Es gab nichts als die Dunkelheit und die Schmerzen.
Er war sich vage bewusst, dass er niemals ganz aus den Augen gelassen wurde. Hin und wieder betrat jemand den Raum, der völlig im Dunkeln lag, und betrachtete ihn, wie er ausgestreckt auf dem Bauch auf seinem Krankenlager lag. Man schätzte seine Lage ein, und verließ ihn wieder, vermutlich um Bericht zu erstatten.
Wenn er Glück hatte, würden seine Bewacher es irgendwann Leid sein, ihm beim Sterben zu zusehen und seiner Qual ein Ende bereiten. