Es war das Schimmern des Wassers, das Valion schließlich den Weg zu der richtigen Lichtung zeigte. Marceus Beschreibung war erstaunlich akkurat gewesen, und es wäre ein idyllisches und ruhiges Fleckchen Erde gewesen, wenn die Situation eine andere gewesen wäre. Der Mond war aufgegangen und warf helles, silbernes Licht auf den Teich und den felsigen Boden. Es schimmerte auch auf dem Fell der Stute, die auf der anderen Seite der Lichtung angebunden im Stehen döste. Die Bäume und Büsche schirmten den auffrischenden Wind ab, und ihre sacht wogenden Äste wirkten selbst nach Einbruch der Nacht nicht bedrohlich, sondern als würden sie die Lichtung umarmen und schützend einschließen.
Doch Valion hatte keine Zeit, sich auf die Schönheit des Ortes einzulassen. Sein Herz schlug bis zum Hals, als er die Lage zunächst aus den Schatten heraus auskundschaftete. Der Ort war leer und verlassen, keine Menschenseele zu sehen.
Zögerlich wagte er sich schließlich aus dem Schutz der Bäume und ging auf das Zentrum der Lichtung zu, wo der Untergrund zum Teich hin abfiel. Er blickte sich immer wieder nervös um, doch noch sah er nichts Verdächtiges oder Ungewöhnliches. Selbst das Wasser war bis auf einige flache Wellen völlig still. Es sah einladend aus, erfrischend und klar, und obwohl er tausend andere Dinge zu tun hatte und keine Zeit auszuruhen, gab Valion der Versuchung schließlich nach. Er trat vorsichtig in das flache Wasser, kühlte das Brennen in seinen zerschundenen Füßen, wusch seine verdreckten Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht, leise und schnell. Es waren nur Sekunden, aber es kam dem Gefühl gleich, nach einem anstrengendem Tag auf dem Feld nach Hause zurück zu kehren, und er atmete einen Moment durch.
Als er sich aufrichtete, stand Tarn einige Meter entfernt von ihm im Schatten der Bäume.
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Tarn hatte die Bewegung am Rand der Lichtung schon früh wahrgenommen und sich wachsam aufgerichtet. Eine einzelne Gestalt bewegte sich durch die Schatten, leise und verstohlen. Die Statur war zu schmächtig, um ein Wächter zu sein, und nach wenigen Momenten schloss er auch Fourmi aus - wer auch immer den Weg hierher gefunden hatte, war bei weitem nicht so geübt darin, nicht gesehen zu werden.
Als er erkannte, dass es tatsächlich Valion war, atmete er erleichtert auf. Er war also doch nicht gefangen genommen worden und hatte auch nicht den Weg verloren, und zu seiner heimlichen Freude schien Valion inzwischen völlig allein zu sein. Dennoch blieb Tarn im zwischen den Bäumen verborgen und beobachtete das Geschehen. Es war möglich, dass Valion verfolgt worden war ohne es bemerkt zu haben, und wenn er Anzeichen dafür sah, würde er sich zunächst darum kümmern müssen. Er hoffte nur, dass Guy und Levin lange genug mit Fourmi beschäftigt waren, um ihm jetzt nicht in die Quere zu kommen, und die anderen Wächter ihre Suche noch nicht auf den Waldrand konzentrierten. Zumindest für den Moment blieb jedoch alles ruhig.
Valion selbst ging schließlich langsam, den Blick über das Gelände schweifend, auf den kleinen Teich in der Mitte der Lichtung zu und betrachtete das Wasser sehnsüchtig. Kurz darauf fällte er eine Entscheidung, stieg vorsichtig bis zu den Knöcheln hinein, kühlte seine nackten Füße und wusch seine Hände. Trotzdem sah er sich immer wieder um, ließ den Blick nie lang genug von der Umgebung, um sich verwundbar zu machen. Es war ein starker Kontrast zu der Sorglosigkeit, die er noch Stunden vorher an den Tag gelegt hatte, und er wirkte gehetzt, aber eine zweite, unschuldigere Assoziation folgte diesem Gedanken auf dem Fuße: Er sah aus wie ein scheues Reh, das sich im Schutz der Dunkelheit hinaus wagte um dort zu trinken, wo sonst die Raubtiere lauerten.
Tarn gab sich schließlich einen Ruck und trat zwischen den Bäumen hervor, hinter denen er sich verborgen hatte. Valions Nerven mussten zum Zerreißen gespannt sein, und er wollte ihn nicht länger mit Unsicherheit quälen. Die Nacht hatte ihm bisher sicher genug abverlangt.
Valion blickte auf, sah ihn, und dann zog ein Lächeln über sein Gesicht. Es war so offen und unmittelbar, dass es Tarn sofort ansteckte und er automatisch zurück lächelte. Für einen Moment sah es aus als wollte Valion kurzentschlossen in direkter Linie durch den flachen Teich waten, machte einen ersten, impulsiven Schritt nach vorn, aber besann sich im nächsten Augenblick. Stattdessen trat er aus dem Wasser und umrundete zügig die Senke, um dann zielstrebig auf Tarn zu zu gehen.
Aus der Nähe sah er Valion noch erschöpfter aus. Nebel, Tau und Schweiß hatten sein blondes Haar durchnässt, sodass es jetzt dunkel und strähnig an seinem Kopf an lag. Seine Hände und Füße waren nach dem Waschen halbwegs sauber, aber die Knie und Säume seiner Hosen und die Ärmel waren schmutzig braun und bedeckt mit Resten von Blättern und Tannennadeln. Ein Teil seines Hemdes fehlte ganz, schräg und nachlässig abgerissen.
Obwohl er so mitgenommen wirkte, war Valion auf eine Art gefasst und ruhig, die Tarn für eine Sekunde stutzig machte, aber dann wurde dieser Gedanke von Erleichterung beiseite gedrängt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie wenig er damit gerechnet hatte Valion an diesem Abend wiederzusehen. Er hatte sich mit der Vorstellung gequält, was dann sowohl mit ihm aus auch mit Valion geschehen würde; jetzt empfand er fast etwas Stolz, dass sein Schützling sich trotz aller Umstände so gut geschlagen hatte.
Kurz vor Tarn verlangsamte Valion seinen Schritt, und er schien zu zögern, was er tun sollte, als wäre er selbst nicht ganz sicher, ob er wirklich sein Ziel erreicht hatte. Man sah es in seinen Augen, er kämpfte mit dem Impuls, einfach weiter zu laufen, jetzt nicht stehen zu bleiben, selbst wenn er für diesen kurzen Augenblick in Sicherheit war. Aber Tarn trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter, und es war als würde etwas in Valion endlich zum Stillstand kommen. „Bist du in Ordnung?”, fragte Tarn dennoch leise, um sicherzugehen. „Ja, ich denke schon”, antwortete Valion, und für einen Moment sahen sie sich nur an und schwiegen, in dem Wissen, dass sie es zumindest bis zu diesem Punkt geschafft hatten. Was auch immer sie heute noch tun mussten, egal was noch passieren würde, zumindest bis jetzt hatten sie noch nicht versagt.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, dass du den Weg nicht mehr findest”, fuhr Tarn schließlich fort. Er glaubte die Antwort bereits zu kennen, aber trotzdem fragte er: „Ist Jan in der Nähe? Wir können nicht lange auf ihn warten.” Die Reaktion kam wie erwartet. Valion presste die Lippen aufeinander, ein Ausdruck von Wut und Missbilligung, und erklärte: „Er wird nicht kommen. Wir haben Marceus getroffen, aber Jan war nicht damit einverstanden, dass wir uns hier treffen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.” Es fiel Tarn schwer, Bedauern zu heucheln, aber er war zu routiniert darin, dass es nicht echt gewirkt hätte. „Das tut mir Leid”, sagte er, doch im Grunde war es ihm herzlich egal und machte alles nur einfacher.
Die so hastig geschmiedete Romanze war also ebenso schnell vorbei, wie sie begonnen hatte. Das ersparte ihm die Mühe, die beiden auseinander zu reißen; wären sie zu zweit hier aufgetaucht, hätte er irgendeine Art von Spaltung provozieren müssen, aber nun würde es genügen Valion von seinem Plan zu überzeugen. Wenn er enttäuscht genug von Jans Mangel an Vertrauen war, würde es ihm möglicherweise sogar egal sein was aus seinem vormalig besten Freund wurde.
Im gleichen Moment verwarf er den Gedanken wieder - es wäre untypisch für Valion gewesen diese Art von Rache zu üben, auch in einer solchen Situation. Selbst enttäuscht war er zu empathisch und zu loyal, um Jan bewusst in Schwierigkeiten zu bringen. Deshalb vermied er sorgfältig, zu kritisch zu klingen, als er fortfuhr: „Ich hoffe Jan kommt auch allein durch, aber vielleicht ist es besser so.” „Warum?”, fragte Valion bitter, und jetzt wirkte er nicht nur wütend, sondern auch verletzt. Er verschränkte hilflos die Arme und blickte zu Boden, als er fortfuhr: „Was soll daran besser sein? Ich habe so viel riskiert, und… Egal. Ich dachte nur…” Er sprach nicht weiter, aber Tarn konnte sich gut vorstellen, was er gedacht hatte. Er hatte geglaubt, dass seine Beziehung zu Jan Bestand haben würde; dass seine absolute Loyalität mit nicht weniger Treue und Vertrauen beantwortet werden würde. Und darin hatte er sich getäuscht.
Ungewollt empfand Tarn Mitleid, und er musste sich zwingen nicht darauf einzugehen. Eigentlich wäre jetzt der Augenblick gewesen in dem er zu dem Gespräch, das sie vor einigen Tagen geführt hatten, zurück kehrte. Er hätte über Vertrauen sprechen können, darüber, dass Gefühle täuschen konnten und Menschen nicht immer das waren, was sie auf den ersten Blick schienen, aber jetzt war einfach nicht die Zeit dafür.
Gleichzeitig bedauerte er, dass Valion diese Erfahrung gerade auf diese dramatische Art und Weise gemacht hatte. Er schien nicht völlig am Boden zerstört, aber das war vermutlich mehr der Situation als seinen tatsächlichen Gefühlen geschuldet. Überlebenswille hatte den Schmerz in Schach gehalten, aber der würde ihn noch früh genug einholen. Im Moment war Valion enttäuscht und verletzlich; er hätte Zuspruch benötigt, jemand der ihm zuhörte und seine Sorge ernst nahm. Doch gerade jetzt durfte Tarn sich nur darauf konzentrieren, wie er ihrer beider Haut retten konnte.
„Er hat dir viel bedeutet, das war nicht zu übersehen. Es war ein Fehler, aber ein Fehler, den du vermutlich irgendwann machen musstest”, versuchte er sich kurz zu fassen. Valion nickte stumm, aber natürlich linderte die wenigen Worte seine Enttäuschung kaum, und dazu schien ihn auch Schuldbewusstsein zu quälen. „Du bist vermutlich enttäuscht. Wir… ich meine, ich bin einfach geflohen…”, sagte er leise, den Blick immer noch zu Boden gerichtet, und Tarn seufzte. „Nicht nur das. Ich hätte nicht erwartet… lassen wir das. Wir haben andere Probleme”, bremste er sich selbst. Es hatte absolut keinen Sinn, Valion jetzt mit einer Belehrung abzustrafen, und es gab erst Recht keinen Raum für eine Diskussion über Jan und auf welche Art er Valion ausgenutzt hatte.
„Was soll ich tun? Kann ich überhaupt mehr tun als einfach nur zu verschwinden?”, fragte Valion unbehaglich.
Das war er, der entscheidende Moment, und Tarn sammelte sich. Er musste jetzt überzeugend sein; wenn er das bewerkstelligte, dann rettete er sie beide damit, und für einen Moment konzentrierte er seine gesamte Aufmerksamkeit nur auf seine Worte.
„Ich fürchte es gibt es nur einen Weg, auch wenn er dir vermutlich nicht gefallen wird. Du musst in meiner Obhut zum Lager zurück kehren und ein Sklave bleiben, bis wir die Hauptstadt erreichen”, sagte Tarn ernst.
Valion schüttelte ungläubig den Kopf, das Gesicht voller offener Verwirrung. Er hatte vermutlich mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Tarn ihm nahe legen würde einfach aufzugeben. „Aber… aber ich bin geflohen! Und jetzt soll ich einfach zurück gehen als wäre nie etwas passiert?!”, fragte er perplex. „Es wird nicht so einfach, wie es jetzt klingt”, stimmte Tarn zu, „Du wirst in Ketten gelegt werden, wahrscheinlich für den Rest der Reise und möglicherweise auch danach, und du wirst vermutlich auch Schläge erhalten. Aber es gibt etwas, das uns in die Hände spielt und dir das Leben retten wird: Eravier geht inzwischen davon aus, dass Jan der Rebellion angehört und nicht du. Es war offensichtlich, dass du nicht darauf vorbereitet warst was er tun würde, und du hast niemand angegriffen. Du bist einfach nur gelaufen, als du die Gelegenheit dazu hattest. Wenn du friedlich zurück kehrst und alle Schuld zurück weißt, sind wir bestenfalls wieder dort, wo wir angefangen haben.” „Und Jan?”, fragte Valion unsicher, aber Tarn zuckte nur mit den Schultern. „Wir können nicht viel für ihn tun. Aber er wird sich vermutlich durchschlagen, egal, ob wir vor Eravier seine Rolle als Rebellenspion bestätigen oder nicht. Das Wichtigste ist, dass wir dich aus der Schusslinie bringen.”
Er hatte kaum geendet, als sich plötzlich die Spitze einer Klinge in seinen Rücken bohrte, und eine Stimme hinter ihm deutlich und bitter amüsiert sagte: „Interessanter Vorschlag, aber Irgendetwas daran stört mich. Ich glaube, meine Rolle dabei. Rebellenspion klingt ein bisschen langweilig, bist du sicher, dass das interessant genug für Eravier ist? Wie wäre es mit Rebellenanführer?” Tarn brauchte nur eine Sekunde, um die Stimme zuzuordnen. „Jan.” „Derselbe”, antwortete der leichthin und wandte sich dann an Valion, das Messer immer noch in Tarns Rücken: „Die Lichtung ist nicht umstellt, Val. Es sind keine Wachen in der Nähe, und soweit ich das einschätzen kann auch sonst niemand. Das ist zumindest schonmal ein Anfang.”
Valion nickte, und endlich verstand Tarn, warum er so ruhig gewesen war, und hätte er auch nur eine Sekunde lang sein Gehirn eingeschaltet und sich nicht von seiner Erleichterung blenden lassen, hätte er die Anzeichen auch zu deuten gewusst. Zum Beispiel, dass Valion auf ein gebrochenes Herz normalerweise wesentlich empfindlicher reagiert hätte, als er vorgegeben hatte. Er hatte Tarn schlicht und ergreifend angelogen, um Jan genug Zeit zu geben die Lage auszukundschaften und sich dabei nicht gescheut, sich selbst als Köder anzubieten. Das war nicht nur mutig, sondern auch ziemlich dreist.
Trotzdem schien Valion die Situation nicht zu behagen, er war nicht einmal stolz auf seine geglückte Finte. Er warf Tarn einen entschuldigenden Blick zu und sagte zu Jan: „Nimm jetzt das Messer runter.” Jan seufzte und drückte rein aus Prinzip fester zu, und die spitze Klinge bohrte sich noch etwas vernehmlicher in Tarns Rücken; nicht fest genug, um ihn zu verletzen, aber stark genug, ihn nachdrücklich zu warnen. „Du weißt, wie ich dazu stehe, oder?”, fragte er, aber Valion ließ keine Diskussion zu. „Weiß ich. Trotzdem.” Und zu Tarns Erstaunen verschwand der Druck der Klingenspitze aus seinem Rücken, und obwohl Jan ihn weiter beobachtete, umrundete er ihn lässig und stellte sich an Valions Seite, ein stummer Beschützer, wartend auf Befehle.
Befehle? Von Valion? Tarn hätte jeden ausgelacht, der ihm sagte, dass Valion dazu fähig war sich derartig durchzusetzen, aber jetzt, da er es mit eigenen Augen sah, war offensichtlich, welche Dynamik zwischen den beiden Jungen herrschte. Valion, einen Kopf kleiner und ein Jahr jünger als sein Freund, gab ruhig, aber bestimmt den Ton an, und Jan beugte sich seinem Urteil erstaunlich reibungslos. Vielleicht war das Tarns Glück, aber er überwand die Überraschung kaum. Was auch immer in den letzten Stunden geschehen war, es hatte die beiden nicht nur zusammengeschweißt, sondern etwas Grundlegendes zwischen ihnen verändert, das er nicht deuten konnte.
„Tut mir Leid”, begann Valion entschuldigend, „aber wir mussten sicher gehen, dass niemand in der Nähe ist.” „Dafür habe ich schon gesorgt. Du hättest mir vertrauen können”, wandte Tarn ein, und er hasste es, dass er seine Irritation ungewollt so offen zeigte. Er hoffte, dass es nicht völlig offensichtlich war, aber etwas in Jans Blick sagte ihm, dass er es sehr wohl bemerkte. Ein Lächeln stahl sich auf Valions Lippen, als er sagte: „Ja, aber ich sollte schließlich niemand vertrauen.”
Das galt nicht für mich, dachte Tarn. Seine eigene Wut und Fassungslosigkeit überraschten ihn, denn sie waren völlig irrational. Er selbst hatte Valion gesagt, dass er nicht auf die Unterstützung oder das Wohlwollen anderer bauen durfte, aber zu diesem Zeitpunkt war er sicher gewesen, dass Valion ihm längst vertraute. Verdammt, Valion hatte es Tarn an diesem Tag sogar selbst zugesichert. Und jetzt, nur wenige Stunden nach seiner Flucht, war er plötzlich so vorsichtig und vernünftig wie noch nie. Es kam Tarn langsam vor, als würden sich in dieser Nacht alle seine Fehler auf spektakuläre Art gegen ihn wenden. Seine Einmischung in die Pläne der Rebellion, seine Warnungen an Valion, seine Unfähigkeit, Jan aus dem Weg zu räumen, jede dieser Entscheidungen entpuppte sich als Falle. Es wäre komisch gewesen, ein grotesker Witz, wenn nicht sein Leben auf dem Spiel gestanden hätte.
„Wir haben Marceus tatsächlich getroffen”, begann Valion von Neuem, immer noch mit dem selben, entschuldigenden Blick. Zumindest schien er weiterhin gewillt zu sein Rat einzuholen, sonst wäre er vermutlich in der nächsten Minute aufs Pferd gestiegen und auf und davon gewesen. Tarn zwang sich, ruhig zu bleiben. Er musste mit dem arbeiten was er hatte, auch wenn es ihm schwer fiel. Deshalb antwortete er neutral: „Das sehe ich, er hat euch immerhin bewaffnet”, und verbarg seinen Groll darüber, dass das Stilett, das er Marceus gegeben hatte, jetzt ausgerechnet in Jans Hand lag. Das war es also gewesen, was er im Rücken gespürt hatte - er war mit seiner eigenen Waffe bedroht worden. Er fügte diesen Fakt der wachsenden Liste von Ironien hinzu, mit der er heute Abend fertig werden musste.
Valion nickte zustimmend und fuhr fort: „Er hat uns in deine Richtung geführt, und er meinte, du willst uns helfen. Ich weiß, es ist alles aus dem Ruder gelaufen, und dein Vorschlag wäre gut, wenn ich wirklich allein hierher gekommen wäre. Aber wir bleiben zusammen. Wenn du uns nur das Pferd überlässt und alles, was du sonst entbehren kannst, dann verschwinden wir, und du bist uns los. Ich denke das ist die beste Lösung.”
„Es ist längst nicht mehr damit getan, euch loszuwerden, Valion”, sagte Tarn. Es verwirrte Valion sichtlich, dass er ihm widersprach. „Aber Marceus sagte-” „-dass ich euch helfen will, nehme ich an. Aber ich helfe euch nicht, wenn ich euch jetzt einfach gehen lasse”, unterbrach Tarn ihn. „In sehe keine Alternative als das, was ich dir angeboten habe, Valion. Bleib hier, und lass Jan gehen. Alles andere wird eure Situation nur verschlimmern.” „Schwachsinn”, griff Jan ärgerlich in das Gespräch ein, „Was spielt es für eine Rolle, ob Valion hier ist oder mit mir kommt? Eravier wird uns verfolgen, egal ob allein oder zu zweit. Es geht schließlich um den Preis für unsere Haut.” „Und genau das begreift ihr nicht; es wird schwierig genug sein, Eravier davon abzubringen, einen einzelnen Rebellen zu verfolgen. Aber er wird dich entkommen lassen, weil du im Prinzip nichts wert bist, Jan, und das weißt du selbst genau.
Aber denkt ihr er wird auch nur eine Sekunde zögern alles was zwischen ihm und euch steht nieder zu brennen, wenn ausgerechnet du ihm seinen derzeit wertvollsten Sklaven stiehlst und ihn - natürlich nur nach seiner Vorstellung - zu einem Rebell machst?”, fragte Tarn schneidend. Er starrte jetzt nur Jan an, der misstrauisch und wütend zurück blickte.
Valion beobachtete sie, und plötzlich schien er noch wachsamer als zuvor, und das war noch etwas, das Tarn nicht vorhergesehen hatte. Valion hatte ihn in den letzten Tagen des öfteren betrachtet, ihm bei seiner Arbeit zugesehen, ihn hin und wieder gemustert, wenn er versuchte seine Stimmung zu deuten. Aber er hatte Tarns Handlungen nie derartig genau analysiert oder sich so schnell ein Urteil darüber gebildet, wie er es jetzt tat. Langsam beschlich Tarn der Verdacht, dass sein schwerwiegendster Fehler immer noch direkt vor ihm stand - er hätte Jan um jeden Preis aus dem Weg räumen müssen, denn was auch immer er mit Valion angestellt hatte, es gereichte ihm nur zum Nachteil.
Er zwang sich, seine Wut zu zügeln, und sprach ruhiger weiter: „Ich sage es nicht gern, aber selbst wenn ihr allein keine Ziele seid; ihr werdet es sein, wenn nicht mindestens einer von euch heute Nacht in Gefangenschaft kommt. Oder stirbt.”
Die beiden Jungen schwiegen einen Moment, Jan misstrauisch und wütend, Valion verwirrt und aus der Bahn geworfen. „Ich verstehe das nicht”, sagte er schließlich, und sein Blick wanderte zwischen Jan und Tarn hin und her, „»Ausgerechnet« Jan? Was soll das heißen?” Jan zuckte zusammen. Ihm war durchaus bewusst, welche Verantwortung er trug, Valion wiederum schien es noch nicht vollständig zu begreifen. Es rückte Jan nicht gerade in ein gutes Licht, und genau deshalb legte Tarn es noch einmal dar: „Eravier macht schon länger Jagd auf die Rebellion, zumindest, seit wir das erste Mal seine Pläne durchkreuzt haben. Deshalb hat er auch nach Hinweisen gesucht, die dich belasten könnten. Und was war naheliegender, als Jan dafür einzuspannen?
Eravier fand Gefallen an Jan. Er hat nicht nur seine Aufmerksamkeit erregt, Eravier hat Hoffnungen in ihn gesetzt. Dass er ihn nicht nur verraten, sondern als vermeintlicher Rebell auch noch direkt vor seinen Augen operiert hat, ist ein doppelter Affront.” „Ich hatte keine Wahl”, fauchte Jan. „Vielleicht”, sagte Tarn schneidend, „Aber hattest du auch keine andere Wahl als ihm fast die Kehle durchzuschneiden, oder ihn zu demütigen? Als du ihn in die Knie gezwungen hast, war das Notwehr?”
Valion hob die Hand als Zeichen, dass er genug gehört hatte, und sein Blick war jetzt sehr ernst. Jan beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas zu, und sie tauschten einen kurzen Blick; eine wortlose Botschaft, die nur sie beide entschlüsseln konnten. Es war entnervend. Dann schüttelte Valion den Kopf. „Ich verstehe, was du sagen willst. Gut, so einfach wird es also nicht. Aber wir bleiben zusammen, egal was kommt. Wenn es so nicht funktioniert, brauchen wir einen neuen Plan.”
Für einen Moment war Tarn sprachlos. In den Sekunden danach hätte er Valion am liebsten ins Gesicht geschlagen. Es war, als hätte er jedes seiner Worte gehört, verstanden… und dann ignoriert. Er ballte die Fäuste und verbot sich, aggressiv zu werden. Bevor er nicht jedes Argument vorgebracht und jede Möglichkeit ausgelotet hatte, Valion von seinem Plan zu überzeugen, würde er sein Vorgehen nicht ändern.
„Tut mir Leid, aber ich bin ratlos, Valion”, sagte er so neutral wie möglich. „Du sagtest, du könntest unseren Tod vortäuschen”, begann Valion, aber Tarn hatte damit gerechnet, dass er das vorbringen würde. „Das wäre nur glaubwürdig, wenn ihr nicht gerade auf der Flucht wärt, und wir hätten zu viele Augen, die auf jede Ungereimtheit achten würden. Hoffnungslos.” „Es muss einen anderen Weg geben”, sagte Valion, „Wir müssen ihn nur finden.” „Val, das ist alles sinnlos und kostet uns zu viel Zeit”, warf Jan ungehalten ein. „Lass uns beim ursprünglichen Plan bleiben. Soll Eravier uns verfolgen, was kümmert es uns? Denkst du, er kann noch viel wütender werden als jetzt? Wie schlimm kann es werden?”
Tarn und Valion wechselten einen Blick, und in diesem Moment fand der unsichtbare Dialog, der zuvor zwischen Valion und Jan bestanden hatte, zwischen ihnen statt. Er versteht es nicht. Jan war nicht bewusst, wie gefährlich Eravier war, das war eindeutig, aber sie beide teilten dieses Wissen. Es war mehr als Bösartigkeit oder Wut, die in Eravier schlummerte - es war Besessenheit. Valion erinnerte sich daran, wie Eravier seiner Mutter ohne mit der Wimper zu zucken die Nase gebrochen hatte, mit einem Tritt ins Gesicht. Die Art, wie er seine kleinen Schwestern hatte heraus zerren lassen, um ihn verwundbar zu machen. Wie er ihn zu Boden geworfen und ihm fast das Schlüsselbein gebrochen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war er in guter Stimmung gewesen. Und er sah in Tarns Augen, dass er an das selbe dachte und vermutlich Schlimmeres. Jan fürchtete sich nicht, weil er Eraviers wahres Gesicht nie gesehen hatte, dass wussten sie beide.
Und das war für Tarn der richtige Moment, den Keil tiefer zu treiben. „Diese Diskussion bringt uns nicht weiter. Valion, können wir kurz unter vier Augen sprechen?”, fragte er. Jan runzelte wütend die Stirn, und Valion schien unsicher, aber schließlich nickte er.
„Val-”, begann Jan, aber Valion legt ihm eine beschwichtigende Hand auf den Arm. „Schon gut, ich weiß.” Da war er wieder, der schweigende Dialog, genauso entnervend und unklar wie beim ersten Mal, und dann drückte Jan Valion das Stilett in die Hand, weder auffällig noch versteckt. Er machte keine große Sache daraus, aber er verbarg es auch nicht, und die Botschaft war eindeutig: Von den beiden war er derjenige, der Tarn ohne zu zögern abgestochen hätte, wenn er eine falsche Bewegung machte. Valion nahm es widerwillig entgegen. „Du weißt ja, wo das spitze Ende hingehört”, murmelte Jan in sein Ohr, laut genug, dass Tarn es auch hören könnte, dann wandte er sich ab und entfernte sich ein paar Schritte, und Valion trat zwei Schritte weiter auf Tarn zu.
Der Dolch lag unsicher in Valions Hand, ein ungewohntes Gewicht, und zumindest in diesem Moment wirkte er wieder viel mehr wie der unschuldige Junge, der er vor Stunden noch gewesen war. „Halte es anders”, sagte Tarn sanft und griff nach seiner Hand. Valion zuckte zusammen, aber dann hob er die Hand und ließ seine Haltung korrigieren. „Ein Stilett ist nur zum Zustechen nützlich, du kannst damit niemand schneiden”, erklärte Tarn ruhig. Valion nickte, und die Spannung zwischen ihnen löste sich etwas, so wie Tarn es beabsichtigt hatte. In diesem Moment waren sie Mentor und Schüler, und Valion hörte aufmerksam zu, als Tarn erklärte: „Es ist keine sehr vielseitige Waffe, aber sie ist trotzdem sehr gefährlich. Du wartest am besten den geeigneten Moment ab und stichst dann gerade zu.” „Die Klinge ist sehr schmal. Damit kann ich niemand töten, oder?”, fragte Valion nach.
Die Vorstellung schien ihn zu beruhigen. Es passte zu ihm, dass er sich davor scheute gewalttätig zu werden, aber Tarn nahm ihm die Illusion schnell. „Im Gegenteil. Wenn du auch nur die Hälfte der Klinge in den Oberkörper hinein treibst, egal wo, ist es das ziemlich sicher tödlich. Vielleicht nicht sofort, aber innerhalb von Stunden oder Tagen. Eine Stichwunde blutet stark und entzündet sich fast immer.”
„Ich will niemand töten”, antwortete Valion unbehaglich, und Tarn nickte. „Alles andere hätte mich auch überrascht. Aber ich fürchte du wirst es tun müssen, wenn du wirklich vorhast mit Jan zusammen zu bleiben. Oder du wirst in Kauf nehmen müssen, dass ihr getötet werdet. Denn einen dritten Weg wird euch Eravier nicht lassen, und ich kann dann nichts mehr ausrichten.”
„Du willst wirklich, dass Jan und ich uns trennen, bis alles ausgestanden ist”, stellte Valion sachlich fest. Er sah jetzt wieder sehr ernst aus, misstrauisch, als hätte er diesen Gesprächsverlauf erwartet, und Tarn hatte das Gefühl, in eine Falle gelaufen zu sein. Plötzlich fühlte er sich unsicher, und das ergab überhaupt keinen Sinn. Valion würde vernünftig handeln, er begann endlich zu verstehen, was auf dem Spiel stand. Zwangsläufig würde er sich auf seine Seite schlagen.
„Ich halte es für das Beste”, gab er vorsichtig zu, „Für eure eigene Sicherheit, und die aller anderen, die sonst das Pech hätten, in eure Flucht hineingezogen zu werden. Es wäre eine Trennung auf Zeit, das sollte dir doch klar sein. Eure Beziehung sollte stark genug sein, das durchzustehen”, versuchte Tarn zu argumentieren, und plötzlich lachte Valion. Es war ein unheimliches Geräusch, weil es nicht zu ihm passte. Es klang bitter, zynisch, mehr nach einer anderen Person als nach ihm selbst. „Und was wird aus Jan? Was soll er tun?”, fragte er. „Du sprichst immer nur davon, dass wir allein besser dran wären. Aber das bin nur ich. Jan ist krank, er kann kaum noch laufen. Wie soll er das schaffen?”
„Wir finden eine Lösung dafür”, antwortete Tarn ruhig, aber gleichzeitig wollte er sich am liebsten selbst verfluchen. Er hatte die ganze Zeit nur Valion im Auge behalten und was aus ihm werden würde. War wirklich so offensichtlich gewesen, wie egal ihm Jans Schicksal war? „Die Rebellion ist überall im Land verstreut, wenn es darum geht, finden wir ein Versteck für Jan, bis sich alles beruhigt hat.” „Und wie soll ich das nachprüfen?”, fragte Valion, „Wer sagt mir, dass er nicht für immer verschwindet? Dass er nicht in der Sekunde ausgeliefert wird, in der ich-”
„Was zum Teufel ist los mit dir?”, unterbrach Tarn ihn plötzlich, und er war selbst überrascht, wie wütend und hilflos er sich plötzlich fühlte. „Denkst du wirklich, dass ich dich gerade jetzt im Stich lassen würde? Du hast mir immer vertraut, warum nicht jetzt?” Valion sah ihn perplex an, und für einen Moment schaffte er es nicht ganz, seine wahren Gefühle zu verbergen. Und Tarn begriff.
Er hatte es noch nie mit diesem Valion zu tun bekommen. Verdammt, der Junge lernte schnell, er hatte selbst Tarn damit getäuscht. Er hatte in ihm wie in einem offenen Buch lesen können, aber dieses Buch war jetzt geschlossen, und er verstand endlich, dass er ausgesperrt war. Er hatte keinen Zugang mehr zu Valions unmittelbaren Gedanken, und seine Reaktionen waren genauso kalkuliert und durchdacht wie Tarns eigene. Valion wusste, dass er manipuliert wurde, dass die Trennung von Jan ein Trick war, und genau deshalb sperrte er sich so völlig dagegen. Erst jetzt, durch Tarns offene Frage, begann er an dieser Tatsache zu zweifeln.
Es war offensichtlich, wer ihn mit diesem Misstrauen geimpft hatte. Tarn war nicht länger ein Vertrauter, nicht mehr die Person, der Valion sich völlig öffnete. Er hörte jetzt auf Jan, und der war klug genug, Tarn als genau das zu betrachten und zu behandeln, was er war. Selbst jetzt behielt er die Umgebung, das Pferd und Tarn selbst immer im Auge und ließ in seiner Wachsamkeit keine Minuten nach. Natürlich hatte er Valion darauf vorbereitet, dass sie verraten werden konnten - Verrat war vermutlich ebenso seine zweite Natur wie die von Tarn.
Er hatte Valion verloren, und es war fast lächerlich, wie schwer er diese Tatsache hinnahm. Hätte er nicht damit rechnen müssen?
Aber das hatte er nicht. Nicht so schnell. Vielleicht hatte er die Verbindung zwischen den Jungen von Anfang an unterschätzt. Sie waren nur ein paar Tage zusammen gewesen, aber möglicherweise hatten ihre gemeinsamen Erlebnisse sie zusammengeschweißt. Oder es war mehr als das; ungewollt erinnerte er sich daran, wie nahe Jan und Valion sich bereits gekommen waren. Es war einfach, ihre Romanze abzutun, weil sie noch so jung waren, aber vielleicht gab es zwischen ihnen eine beständige Verbindung. Wer konnte das jetzt schon sagen?
Doch im Grunde war das alles unwichtig. Fakt war, egal, worauf sich ihre Anziehung nun gründete, er würde sie keinesfalls mit Worten auseinander bringen können. Und selbst wenn Valion mitspielte, selbst wenn er im Austausch für Jans Sicherheit zurückkehrte, er würde nie wieder so zugänglich sein, wie er es zuvor gewesen war. Jede Entscheidung, alles, was er tat, würde durch die zynischen Augen von Jan eine neue Betrachtungsweise erhalten. Und wenn sie getrennt würden? Würden sie Mittel und Wege finden, zueinander zurück zu finden.
Vielleicht war Valion damit sogar aus dem Spiel. Die Rebellion hatte sich ihm gewidmet, weil er noch jung war, beeinflussbar, formbar. Wenn niemand mehr an ihn heran kam, war er praktisch nutzlos geworden. Die Rebellion würde nicht zögern, Tarn die Schuld dafür zu geben, weil er in diesem einen, entscheidenden Augenblick gezögert hatte. Er wünschte, er hätte Jan beseitigt, als es noch so einfach gewesen war. Aber es war auch jetzt noch nicht zu spät, und bei diesem Gedanken befiel ihn eine bleierne Ruhe.
„Glaubst du mir, dass ich euch helfen will?”, fragte Tarn. „Ich weiß es nicht”, antwortete Valion, und das war die Wahrheit, es war deutlich in seinem Gesicht abzulesen. Für einen Moment ließ er seine Abwehr fallen, strich sich müde über die Augen und sah Tarn dann direkt an, mit offenem Blick. „Ich bin seit Stunden unterwegs, es ist kalt, meine Füße sind wund, Jan ist verletzt. Ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Als wir geflohen sind, schien alles klar. Ich dachte es wäre eine gute Entscheidung.” „Und glaubst du das immer noch?”, fragte Tarn. „Meistens ja. Wir sind noch am Leben. Wir sind zusammen. Aber…” Er schwieg einen Moment, bevor er sagte: „Aber ich weiß nicht mehr, wem ich noch vertrauen kann. Ich war mir selbst bei Marceus nicht sicher. Und jetzt bin ich es auch nicht.” „Und das macht dir zu schaffen”, stellte Tarn leise fest.
Es war offensichtlich, und es weckte sein Mitleid. Valion war immer noch so verletzlich wie zuvor, er zeigte es nur nicht mehr offen. Er konnte sich durchsetzen und das Geschehen in der Hand behalten, aber er zahlte dafür mit Zweifeln, die er nur mit sich selbst ausmachte. Ihm fehlte der harte Kern, der Jan oder Marceus eigen war, der egoistische Überlebenswille und die Gleichgültigkeit. Wenn die Zweifel überhand nahmen, wenn er seine Entscheidungen nicht mehr vor sich selbst rechtfertigen konnte, wenn irgendwann Blut an seinen Händen klebte, würde Valion innerlich absterben. „Ich will dir vertrauen, Tarn”, sagte er, und er meinte es diesmal nicht weniger ernst als zuvor. „Ich weiß, dass ich dir vorher vertraut habe, aber jetzt ist… alles anders. Ich wollte es nicht, aber es ist so.”
„Du kannst immer auf meine Unterstützung bauen, Valion. Daran hat sich nichts geändert”, sagte Tarn. Er hob die Hand und strich ihm durchs Haar. Valion sah ihn stumm und dankbar an, dankbar dafür, dass sich nicht alles geändert hatte, und es bestärkte Tarn nur in seiner Entscheidung.
Genauso wie die Tatsache, dass Jan, der sie schon die ganze Zeit misstrauisch aus den Augenwinkeln betrachtet hatte, zu ihnen trat. „Das reicht jetzt”, sagte er kalt und packte Valions Hand, der sich irritiert zu ihm um wandte. „Jetzt reden wir unter vier Augen.” Valion zögerte, aber dann warf er Tarn einen um Verständnis bittenden Blick zu und wandte sich dann ganz zu Jan hin. „Gut. Aber wir können nicht ewig so weiter machen. Wir brauchen eine Entscheidung”, sagte er. Er versuchte ein guter Vermittler zu sein, und Tarn beneidete ihn nicht darum, dass er nicht nur eine Entscheidung fällen, sondern auch zwischen ihm und Jan schlichten musste. „Ich will nur das Beste für Valion”, versuchte Tarn die Spannung beizulegen, doch Jan warf ihm einen kalten Blick zu, der seine Gefühle offen zeigte. Er misstraute ihm nicht nur, er hasste auch, welchen Einfluss Tarn auf Valion hatte, und er machte sich nicht die Mühe, diesen Hass zu verbergen, als er sagte: „Ja, und ich will das Beste für uns Beide.” Dann zog er Valion außer Hörweite, und sie begannen ein intensives, geflüstertes Gespräch, von dem Tarn nur einzelne Bruchstücke verstehen konnte.
Aber er musste kein einziges Wort ihrer Diskussion hören um zu wissen, dass er diesen Kampf verlieren würde. Er hatte alles an Argumenten ausgespielt was er hatte, und es reichte nicht. Selbst jetzt, vertieft darin, ihre gegensätzlichen Meinungen zu vereinen, waren sich Jan und Valion nah. Er betrachtete die Gestik und Mimik, und alles kam ihm bekannt vor. Sie standen dicht voreinander, sahen sich direkt in die Augen, argumentierten einander zugewandt. Vertraut. Er konnte sie nicht trennen, nicht im Guten. Tarn fragte sich, ob Marceus es gesehen hatte und ob er eine Chance gehabt hätte die beiden auseinander zu bringen, als noch Zeit war. Warum hatte er nicht daran gedacht? Egal. Er konnte seine Fehler nur auf eine Art korrigieren.
Ich will wirklich das Beste für dich, Valion. Ich fürchte nur, du wirst es nicht zu schätzen wissen, dachte Tarn und legte selbst die wenigen Schritte zurück, die er benötigte um seine Muskete zu erreichen, die immer noch im Schatten eines Baumes an dessen Stamm gelehnt stand. Weder Valion noch Jan sahen sich nach ihm um, zu vertieft in ihren Streit. Sie bemerkten nicht sofort, dass er nach der Waffe griff, anlegte und zielte.
Er würde diese Nacht rückgängig machen, und alles würde zu seinem vorherigen Zustand zurückkehren. Er würde wie zuvor über Valion wachen, ohne dass Jan sich einmischte, und Valion würde sein Vertrauen und seine Sorglosigkeit zurück gewinnen. Der Junge hatte einen Fehler gemacht, sich in eine Situation gestürzt, die er nicht bewältigen konnte und sich auf eine Person eingelassen, die ihn nicht schützen konnte. Aber dieser Fehler ließ sich korrigieren. Um all seine Pläne umzusetzen und beinahe nebenbei seine eigene Haut zu retten musste Tarn nur einen einzige Figur aus dem Spiel nehmen.
Er hatte Jan im Visier, als plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit völlig beanspruchte. Es war in dem Moment geschehen, als Valion und Jan völlig in ihr Gespräch vertieft waren und er seine Aufmerksamkeit aufs Zielen konzentriert hatte. Sie waren nicht mehr zu dritt auf der Lichtung, sondern zu viert.
Die letzte Spielfigur, die Tarn aus den Augen gelassen hatte, war aus den Schatten des Waldes aufgetaucht wie ein Geist. Jede seiner Entscheidungen hatte sich an diesem Abend gegen ihn gewandt, aber vielleicht nicht diese. Vielleicht würde er nicht derjenige sein, der Jan tötete. Und während Jan und Valion sich reflexartig um wandten, spiegelte sich das fahle Mondlicht auf der erhobenen Scherbe aus Spiegelglas, so lang und vielleicht doppelt so dick wie ein Finger. „Ich finde es sehr erfreulich, dass wir uns heute Abend noch einmal begegnen, Jan”, sagte Eravier mit einem Lächeln, dass das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Ich wusste doch, dass auf dich Verlass ist. Du hast sie tatsächlich in Schach gehalten”, sagte er an Tarn gewandt, aber seine Augen zuckten nur für einen Moment in seine Richtung, bevor sie wieder auf Jan lagen. Er hielt die Scherbe, umwickelt mit einem Fetzen Stoff, als Waffe in den Händen. Der Wind zerrte an seinem von Tau und Nebel durchnässten Hemd und den wirren Haarsträhnen, die sich gelöst hatten und ihm ins Gesicht hingen. Das Blut, das den Stoff seines Kragens vor Stunden hatte, war in Spritzern und Flecken getrocknet und wirkte im Mondlicht schwarz wie Teer, aber seine grauen Augen leuchteten dafür umso heller. Er war ruhig und fast heiter, und das war schlimmer als jeder Wutausbruch. Sein breites, amüsiertes Lächeln verschwand nicht, als er sagte: „Auf diese Weise kann ich Jan etwas zurück geben, das er offensichtlich bei seinem überstürzten Aufbruch vergessen hat.”
Im nächsten Moment geschah alles auf einmal. Eravier trat er einen Schritt vor und griff Jan an. Valion machte zwei entsetzte Schritte zurück, das Stilett in seiner Hand völlig vergessen, und wandte sich zu Tarn um. Er sah die schussbereite Waffe in seinen Händen, und für einen Moment sah man in seinen Augen Erwartung; er war überzeugt, dass Tarn Eravier hatte kommen sehen und auf ihn gezielt hatte. Doch im gleichen Moment trat Tarn einen Schritt auf Valion zu und ließ die Waffe sinken, um nach ihm zu greifen. Es war sein Glück, dass Valion nicht begriff, was er vorhatte, bis er das Gelenk der Hand griff, in der immer noch das Stilett lag und Valion weiter zurück zog, aus Jans und Eraviers Reichweite. Jan wiederum sah nicht, was in seinem Rücken geschah, er war in diesem Moment zu beschäftigt damit, Eraviers Angriff auszuweichen, und er verdankte es nur seiner schnellen Reaktion, dass sich die Scherbe nicht in seinen Hals bohrte und ihm die Kehle zerfetzte. Er sprang zurück, und die Glasscherbe traf seinen abwehrend erhobenen Arm und brachte ihm einen tiefen Schnitt bei, dann schlug er mit der geschlossenen Faust nach Eravier und verfehlte ihn nur knapp.
Valion begriff plötzlich, dass Tarn keinesfalls versuchen würde, gegen Eravier anzugehen, sondern ihn selbst stattdessen aus dem Gefecht herauszog, und dass ihm der Dolch entwunden wurde. Seine Verwirrung schlug in Sekunden in Wut um, und plötzlich sah sich Tarn damit konfrontiert, dass Valion sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, aus Jans Reichweite gezerrt zu werden. „Lass das, du wirst Jan nur behindern!”, flüsterte Tarn angestrengt, doch Valion rang mit ihm und versuchte mit aller Kraft die Gewalt über den Dolch zu behalten. Er konnte es nicht schaffen, Tarn war einen Kopf größer und dreißig Kilo schwerer, aber Valion ging so entschlossen gegen ihn an, dass Tarn Mühe hatte, ihn zu bändigen.
Nur drei Schritte neben ihnen umkreisten sich Eravier und Jan und parierten ihre jeweiligen Schläge und Ausfälle. Obwohl Jan immer wieder Schnitte an seinen Armen davon trug und Mühe hatte mit Eraviers Tempo mitzuhalten, schlug er sich gut, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte. Das war offensichtlich nicht das erste Mal, dass er unbewaffnet gegen einen Gegner mit einer Stichwaffe kämpfte; er verlegte sich darauf, auszuweichen und in geeigneten Momenten zu versuchen, Eravier die Scherbe aus der Hand zu schlagen oder seinen Arm zu packen. Die restliche Zeit hielt er sich leichtfüßig außer Reichweite und sparte seine Energie, die Eravier für seine schnellen Angriffe verschwendete.
Es wurde immer wahrscheinlicher, dass Jan es schaffen würde in den Besitz der Scherbe zu gelangen und Eravier zu überwältigen, und während Tarn immer noch mit Valion rang, suchte er verzweifelt nach einer Alternative. Die alte, eiskalte Ruhe lauerte unter der Oberfläche - noch bestand keine Gefahr, aber er würde nicht zulassen, dass Eravier ernsthaft verletzt wurde, selbst wenn es bedeutete Jan den Dolch selbst in den Rücken zu rammen. Das Problem war, dass er dazu keine Gelegenheit bekam wenn Valion weiter verzweifelt versuchte sich mit ihm zu schlagen, selbst wenn er damit keinen Erfolg hatte.
Und dann wurde ihm bewusst, dass es eine weitere Möglichkeit gab, und für einen Moment fragte er sich, ob er wirklich so abgebrüht war. Vermutlich ja. Es war der perfekte Plan. Das Problem an perfekten Plänen war, dass sie irgendwann als Problem zurück kehrten, so wie heute. Aber hatte er denn eine Wahl? Er hatte Valion schon längst verloren. Es spielte wohl kaum mehr eine Rolle. Er wartete nur noch auf den richtigen Moment. Er wusste, dass er kommen würde, und er wusste, wie Valion und Jan reagieren würden.
Jan schaffte es schließlich, nahe genug an Eravier heranzukommen, um seine Hand zu packen. Wie Tarn und Valion rangen sie für einen Moment miteinander, aber im nächsten Moment verpasste Jan Eravier einen Schlag ins Gesicht, der ihn zurück taumeln ließ. Aus Reflex ließ er die Scherbe los, die Jan geschickt auffing, und jetzt wendete sich das Blatt endgültig. Tarn ließ Valion los, der völlig perplex plötzlich den Dolch in der Hand hielt. „Halte ihn auf”, flüsterte Tarn, „und dann verschwindet”, und er drehte Valion an der Schulter herum und stabilisierte noch einmal, wie zuvor, die Hand, in der er das Stilett hielt. Valion ließ es perplex geschehen, während er Jans Situation erfasste und die Gefahr erkannte, in der Eravier sich jetzt befand. Er wusste ebenso gut wie Tarn, dass Jan seine Chance nutzen würde, als er einen Schritt auf Eravier zu machte und ausholte.
„Jan, nicht!” Valions Blick war starr geradeaus auf Jan gerichtet, und er machte einen Schritt in seine Richtung.
Es war so einfach, so berechenbar. Valion würde sich immer zu Jan wenden, immer zu ihm laufen, ihn immer daran hindern, einen Mord zu begehen. Und Jan würde immer auf ihn hören, weil er dieses zweite Gewissen brauchte. Und deshalb wandte er sich zu Valion um, als er seinen Namen rief und ihn davon abhielt, Eravier die Kehle durchzuschneiden. Deshalb konnte Tarn das tun, was er geplant hatte.
Er beugte sich vor, und er war sich nicht sicher, ob Valion ihn in diesem Moment hörte, als er leise sagte: „Ich hoffe das kannst du mir irgendwann verzeihen.” Dann gab er Valion einen verdeckten, aber heftigen Stoß, der ihn in Jans Arme schickte, mit dem Messer vorran.
Es war eine gute Waffe, und fünfzig Kilo und ein wenig Schwung hätten genügt, um die Klinge tief ins Fleisch zu treiben. Für den, der den Stoß nicht gesehen hatte, sah es so aus als wäre Valion auf Jan losgegangen. Das war der Eindruck, den Eravier gewann. Und auch Jan.
Jan wich aus, drehte seinen Oberkörper reflexartig zur Seite, und das bewahrte in davor, durchbohrt zu werden. Die Klinge schrammte tief über die nackte Haut seines Bauches, grub sich vorwärts und glitt dann ab. Es ging alles zu schnell, als dass Valion das Stilett hätte loslassen können. Ein Ruck fuhr durch seinen Arm, und er spürte den Widerstand. Er gab mit seiner Hand schon nach, als die Klinge nur den halben Weg zurück gelegt hatte, und es war trotzdem zu spät. Als er los ließ und einen panischen, entsetzten Schritt zurück trat, entglitt ihm Dolch und fiel mit einem dumpfen Klirren zu Boden. Es dauerte nur Sekunden, und Blut perlte aus der tiefen Wunde, aber es schien Jahrhunderte zu dauern.
Jan hob traumwandlerisch die Hand, berührte die klaffende Wunde und betrachtete seine blutigen Fingerspitzen, bevor er den Blick hob und Valion ansah.
„Weißt du”, sagte er leise und als wäre er nicht ganz da, „irgendwie dachte ich du hättest es ernst gemeint, als du sagtest, du würdest mich nicht verlassen.”
Valion öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und in diesem Moment holte Jan mit der Faust aus und versetzte ihm einen Schlag gegen den Kiefer, der ihn von den Füßen warf. Er stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden und war innerhalb von Sekunden bewusstlos.
Erst jetzt kam Bewegung in Eravier, der vor Erstaunen noch wie gelähmt gewesen war. Er versuchte seine Chance zu nutzen, aber wenn er gedacht hatte dass Jan unter Schock kein ernstzunehmender Gegner war, dann hatte er sich getäuscht; das genaue Gegenteil war der Fall. Er machte eine halbe Drehung, gab Eravier einen abwesenden Stoß gegen die Brust, der ihn zurück warf, dann ließ er die Scherbe fallen und lief er los, packte die verwirrte Stute am Zügel und stieg in den Sattel. Ihm musste bewusst geworden sein, dass ihn nun wirklich nichts mehr hier hielt.
Doch sekundenlang sah es aus, als würden die Anstrengung des Aufsitzens und der Schock ihn überwältigen. Sein Gesicht wurde kalkweiß und er schwankte im Sattel, kurz davor, bewusstlos zu werden. Dann riss er sich zusammen und sah zurück auf Valion, der regungslos am Boden lag. Was auch immer er dachte, in diesem Moment sah er nichts Anderes, weder Eravier, der die Scherbe vom Boden aufhob um auf ihn loszugehen, noch Tarn, der wieder die Waffe hob. Es war unmöglich zu sagen, was er wirklich empfand, aber Tarn glaubte Schmerz zu sehen, Trauer und Wut. Wut auf Valion? Oder Wut auf sich selbst?
Dann streifte sein Blick Tarn, und für einen Moment war er sich fast sicher, dass Jan begriff, was geschehen war. Sein Gesicht verzog sich plötzlich zu einem schmerzlichen Lächeln, nur für einen Sekundenbruchteil. Dann richtete er sich auf, sein Lächeln wurde zynisch, er nickte abfällig in Richtung von Valions bewusstlosen Körper und sagte mit rauer, immer noch abwesender Stimme: „Den da könnt ihr behalten. Für eine Rebellion taugt er nicht, aber sonst ist er ganz niedlich.” Er hustete, und mehr Blut quoll aus der Wunde in seinem Oberkörper. Der Geruch ließ die Stute tänzeln, sie verdrehte die Augen und schnaubte nervös, doch Jan behielt sie trotzdem unter Kontrolle. Sein Grinsen wurde noch breiter, galt jetzt nur noch Eravier, und widerwillig gestand sich Tarn ein, dass sich Valion zumindest in einem nicht getäuscht hatte - Jan war loyal bis in den Tod. Er hatte Tarns Plan durchaus verstanden, und er nutzte diesen letzten Moment, um ihn umzusetzen und Valion zu entlasten.
„Wenn ihr mich entschuldigt, ich muss noch ein paar andere reiche Dreckskerle für die Rebellion aufs Kreuz legen. Aber wir sehen uns bestimmt mal wieder. Eines habe ich hier schließlich gelernt - Loyalität.” Bevor Eravier darauf reagieren konnte, trieb er die scheuende Stute an und verschwand in der Dunkelheit. Sekunden später hörten sie erschrockene Aufschreie und dann vereinzelte Schüsse, als er aus dem Wald hervor brach und über das Weideland flüchtete, doch anscheinend war er unaufhaltbar.
„Dieses kleine Aas”, fluchte Eravier wutentbrannt und machte einen Schritt in die Richtung, in die das Pferd verschwunden war, doch Tarn reagierte sofort. Es hatte keinen Sinn mehr, Jan zu verfolgen, und wenn Eravier zur Vernunft kam, würde ihm das auch bewusst werden, aber im Moment war er zu wütend, um diesen Schluss selbst zu ziehen.
Tarn überbrückte mit drei schnellen Schritten die Distanz zwischen ihnen packte Eravier an der Schulter, zerrte ihn zu sich herum und zwang ihn so, ihn anzusehen. „Wir können nichts mehr ausrichten!” „Denkst du, ich lasse ihn einfach so entkommen?”, spie Eravier wütend, schlug seine Hand weg und riss sich von ihm los, und in diesem Moment verpasste Tarn ihm einen Schlag ins Gesicht, der ihn zurücktaumeln ließ. „Lass es sein, verdammt! Du kannst ihn nicht zu Fuß verfolgen! Wir müssen die Wächter neu sammeln, und selbst wenn wir das schaffen, können sie bei ihrer Jagd auf einen verletzten, rasenden Irren verzichten!”
Für einen Moment stand Eravier wie versteinert da und starrte ihn an, und Tarn war sich fast sicher, dass sich sein blinder Zorn jetzt gegen ihn richten würde. Eraviers Hand umklammerte immer noch die Scherbe, und sein Blick war voller Mordlust. Er war an diesem Abend zweimal mit dem Tode bedroht worden, und der Schuldige war entkommen. Irgendjemand würde dafür büßen.
Doch dann, nach einem Augenblick der Tarn wie eine halbe Ewigkeit erschien, entspannte sich Eraviers Haltung. Offensichtlich hatte er ihn aus seiner blinden Rage heraus gerissen, und schließlich stimmte er widerwillig zu. „Du hast Recht”, sagte er tonlos.
Tarn atmete auf, und plötzlich fühlte er sich so erschöpft wie noch nie in seinem Leben. Sein ganzer Körper schmerzte, als er sich hinunter beugte und das Stilett aufhob, das immer noch in Valions Nähe auf dem Boden lag und im Mondlicht schimmerte. Die Spitze war blutig, und er schauderte. Er hatte an diesem Abend niemand getötet, aber was auch immer zwischen Valion und Jan bestanden hatte, er war sich fast sicher, dass er es zerstört hatte. Er versuchte, die Schuldgefühle zu verdrängen, sich einzureden, dass es notwendig gewesen war und dass Jan auf diese Weise eine reelle Chance hatte. Er hatte Valion gerettet, und sein eigenes Leben ebenfalls. Aber das Gefühl der Kälte blieb.
Eravier, der das Stilett in Tarns Hand ebenfalls betrachtet hatte, wandte sich nun zu Valion um, der immer noch reglos da lag. „Was ist mit ihm?”, fragte er abwesend, und Tarn zuckte mit den Schultern. „Vermutlich ist er nur bewusstlos.” Jan hatte heftig zugeschlagen, und Tarn war sich fast sicher, dass Valion noch einige Stunden ausgeschaltet sein würde, aber vermutlich würde er sich danach schnell erholen. Körperlich zumindest. Er vertrieb den Gedanken, weil er jetzt nicht mit ihm umgehen konnte. Lieber steckte er den Dolch weg, ging neben Valion in die Knie und prüfte seinen Puls und seinen Atem. Beides war ruhig und gleichmäßig.
Eravier trat ebenfalls heran und beobachtete ihn, und Tarn wusste seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten. Für einen Moment fürchtete er, dass er seine Wut an dem bewusstlosen Junge auslassen würde. Doch stattdessen betrachtete er das blasse, erschöpfte Gesicht für eine Weile, dann beugte er sich herunter und strich geduldig und mit größter Vorsicht die Haare aus Valions Stirn. „Ich hätte nicht gedacht, dass er sich auf unsere Seite stellen würde. Er hat tatsächlich versucht, den kleinen Bastard aufzuspießen…”, sagte er nachdenklich. Aus seiner Stimme sprach sowohl Verwunderung als auch Respekt, und Tarn atmete ein wenig auf. Er war nicht sicher gewesen, ob Eravier seine Täuschung so wie beabsichtigt wahrgenommen hatte, obwohl sie nicht auf Zufall beruhte. Eravier hatte schon immer Gefallen an Überläufern gefunden, die sich seiner Seite anschlossen und in seinem Namen seine Feinde töteten, selbst, wenn es wie in Valions Fall bei einem Versuch blieb; es gab ihm ein Gefühl von Macht und bestätigte ihn in seinem Größenwahn. Es war nicht das Beste denkbare Ergebnis, aber es war genug, um die Rebellion zufrieden zu stellen. Es würde weiterer Arbeit bedürfen, das Bild von Valion in Eraviers Augen zu korrigieren, aber das war nichts, was er nicht schon früher bewältigt hatte. Wenn er es recht bedachte, konnte er gleich damit beginnen.
„Ich denke, er hat versucht seinen Fehler wiedergutzumachen. Wenn man seinen Worten glauben darf wusste er nicht, was Jans Ziele waren”, sagte er ruhig, dann schob er seine Arme unter Valions leblosen Körper und hob ihn langsam und vorsichtig hoch und richtete sich auf. Er schien kaum etwas zu wiegen, und sein Körper fühlte sich kalt an.
Er dachte daran, dass Jan noch weniger am Leibe trug als Valion, verletzt und immer noch krank war, und er fragte sich, ob sein Schicksal damit nicht schon besiegelt war. Es wäre einfacher gewesen, und gleichzeitig schwerer, wenn er für immer verschwand. Wie würde Valion damit umgehen? Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dieser Frage zurück, und während er ihn ansah, musste er sich eingestehen, dass er es nicht wusste. Er wusste, dass Valion nicht unnachgiebig genug war, dass es ihm an Härte fehlte. Aber das war nicht das gleiche wie Zähigkeit. Er dachte an Karvash, der in seinem ganzen Leben noch niemals für eine Sache eingestanden hatte und trotzdem immer überlebt hatte, als Schmarotzer im Schatten größerer und gefährlicherer Männer. Nicht hart, aber zäh. Es schien unfair, einen Kriecher wie Karvash mit Valion gleichzusetzen, aber vielleicht schlummerte in Valion die einzige gute Eigenschaft, die Karvash zu bieten hatte.
Dann wurde ihm bewusst, dass er Valion gedankenverloren anstarrte und Eravier ihn dabei beobachtete, deshalb fuhr er fort: „Aber so wie ich dich kenne spielt das keine Rolle für dich. Ich frage mich, was du mit ihm vorhast.” „Ich bin mir unschlüssig. Momentan hätte ich große Freude daran, ihn in den Teich zu werfen und zu zusehen, wie er jämmerlich ersäuft. Oder ich könnte Jan und der Rebellion seinen abgetrennten Kopf zukommen lassen, als abschreckendes Beispiel”, erklärte Eravier spöttisch. Es sollte gelassen klingen, aber die Kälte, die in seiner Stimme schwang und der bittere Unterton entlarvten ihn. Seine Wut war seit dem Moment, als Jan ihnen entkommen war, nicht geringer geworden, er verbarg sie nur hinter eiskalter Ruhe, konservierte sie für später. Sie richtete sich nicht gegen ihn oder Valion, sondern gegen Jan und die Rebellion, aber dennoch würde er vorsichtig sein müssen.
Eravier bemerkte, dass Tarn sich versteifte, und er lachte. „Aber nein, ich werde Valions Kopf nicht für einen derartigen Scherz verschwenden. Das wäre bemerkenswert undankbar, wenn er doch so heldenhaft eingegriffen hat. Die Frage ist, was er damit bezweckt hat. Ich denke, es lohnt sich jetzt mehr als zuvor herauszufinden, was tatsächlich in ihm steckt. Und wer weiß - vielleicht hat er ja noch nicht mit Jan abgeschlossen.”
Seine Augen ruhten jetzt nur auf Valion, und Tarn schauderte, als er den Ausdruck darin sah. Es lag die Art von Zuneigung darin, die man einem Schlachttier angedeihen ließ. Eraviers Gleichgültigkeit gegenüber Jan war in dem Moment in Interesse umgeschlagen, als er eine Chance gesehen hatte, ihn für seine Pläne zu nutzen. Er hatte nicht weniger mit Valion vor, und wenn Tarn es irgendwie vermochte, musste er Valion davor warnen. Er hatte sich zu leicht und zu schnell auf Jan eingelassen - was mit ihm geschehen würde, wenn Eravier begann ihn zu manipulieren und in seinem Interesse zu nutzen, wagte er sich nicht einmal vorzustellen.
„Aber eins nach dem anderen”, sagte Eravier heiter, und jetzt schweifte sein Blick über die mondbeschienene Landschaft, in die Richtung, in der das Lager lag. „Als nächstes wüsste ich zu gern, ob Faure eine Erklärung für sein Kuckuckskind hat. Die Nacht ist schließlich noch jung.” Und obwohl Tarn so müde war wie noch nie in seinem Leben und sich nichts sehnlicher wünschte als heimzukehren, sagte ihm sein untrügliches Gefühl, dass er damit Recht hatte. Die Nacht hatte gerade erst begonnen, und es war noch so vieles offen. Und wer wusste schon, was morgen geschehen würde? Entscheidungen, das wusste er jetzt besser als zuvor, hatten die Tendenz zurückzukehren, und was er aus dem Blick verloren hatte und tot geglaubt war, war vielleicht irgendwo lebendig und bleckte die Zähne.
