuss krachte und fegte haarscharf an Jan vorbei, doch Valion war seltsam ruhig, sah nur zu Jan. „Verschwinden wir”, sagte Jan, und sie drehten sich um und liefen. Eraviers wutentbrannte Schreie folgte ihnen.
„BRINGT SIE MIR BEIDE!”
Jan ließ sich von Valion führen, und gemeinsam hasteten sie keuchend durch das Unterholz. Valions Plan war, das Lager durch den Wald zu umrunden und auf diesem Weg den restlichen Wachen auszuweichen. Es war einleuchtend, dass die Pferde beim Fluss abgestellt worden waren, denn dort waren sie einfach zu tränken und zu erfrischen. Im Zweifelsfall konnten sie bis zur Nach im Wald ausharren, dann den Fluss im Schutz der Nacht durchschwimmen und so an die Pferde gelangen. Es war riskant, aber machbar.
Was vorher zu Eraviers Vorteil gewesen war, war jetzt zu ihrem, denn das Waldstück war sommergrün und undurchsichtig. Zudem waren sie beide Leichtgewichte, und der weiche, mit Waldgras bedeckte Boden verriet ihre federnden Schritte kaum, während die Wachen, die sie verfolgten einen riesigen Lärm veranstalteten, wenn sie durch die Dickichte brachen und morsche Stämme unter ihren Füßen zermalmten.
Valion und Jan änderten mehrmals die Richtung, verwirrten die Orientierung der Wachen, und schließlich wurde ihr Vorsprung so groß, dass sie sich unter den Wurzeln eines umgestürzten Baumes verbergen und für einen Moment ausruhen konnten. Der gewaltige Baum hatte in Hanglage gestanden und bei seinem Sturz das Erdreich unter sich angehoben, und es entstand eine kleine, geschützte Höhle, in der sie sich verbargen, umgeben von feuchtem Erdreich und Wurzelgeflecht. Irgendwo hörten sie Rufe und das Geräusch brechender Äste, aber es war weit entfernt.
Jan keuchte, die ungewohnte Anstrengung belastete seine ohnehin angeschlagene Lunge, aber er hielt sich tapfer. „Was hast du überhaupt vor?”, fragte Valion verspätet. „Ich habe lange darüber nachgedacht”, antwortete Jan schnaufend. „Ich habe dabei auch an deine und meine Familie gedacht. Dass sie in Gefahr sind, wenn wir nicht handeln.” Valion nickte, und sein Herzschlag beschleunigte sich noch einmal. Er hatte in dem Moment, als er geflohen war, nicht daran gedacht, doch jetzt schnürte die Sorge ihm die Kehle zu. Er hoffte, dass Jan einen guten Plan hatte. „Ich habe darüber nachgedacht, dass es auch andere Sklavenhändler geben muss. Solche, die nicht gerade mit Eravier unter einer Decke stecken. Die Konkurrenz muss ziemlich groß sein, und he, sieh uns an, wir sind nicht übel. Denkst du nicht, dass wir uns noch einmal verkaufen könnten, möglichst an jemand, der Eravier wie die Pest hasst? Ich meine, das wäre nicht besonders schwierig, oder, wer kann den Kerl schon leiden? Wir könnten uns einen Beschützer suchen, jemand der Eravier das Leben zur Hölle machen kann. Jemand, der so viel Einfluss hat wie er.” Valion nickte. Das klang bis zu einem gewissen Grad schlüssig, und selbst wenn es beinhaltete, dass sie weiter Sklaven waren, so würden sie wenigstens zusammen sein. „Aber wie finden wir andere Sklavenhändler?”, fragte Valion. „Ich denke, dafür müssen wir bis in die Hauptstadt. Wir sollten zwei Pferde nehmen und sie unterwegs verkaufen, das Geld verwenden wir für die Reise. Wir könnten auch einen Teil schon mit einer Nachricht zurück nach Hause schicken. Ein Kurier ist teuer, aber nach deiner Beschreibung sind die Pferde gut.” „Ja, die besten von ihnen sind vermutlich einiges wert”, bestätigte Valion unsicher, „Aber ob das reicht?” Jan grinste. „Schlimmstenfalls werden wir eben Straßenbanditen und schlagen uns so durch.”
Valion blickte ihn zweifelnd an, und Jan lachte. „Tut mir Leid, ich kann einfach nicht anders, wenn ich bei dir bin.” Er legte einen Arm um Valion, und plötzlich sah er aus, als wäre er den Tränen nahe. „Du bist das einzig Gute, was mir jemals passiert ist, weißt du das?”, fragte er, und Valion legte erschrocken eine Hand auf seine Wange, streichelte vorsichtig sein Gesicht. „Jan…” „Nein, es ist so, wirklich. Hör zu, wenn etwas schief geht, dann nimm keine Rücksicht auf mich. Es ist egal was aus mir wird, aber dir darf nichts geschehen.” Valion schüttelte wütend den Kopf. „Blödsinn! Wir schaffen es entweder beide, oder gar nicht!” „Val, das bin ich nicht wert”, sagte Jan, und Valion sah, dass er mit Macht die Tränen zurück hielt, die sich in seinen Augen sammelten. Sie hatten beide Angst, wussten nicht, wohin sie ihr Weg führte. Sie hatten noch nicht einmal die Pferde, waren noch nicht aus Eraviers Reichweite, und beide erschöpft. Selbst unter den besten Umständen lagen noch tausende von Gefahren vor ihnen. Jan wollte nur das Beste für ihn, das wusste Valion, selbst wenn es ihn sein Leben kosten würde. Aber konnte er denn nicht verstehen, dass Valion genau so empfand?
„Doch, das bist du. Ich liebe dich, Jan. Ich werde dich niemals allein lassen, egal was passiert”, sagte Valion und küsste ihn.
Die Bäume rauschten, getrieben vom auffrischenden Wind. Er kündigte den Abend an, spielte in dem alten Laub am Boden des Waldes und strich zart durch das Haar und über die Haut der zwei Jungen, eine mütterliche und freundliche Berührung. Der Wald und der Wind wussten mehr über die Ewigkeit als zwei Kinder, und sie wussten auch, dass Worte wie “niemals” nur eine Frage der Perspektive waren. Doch in gegenseitigem Einvernehmen verwehten sie die Rufe aus der Ferne, überdeckten den feindseligen Lärm der Wächter mit dem Knarren der Baumäste und dem leisen Rascheln der Blätter, und schufen für einen gnädigen Moment nur rauschende Stille.