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Es dauerte Stunden, die Wachen zu sammeln und das Lager zu reorganisieren. Eine Menge Arbeit war liegen geblieben, die Diener, die für den Wachdienst beordert worden waren, hatten ihr Aufgaben nicht erfüllen können, und so mangelte es zunächst an allem - frischem Wasser, Brennholz, Mahlzeiten, Schlafplätzen. Dazu kamen die Unsicherheit und die Gerüchte. Es war klar, dass Sklaven verschwunden waren, aber wie viele, wer und warum, darüber kursierten für eine Weile die wildesten Gerüchte, und Karvash, Faure und Besnard hatte Mühe, sie in Schach zu halten. Sie versuchten die Diener zu organisieren, aber es herrschte Unsicherheit, ob das Gebot von Eravier, das Lager zu bewachen, nicht strikt zu befolgen war. Niemand wollte sich später vorwerfen lassen, gegen seinen Willen gehandelt zu haben.
Schließlich kehrten die ersten Wachen zurück, und neben dem Problem der fehlenden Mahlzeiten und Feuer, die die Wächter nicht gerade glücklich stimmten, gab es einige kleinere Verletzungen, aber keinen Arzt - Tarn blieb mit Eravier in den Wäldern verschwunden. Obwohl Karvash sich eine Weile gewünscht hatte, Tarn möge in den Fluss fallen und jämmerlich ersaufen, wünschte er ihn nach einer Weile umso sehnlicher wieder herbei. Er war zwar ein niederer Sklave, aber gerade deshalb auch geübter darin, mit den dummen, rüpelhaften Wächtern umzugehen, die Karvash erst unhöflich nach ihrer Versorgung ausfragten und sich dann brühwarm von den Dienern erzählen ließen, was zwischen ihm und Tarn vorgefallen war. Er spürte die hämischen Blicke geradezu in seinem Rücken, wenn er hierhin und dahin eilte. Gedemütigt und geschlagen von einem, der weit unter ihm stand! Karvash wusste nicht wie, doch ihm war klar, dass er auf irgendeine Weise Rache dafür üben würde.
Dann, als er gerade glaubte es wäre das Beste, sich zurückzuziehen und das Pack einfach unorganisiert herum streunen zu lassen, kam es zu einem Aufruhr am Lagerrand, und Eravier und Tarn trafen ein, im Schlepptau ein halbes Dutzend Wächter und einen der entflohenen Sklaven, den einer der Wächter über der Schulter trug wie einen Mehlsack.
„Bringt ihn weg”, wies Eravier gerade den Wächter an, und er nickte pflichtschuldig. „Bekommt er Fußfesseln?”, fragte er nach, und Eravier schien einen Moment nachzusinnen, bevor er heiter erklärte: „Ich habe kein Interesse an weiteren Überraschungen. Fußfesseln, Handschellen. Ich will, dass er sich keinen Meter weg bewegt. Ah, Gael!” Er hatte Karvash erspäht und hielt direkt auf ihn zu. In seinen Augen spiegelte sich unpassendes Vergnügen, als käme er gerade von einem Ausflug statt von der Jagd nach Sklaven. Doch wenn Karvash es recht bedachte, war das in seinen Augen vermutlich das selbe.
„Ansin. Wir waren sehr besorgt, als wir die Nachrichten hörten”, erläuterte Karvash und konnte nicht ganz verbergen, welche Eindruck Eraviers Aufzug auf ihn machte. Sein Hemd war überströmt mit getrocknetem Blut, die vom Nebel feuchten Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und in seiner Hand trug er eine Art improvisierte Waffe, deren bloßer Anblick ihm Gänsehaut verursachte.
„Du willst dich sicher gleich zur Ruhe begeben”, schlug er leicht verschnupft vor, aber Eravier überging seinen Vorschlag ohne mit der Wimper zu zucken und befahl: „Schaff mir Faure und Besnard her, und alle Wächter, die etwas Verdächtiges gesehen haben. Alle in meinen Wagen. Finde jemand der die Wächter organisiert, dann schick’ sie zu den Pferden. Sie sollen keine Zeit verlieren und die Gegend erkunden. Unser zweiter Flüchtling ist noch auf freiem Fuß.”
Damit war das Gespräch anscheinend für ihn beendet, denn er wandte sich ab und eilte davon, bevor er noch einen Protest über die Arbeitszuteilung laut werden lassen konnte. Und in seinem Rücken tuschelten die Diener.
Eine halbe Stunde später tagte ein ungewöhnlicher Kriegsrat in Eraviers hell erleuchtetem Wagen. Er bestand aus Eravier, der zurückgelehnt an seinem Schreibplatz saß, die Scherbe gelassen in seiner Hand kreisen ließ und die angetretenen Händler musterte; Tarn, der sich neben ihm im Hintergrund hielt; außerdem aus Besnard, Faure und Karvash, die unbehaglich nahe des Eingangs standen und nicht recht zu wissen schienen, warum sie her beordert worden waren. Karvash stellte außerdem mit gerunzelter Stirn fest, dass Eravier keine Zeit darauf verschwendet hatte, sein Äußeres instand zu setzen.
„Ich bin mir nicht ganz im Klaren darüber, was diese Versammlung bewirken soll”, begann Besnard zögerlich, und fühlte sich sofort noch unwohler, als sich alle Augen auf ihn richteten. Er war ein kleiner, rundlicher Mann mit einer Halbglatze und einem buschigen Schnauzbart. Für die meisten war es schwer vorstellbar, dass er überhaupt mit Sklaven handelte statt mit Gemüse. Er konnte beim besten Willen nicht als grausam bezeichnet werden und handelte nur mit den niedersten Sklaven und in geringsten Gewinnspannen. Sein Hauptaugenmerk lag auf Arbeitssklaven, die ihre Arbeitskraft für zehn, zwanzig oder in Ausnahmefällen auch vierzig Jahre verkauften, um ihre Familien über Wasser zu halten. Eravier hatte ihn auf die Reise mitgenommen, weil er kaum bedrohlich für ihn war und ein gewisses Organisationstalent hatte. Zudem waren seine Gewinne gering, aber genauso verlässlich, und seine Gefangenen machten vergleichsweise den wenigsten Ärger.
Deshalb bedachte Eravier ihn jetzt mit einem gelassenen Lächeln und erklärte völlig ohne Umschweife: „Wir hatten es heute Nacht nicht nur mit entlaufenen Sklaven zu tun. Einer der beiden, Jan, gab sich als Rebell zu erkennen. Er war bewaffnet, und ich bin sicher, dass er nicht allein operiert hat. Es scheint, dass sich in unseren Reihen Spione befinden oder befunden haben, und ich will wissen, wer sich dahinter verbirgt.”
Für einen Moment herrschte entrüstete Stille, die völlig von Karvash und Faure auszugehen schien, bis Besnard vorsichtig nachfragte: „Aber sicherlich ist keiner von uns verdächtig. Es handelt sich nur um eine Besprechung, die Vorbereitung einer Untersuchung… oder?” Seine Stimme wurde immer leiser, während er ängstlich beobachtete, wie sie von Eraviers durchdringenden Blicken durchbohrt wurden. Schließlich hielt er wohlweißlich den Mund, während Faure sich wutentbrannt aufrichtete.
Er war ein dürrer, hochgewachsener Mann mit vollem, aber kurz geschnittenen dunklen Haar mit einigen weißen Strähnen und in den Fünfzigern. Er war nicht oft erzürnt, aber wenn, dann strahlte er nur geringfügig weniger Autorität aus als Eravier. Unter den Dienern munkelte man, dass er plante Eravier irgendwann zu übertrumpfen. Er war ehrgeizig und mochte es nicht, wenn seine Autorität untergraben wurde, und dass er jetzt verdächtigt wurde, schien ihn außerordentlich zu reizen.
„Natürlich ist niemand von uns verdächtig”, sagte er schneidend zu Besnard, dann warf er Eravier einen feindseligen Blick zu. „Eine derartige Unterstellung wäre nur dazu geneigt, unsere Reisegemeinschaft zu spalten, ein Gewinn für die Rebellion und nebenbei völlig lächerlich.” Er spie das Wort „lächerlich” mit derartiger Inbrunst aus, dass offensichtlich wurde, was er meinte: Hirnverbrannt.
„Lächerlich? Da bin ich mir nicht so sicher”, antwortete Eravier zynisch und beugte sich vor, um nun ganz allein Faure zu fixieren. „Betrachten wir zum Beispiel die Tatsache, dass du einen offensichtlich kranken Jungen als Sklave aufgenommen hast, der sich natürlich nur ganz zufällig als Spion der Rebellion entpuppte.” „Der mit einem anderen, gesunden Jungen floh, der offensichtlich nicht wesentlich unschuldiger war und den nicht ich gekauft habe”, konterte Faure kalt. Er hatte in der Zwischenzeit anscheinend alle Informationen eingeholt, die er bekommen konnte, und er schien nicht gewillt, den Sündenbock zu spielen. „Wobei sich immer noch die Frage stellt, wie und wo die beiden sich bewaffnen konnten. Schon deshalb vermute inzwischen ebenfalls einen Verräter in unseren Reihen. Jemand, der Kontakt zu beiden Jungen hatte und ihnen unbemerkt Befehle vermitteln konnte.”
Karvash hatte die ganze Zeit geschwiegen, doch plötzlich wurde er hellhörig, und er verbarg ein schadenfrohes Grinsen, als er einwarf: „Beispielsweise ein Arzt.” Sein Blick galt nun Tarn, und Faure, der jede günstige Gelegenheit zu nutzen wusste, nickte plötzlich nachdrücklich, auch wenn er trügerisch vage hinzufügte: „Beispielsweise.”
Eravier warf einen Seitenblick auf Tarn, dessen versteinerter Gesichtsausdruck nichts offenbarte, dann zuckten seine Mundwinkel kurz nach oben, ein deutliches Zeichen dafür, dass er die Sache für ein Ablenkungsmanöver hielt. „Natürlich, oder ein beliebiges Pferd. Was wäre nicht alles möglich?”, fragte er spöttisch in den Raum, und lockte damit Karvash aus der Reserve, der für diesen Tag genug Stichelei ertragen hatte. Wütend deklamierte er: „Ich wurde von ihm geschlagen! Das ist einem Sklaven verboten, und jetzt lacht man über mich!” „Nimmt man an, dass einer der Jungen krank war und der andere eine behandlungsbedürftige Verbrennung hatte, ist es nicht unwahrscheinlich”, legte Faure nach, und Karvash wütete: „Dir sollte bewusst sein, dass dein Diener anscheinend seine eigenen Ziele verfolgt! Wie kannst du es wagen uns hierher zu zitieren, wenn du nicht einmal die Loyalität deiner eigenen Leute garantieren kannst? Ich bin überzeugt, dass er ein Verräter ist, und wenn du klug bist, Ansin, wirst du diese Sache untersuchen lassen!”
Es war eine kaum verhohlene Drohung, doch sie zeigte Wirkung. Eravier wandte sich Tarn zu, dessen versteinertes Gesicht weiterhin nichts Preis gab, und sachlich fragte er: „Nun, gibt es eine Erklärung für dein Verhalten?”
Bevor Tarn auch nur ein Wort sagen konnte, bewegten sich plötzlich polternde Schritte auf den Wagen zu, und dann traten zwei Wächter herein, zwischen sich einen Gefangenen - Marceus.
„Was wollt ihr denn?”, fragte Karvash immer noch aufgebracht, und die Männer zuckten sichtlich zurück. Doch Eravier erhob sich und und gab ihnen einen Wink, näher zu kommen. „Guy und Levin, nicht wahr?”, fragte er und griff dabei auf sein unheimliches Gedächtnis für Namen und Gesichter zurück. „Ja, Herr. Dürfen wir sprechen, Herr?”, fragte Guy steif. Eravier ließ sich zurück auf seinen Platz sinken und nickte, die Hände gelassen vor sich gefaltet. Es war offensichtlich, dass er dieser Sache mehr Wichtigkeit beimaß als den Anschuldigen gegen Tarn, und es brachte Faure sichtlich aus der Fassung.
„Mit Verlaub, Herr”, sagte Guy und vermochte kaum, sein Unbehagen zu verbergen, „wir wurden angewiesen, Vorfälle zu melden, vor allem alles, das die Rebellion betrifft. Wir haben etwas zu berichten.” „Sprich schon, damit wir diesen Unsinn hinter uns bringen”, sagte Faure ungehalten, und Guy räusperte sich und erklärte dann:
„Nun, zunächst müssen wir wohl folgendes berichten: Auf dem Weg durch den Wald stießen wir auf eine Lichtung, auf der wir Tarn zusammen mit einem Rebellen vorfanden.”
Karvash machte ein befriedigtes Gesicht, aber Guy ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort:
„Tatsächlich waren die beiden in einen Kampf verwickelt, wie es schien auf Leben und Tod. Als wir auf die Lichtung stürmten nutzte er die Ablenkung als seine Chance, schlug Tarn brutal nieder und floh. Wir fanden ein fallen gelassenes Messer-” „Das allein ist kein Beweis für einen Kampf”, versuchte Faure einzuwerfen, aber Guy fuhr ohne Zögern fort:„- und bei der Verfolgung des Rebellen, die Tarn uns befohlen hatte stellten wir fest, dass er einen gebrochenen Arm hatte und auch sonst starke Schmerzen zu haben schien. Allerdings verloren wir kurz vor dem Lager seine Spur. Es ist möglich, dass er sich noch unter den Dienern verbirgt.”
„Oder einer der Diener ist”, sagte Eravier leise und betrachtete Karvash und Faure mit einem eisigen Blick. Besnard schluckte unbehaglich und dankte vermutlich seinem Gott, dass er nicht darauf bestanden hatte seine eigenen Knechte und Diener auf diese Reise mitzunehmen, im Gegensatz zu Faure, der gerade erst begriff, was das für ihn bedeutete. „Was ist mit dem hier?”, fragte er jetzt nervös und deutete auf Marceus. „Er ist doch bestimmt ein Spion.” „Nun, das ist das zweite, was wir berichten wollten, Herr”, fuhr Guy fort. „Wir griffen ihn ebenfalls kurz vor dem Lager auf. Er trug einen Kapuzenmantel und war kein Wächter, das machte uns misstrauisch.”
„Sein Name ist Marceus. Er gehört zu meinen Leuten”, sagte Eravier, „aber was er im Wald zu suchen hatte, weiß ich nicht.” „Ich habe ihn geschickt, um Valion und Jan zu finden”, erklärte Tarn ruhig. „Ich wusste, dass sie ihm vertrauen würden. Er sollte versuchen, sie zur Aufgabe zu überreden oder zumindest in meine Richtung schicken.”
„Ist das so?”, fragte Eravier, und Marceus nickte. „Darf ich sprechen, Herr?”, fragte er leise, und es wurde ihm mit einem Wink gestattet. „Tarn kam zu uns, also in unser Lager, und informierte Jefrem über die flüchtigen Sklaven. Jefrem befahl die Bewachung der Pferde, weil wir vermuteten, dass sie dort auftauchen würden, aber wir wussten auch, dass es Stunden dauern konnte, bis die beiden im Wald gefunden werden. Ich bat meine Hilfe an, und Tarn bat Jefrem um die Erlaubnis, mich als Kundschafter einzusetzen. Jefrem gab seine Zustimmung und befahl mir, die anderen Wächter auf ihrer Suche nicht in die Irre zu führen. Die Gefahr, dass sie mich mit einem der Sklaven verwechselten, war zu groß, und wäre ich in Begleitung der Wächter gesehen worden, hätten sie Verdacht geschöpft. Sie sollten glauben, dass ich ihnen bei der Flucht helfe, und das haben sie tatsächlich, deshalb-”
„Das ist doch alles eine Farce”, fluchte Faure plötzlich und sprang auf. „Nichts von diesen Worten ist wahr!” Er hatte der Schilderung mit wachsendem Ärger gelauscht, und ihm musste klar geworden sein, dass die Anschuldigung, die er gegen Tarn vorgebracht hatte, haltlos waren. Er suchte sein Heil in der Flucht nach vorn. „Beruhige dich, Kelian”, versuchte Besnard ihn zu besänftigen, aber seine Worte stießen bei Faure auf taube Ohren. „Das sind alles fabrizierte Beweise! Diesen Spion aus dem Nichts gibt es nicht, und meine Diener sind keine Rebellen!”, brüllte er, ging drei aggressive Schritte auf Eravier zu und packte ihn am Kragen.
Sowohl Tarn als auch die Wächter wollte einschreiten, selbst Marceus zuckte zusammen und trat reflexartig einen Schritt nach vorn, doch Eravier hob die Hand. „Ich gebe dir eine Chance, mich loszulassen”, sagte er ruhig, und Tarn wusste, dass es wahrhaftig nur eine einzige Chance war. Er versuchte Faures Blick zu fangen, ihm deutlich zu machen, dass er einen Fehler beging, aber der war zu sehr in seiner eigenen Wut gefangen. Er packte Eravier sogar noch fester und zerrte ihn noch weiter zu sich heran.
„Du hast mir das kleine Aas abgekauft, als du dachtest, er wäre eine gute Partie, und jetzt willst du mich den Kopf dafür hinhalten lassen. So nicht!”, brüllte er Eravier ins Gesicht. „Ich habe nichts damit zu tun! Ich kenne keinen einzigen Rebellen! Das werde ich mir nicht nachsagen lassen!”
Es ging sehr schnell. Eravier hob blitzartig die linke Hand, verkrallte sie in Faures Haar und hielt seinen Kopf fest. Die andere mit der Scherbe schnellte vor, und er verzog keine Miene, als er sie mit voller Wucht in Faures linke Augenhöhle rammte.
Für einen Sekundenbruchteil schien Faure erstaunt, als könne er nicht begreifen, was gerade geschehen war, dann gab sein Körper einfach nach. Jegliche Spannung wich aus ihm, seine Knie sackten ein, und Eravier ließ seinen Kopf los. Er schlug mit einem dumpfen Schlag auf der Platte des Schreibpultes auf, dann glitt er zur Seite und kam auf dem Boden zu liegen. Innerhalb von Sekunden war er tot.
Die Stille schien sich in konzentrischen Kreisen um seine Leiche auszubreiten. Niemand sagte ein Wort, manche schienen nicht einmal im Stande sein zu atmen.
„Ich hasse es, wenn man mich anlügt”, sagte Eravier und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, die Hände gelassen ineinander verschränkt. „Aber er war doch unschuldig”, murmelte Karvash leise, und erschrak sich selbst vor seinen Worten. Er sah sich vermutlich schon neben Faure auf dem Boden liegen, in einer Lache seines eigenen Blutes, aber Eravier lachte nur. „Er sagte, dass er keinen einzigen Rebellen kennt. Ich weiß, dass er von mindestens einem wusste, und ihn gedeckt hat. Derjenige ist nur ein kleines Licht, ein gelegentlicher Informant, seit Jahren nicht mehr aktiv. Aber er wusste es, und er hat mich angelogen. Lasst euch das eine Lehre sein, meine Herren”, sagte er und fixierte erst Besnard, der vor Angst kreidebleich geworden war, und Karvash, der viel zu fassungslos war, um noch zu wissen, wie er kultiviert reagieren sollte. „Ich werde herausfinden, wer hier gegen mich spielt, und wenn ihr klug seid, werdet ihr in Zukunft euer Wissen offen legen und nicht versuchen, meine eigenen Vertrauten zu verdächtigen”, fuhr er fort, und jetzt war seine Stimme so schneidend, dass jeder im Raum sich duckte. „Morgen gehen wir auf Rebellenjagd. Ich will jeden einzelnen von ihnen, aber wenn ihr jemand mit einem gebrochenen Arm findet, dann ist er als erster dran. Keine Fragen, keine Diskussion. Ist das klar?”
Besnard und Karvash nickten, und ohne aufgefordert zu sein, flohen sie aus dem Wagen und vor dem, was geschehen war. Keiner der beiden sah sich um.
„Herr”, sagte Guy leise, „Was sollen wir mit… mit dem… mit dem Körper tun?”, fragte er fast stotternd. Er hatte schon einige tote Männer gesehen, aber diesmal wollte er das Wort »Leiche« nicht aussprechen. Es kam ihm nicht über die Lippen. Eravier winkte ab, und mit einem Mal schien er wesentlich weniger bedrohlich, sondern eher erschöpft nach einem langen Tag. „Schafft ihn weg. Tarn, du hilfst ihnen. Marceus, du kehrst zurück. Verschwindet.” Und sie alle beeilten sich, weg zu kommen. Tarn ergriff Faures Füße, Levin seine Arme, und so schleppten sie ihn hinaus in die kalte Nachtluft.
Marceus warf Tarn einen Blick zu und floh, doch Guy und Levin war das nicht vergönnt. Sie halfen Tarn, die Leiche auf den Rücken zu drehen, und dann standen sie unschlüssig um ihn herum.
„Gottverdammte Scheiße”, sagte Guy, zog seinen Mantel aus und reichte ihn Tarn, der ihn abwesend entgegen nahm. „Wir sollten ihm die Augen schließen, oder?”, fragte Guy nach, und das war zu viel für Levin. Er wandte sich stumm um und ging. Wenn er sich auf halbem Weg übergab, bekamen sie nichts davon mit. „Das sollten wir wohl”, stimmte Tarn zu. Mitleidig starrte er auf das erstarrte Erstaunen in Faures Gesicht, dann schloss er ihm das eine, nicht verstümmelte Auge und bedeckte ihn mit dem Mantel.
Sie blieben nicht lange allein; drei Wächter, möglicherweise von Besnard oder Karvash geschickt, kamen heran geeilt und betrachteten seine Leiche voller Besorgnis, aber sie stellten keine weiteren Fragen. Zwei von ihnen hoben den Körper an und trugen ihn davon, während der dritte zögerlich fragte: „Sollen wir den Wagen umstellen?” Tarn schüttelte müde den Kopf. „Ich rechne nicht mit noch mehr Chaos. Geht auf eure normalen Plätze. Alles wie gehabt.”
Der Wächter nickte, obwohl sie beide wussten, dass nichts wie gehabt war. Ein Mord war passiert. Oberflächlich würde alles beim Alten bleiben, aber wenn die Nachricht sich unter den Dienern verbreitete, würde Angst um sich greifen. Vielleicht war es Eravier so recht, aber es war auch gefährlich. Sie waren immer noch auf offenem Land, ohne Unterstützung. Morgen musste Tarn dafür sorgen, dass die Unsicherheit nachließ, sonst drohte ihnen am Ende eine Revolte. Noch ein Punkt auf seiner nicht enden wollenden Liste von Aufgaben. Er fragte sich, wie tief er schon gesunken war, dass ein Mord für ihn nur eine weitere Aufgabe war, aber er fühlte nur Leere. Müde fuhr er sich über die Augen. Würde dieser Tag denn niemals enden?
Er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken von der Wache und betrat den Wagen erneut.
Eravier hatte alle Laternen bis auf die, die sich direkt an seinem Schreibplatz befanden, gelöscht. Dort saß er nun, den Kopf nachdenklich in die Hand gestützt, und starrte ins Leere. Die fieberhafte Energie war aus ihm gewichen, und obwohl er den Anschein machte einem Rudel Wölfe begegnet zu sein, sah er jetzt mehr wie ein Verunglückter Wanderer denn ein gefährlicher Irrer aus. Die Schnitte an seinem Hals hatten sich geöffnet und geblutet, und einige Blutstropfen waren auf den Tisch vor ihm gefallen. Sie waren nachlässig über das Holz der Platte verschmiert, und er hatte die Blutung mit dem Ärmel seines Hemdes gestoppt, der nun rot getränkt war.
Tarn hoffte, dass Eravier müde war, denn er selbst hielt sich nur noch mit Anstrengung auf den Beinen. Hätte er sich auch nur einen Moment auf einen Stuhl gesetzt, er wäre vermutlich sofort eingeschlafen. Aber wie so oft hielt sein Pflichtgefühl ihn davon ab, einfach zu gehen und sich schlafen zu legen. Eravier war verletzt, und wenn die Schnitte nicht versorgt wurden, würden sich vermutlich Narben bilden.
Tarn ging auf ihn zu und berührte ihn an der Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, und Eravier richtete sich ein wenig auf und betrachtete ihn ruhig. „Du hast ihn wegbringen lassen?”, fragte er, und Tarn nickte und deutete auf seine Schnittwunden. „Ich muss das versorgen. Leg’ den Kopf in den Nacken.”
Eravier gehorchte, und nachdem Tarn ein sauberes Tuch gefunden hatte, reinigte er die Wunde vorsichtig mit Wasser und einer Tinktur. Er überlegte, ob er einen Verband anlegen sollte oder nicht, und er musste sich zwingen, nicht ab zu schweifen und eine Entscheidung zu fällen, statt im Stehen zu dösen. War er jemals so müde gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Wenigstens hatte er keine Probleme einen Verband auszusuchen, es gab nur noch den einen, seine Vorräte waren inzwischen fast völlig erschöpft. Es wurde Zeit, dass sie in die Hauptstadt zurück kehrten und Eravier aufhörte, sich selbst und den Sklaven Verletzungen zuzufügen, dachte Tarn beiläufig und hätte sich fast ein sarkastisches Lächeln erlaubt, aber dann hielt er sich zurück.
Er nahm den Verband und begann, ihn vorsichtig über die Wunde zu legen. „Ist es zu fest?”, fragte er routiniert nach, und während er die Antwort abwartete schoss ihm völlig unvermittelt der Gedanke durch den Kopf, dass er den Verband einfach zu ziehen könnte. Es konnte innerhalb von Minuten vorbei sein. Und dann? Wäre er frei.
Es war ein völlig irrationaler Gedanke aus dem Nichts, aber in diesen Bruchteil einer Sekunde hatte er eine erschreckende Plausibilität.
Die meisten sind der Ansicht, dass du nicht mehr objektiv urteilst… Du hast zu viele Verbindungen zu den Leuten hier, ganz zu schweigen von Eravier, hörte er Fourmi in seinem Geist sagen, und das war im Grunde lächerlich, weil er mit jedem weiteren Jahr weniger von Eraviers guten Seiten sah und seine zufällige, gedankenlose Grausamkeit ihn immer mehr abschreckte. Wenn überhaupt, dann nahm seine Klarsicht zu und nicht ab.
Dann wurde ihm bewusst, dass er zögerte weiter zu arbeiten, und er beendete sein Werk schnell und schweigend. Eravier ignorierte ihn und starrte weiter vor sich hin. Über was grübelte er nach? Vielleicht musste Tarn sich Sorgen machen. Irgendwann. Nicht mehr heute.
Ihm wurde bewusst, dass er jetzt endlich schlafen gehen konnte, und während er seine Sachen zusammen raffte und sich zum Gehen wandte, war der Gedanke wunderbar tröstlich. Schlaf. Viel davon, und endlich wieder einmal für ein paar Tage am selben Ort verweilen. Wenn er Glück hatte würde es vielleicht sogar bis Mittag dauern, bis ihn jemand mit Arbeit belästigte.
„Warte”, befahl Eravier, und Tarn fluchte innerlich. Er war kurz davor, den Gehorsam zu verweigern, aber er schluckte seine Wut hinunter, wandte sich um und sah Eravier an. „Ja?” „Du bist verletzt worden, nicht wahr? Du hast immerhin mit einem Rebellen gekämpft.”
Es war eine unschuldige Frage, aber in diesem Moment war er froh, dass er tatsächlich Prügel bezogen hatte. Es steckte mehr dahinter; Eravier hatte ihn vor Faure und Karvash verteidigt, aber er war auch nicht so dumm, dass er ihre Aussagen nicht überprüfte. Und wenn er tatsächlich so misstrauisch geworden war, dass er die Anschuldigungen auch nur ansatzweise ernst nahm, war das Eis schon dünner geworden, als er angenommen hatte. Aber er durfte sich nicht anmerken lassen, dass er den Zweck von Eraviers Fragen durchschaute, deshalb sagte er: „Nichts Ernstes. Ein paar blaue Flecken vielleicht.” „Tatsächlich? Zeig es mir.”
Auch das noch. Tarn seufzte ergeben und legte zuerst seine Jacke, dann Weste, Hemd und Unterhemd ab und warf sie nachlässig zu seiner Tasche. Trotz seines Widerwillens war er im Grunde auch neugierig, wieviel er tatsächlich eingesteckt hatte, und betrachtete sich eingehend. Hauptsächlich waren seine Arme und Handgelenke mit blauen Flecken übersät, dort, wo er Fourmis Angriffe abgewehrt hatte, aber die Schläge in den Magen hatten die deutlichsten Spuren hinterlassen: ein großer, purpurfarbener Bluterguss zog sich vom Zwerchfell bis zum Nabel.
Eravier betrachtete ihn ebenfalls genau, taxierte jede einzelne Verletzung und schien einzuschätzen, wie sie zustande gekommen waren. Allmählich, als er sich davon überzeugte, dass die Verletzungen nicht fingiert waren, ließ sein Misstrauen nach und wurde schließlich durch Mitleid ersetzt. Der kalte Ausdruck wich aus seinen Augen, er hob den Kopf aus der aufgestützten Hand und fragte ehrlich besorgt: „Hast du Schmerzen?” „Als hätte mich ein Pferd getreten”, antwortete Tarn leichthin und brachte ihn damit zum Lächeln, und was sagte es über ihn aus, dass er sich über dieses Lächeln freute?
Es lagen Welten zwischen diesem Gesichtsausdruck und der kalten, grausamen Maske, die Eravier sonst zur Schau trug. Es war der Ausdruck einer Persönlichkeit voller unvereinbarer Gegensätze, und früher hatte Tarn sich dazu hinreißen lassen, sie als zwei unterschiedliche Menschen zu betrachten, weil es einfacher war, auf diese Weise damit umzugehen. Es sprach ihn schließlich von aller Schuld frei. Er konnte die Taten des kalten, berechnenden Mannes verurteilen, ohne auf die andere, freundlichere Seite zu verzichten. Er konnte loyal sein, ohne in Frage zu stellen, wem diese Loyalität eigentlich galt. Aber schließlich hatte er begriffen, dass er sich damit nur selbst belog. Der Ansin Eravier, der hier vor ihm saß und ihn nach seinem Befinden fragte, war der selbe, der vor wenigen Minuten einen Mann ermordet hatte, indem er ihm eine Scherbe durch das Auge ins Gehirn rammte.
Und doch. Selbst im vollen Bewusstsein dieser Tatsache war er nicht immun gegen Eraviers charmante Seite. Seine Kälte und Grausamkeit ließ jeden in seiner Gegenwart vor Unsicherheit und Angst erstarren, aber wenn er sie ablegte, war er plötzlich eine Person, der man gefallen wollte.
Immer noch lächelnd streckte Eravier die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über die blauen Flecken, erst auf den Armen, dann auf dem Bauch. Es war eine zarte, völlig unschuldige Berührung, tröstend und ohne Schmerzen. Tarn spürte, wie seine Anspannung und Vorsicht nachließ, und er war nicht sicher, ob er dagegen ankämpfen sollte oder nicht.
„Ich werde den Verantwortlichen schon finden”, sagte Eravier völlig ruhig, „und dann wird er sich wünschen, niemals Hand an dich gelegt zu haben. Vielleicht hat er danach ja gar keine Hände mehr, wer weiß. Ich habe der Rebellion zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, aber das lässt sich korrigieren. Am Ende wird kein einziger übrig sein, der überhaupt ihren Namen kennt.” Seine Stimme hob sich nicht und wurde nicht lauter, als er diese Drohung aussprach. Er war nicht einmal wütend, er plante nur den nächsten, für ihn logischen Schritt.
Dann bemerkte er Tarns eingefrorenen Gesichtsausdruck und hielt für einen Moment inne, aber sein Lächeln vertiefte sich nur. „Zieh’ nicht so ein Gesicht”, sagte er spöttisch, „sonst könnte man noch annehmen, du hättest Mitleid mit diesem Rebellenpack.” „Ist es nicht zu drastisch-”, begann Tarn, aber Eravier schnitt ihm das Wort ab. „Zu drastisch? Er hat dich verletzt. Ich mag in einigen Dingen nachsichtig sein, aber damit ist er zu weit gegangen”, sagte er und strich mit seiner rechten Hand erneut über die dunkel verfärbte Haut, bevor sie auf Tarns Hüfte zum liegen kam und ihn sanft zu sich heran zog. Sein Gesicht war jetzt auf einer Höhe mit dem Bluterguss, und Tarn spürte seinen warmen Atem auf der Haut, bevor er sanfte Küsse darauf hauchte und murmelte: „Keine Sorge, wenn ich mit ihnen fertig bin, wird das nie wieder passieren.”
Seine Berührungen verursachten ein sanftes Kribbeln, und Tarn erschauderte. Nicht vor Widerwillen oder Angst, er fühlte Erregung, und er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum jetzt? Warum reagierte er so, wenn sein Körper am Ende seiner Kräfte war? Er hätte geschworen, dass er zumindest in dieser Nacht unempfänglich für jegliche Reize war, und doch spürte er jetzt die selbe, unaufhaltsame Anziehung.
Eravier bemerkte es natürlich und ließ es sich nicht nehmen, seine Gefühle weiter anzufachen. Er hauchte sanfte Küsse auf die verwundete Haut, fuhr mit seiner Zunge darüber, und seine linke Hand legte sich auf seinen Rücken und strich zart über die Haut direkt über der Wirbelsäule. Er wusste genau, was es in Tarn auslöste.
Tarn fühlte sich wie ein Betrunkener, benebelt und unfähig zu sprechen, als er mühsam hervor brachte: „Nicht heute Abend… ich kann kaum noch Stehen vor Müdigkeit.” Eravier lachte, und es war schmerzhaft schön, wie normal er jetzt klang, sorglos und voller Humor. „Seltsam, davon sehe ich nichts”, sagte er, legte eine Hand auf Tarns Schritt und rieb seine Erektion durch den Stoff hindurch. Tarn stöhnte auf, und obwohl seine Müdigkeit nicht verflog, verschmolz sie mit seiner Erregung. Der Rest seines wachen Verstandes wehrte sich dagegen, aber es war ein verführerischer Gedanke, es bis zum Äußersten zu treiben und dann in betäubendem Schlaf zu versinken. Er würde all die Emotionen hinter sich lassen, die ihn quälten; Scham, Gewissensbisse, Heimweh.
Seine Hände verrieten ihn, bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte; sie strichen durch das blonde Haar, das noch vom feucht vom Nebel war, über die Wangen und sanft in den Nacken. Er schob den blutig getränkten Stoff des Hemdes beiseite, unter dem nur noch warme, nackte Haut lag, und liebkoste den vernarbten Oberkörper und die dunklen Brustwarzen. Der Rest seiner Kleidung lag einen Moment später schon zu seinen Füßen. Eraviers Hände streichelten ihn weiter, sanft und gleichmäßig, über das Gesäß, den Rücken, seinen Bauch, glitten immer wieder zu seinem Schaft und schlossen sich darum, nur um ihn gleich wieder loszulassen. Es war langsame, quälende Verführung, ein ständiges Versprechen auf mehr, wenn er nur bereit war zu warten, es geschehen zu lassen. Tarns Körper bog sich der Berührung entgegen, sehnsüchtig und auch ohne dass er sein Einverständnis dazu gab.
Er versuchte dennoch dagegen an zu kämpfen, einen letzten, verzweifelten Moment. Irgendwann musste er diesen Kreislauf durchbrechen und aufhören, sich in die Vergangenheit zu flüchten. Wieso gelangte er nie an diesen einen Punkt, an dem seine Besessenheit endlich nachließ? Er hatte diese Gefühle Stück für Stück abgetragen, Jahr um Jahr, und die Liebe verging, aber nicht das Verlangen. Er konnte es nicht abschütteln, wollte es verzweifelt abtöten, und wurde doch jedes Mal wieder Opfer seiner eigenen Obsession.
„Ich kann nicht-”, begann er und konnte nicht weiter sprechen, weil Eraviers Zunge den Schaft seines Gliedes entlang fuhr, bevor er inne hielt und zu ihm auf blickte. „Sag’ mir, dass ich aufhören soll, und ich tue es auf der Stelle”, murmelte er, aber in diesem Moment war Tarns Widerstand schon gebrochen. Er konnte nicht dagegen ankämpfen, nicht diese Nacht. Vielleicht auch nicht die nächste. Vielleicht niemals. Er umschloss Eraviers Gesicht mit seinen Händen, beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn, bevor leise sagte: „Komm. Ich kann mich wirklich nicht mehr auf den Beinen halten.”
Er ließ sich führen, so wie er es immer getan hatte, und er wusste, dass er schwach war. Er klammerte sich so verzweifelt an das was er kannte, selbst wenn es ihn vergiftete. Konnte man jemand gleichzeitig so sehr hassen und so sehr lieben, dass jede Entfernung zu ihm gleichzeitig zu nah und doch zu fern war? Warum wollte er das nach all den Jahren immer noch, brauchte es so dringend, gab es so bereitwillig?
Gott, die Nächte waren so lang, und der Morgen so fern.
~
Stunden später, unter einem schwarzen, von Wolken verhangenen Himmel, griff eine Hand behutsam nach den Zügeln der Stute und brachte ihren gleichmäßigen Schritt zum Stillstand. Joshanna hatte ihren Reiter weit, sehr weit getragen, selbst, als er bewusstlos auf ihr zusammen sackte und der Geruch nach Blut sie immer mehr ängstigte. Jetzt hatte sie endlich, nach einer Ewigkeit, Menschen gefunden. Oder vielleicht hatten die Menschen sie gefunden. Sie streichelten behutsam ihren Hals, und Joshanna schnaubte leise, zu erschöpft, um sich noch vor ihnen zu fürchten. Sie zogen den, den sie getragen hatte, behutsam von ihr herunter.
„Wird er es schaffen?”, fragte eine Gestalt. „Vielleicht?”, antwortete die andere und ließ ihre Tasche sinken, die nach Kräutern roch. Sie verlor keine Zeit und breitete was sie hatte aus, direkt auf dem harten, schmutzigen Boden. Manchmal konnte man nicht wählerisch sein. Sie überlegte einen Moment, wie sie beginnen sollte, dann sagte sie nachdenklich: „Jungen wie er haben die Tendenz, sich wie besessen an ihr Leben zu klammern.”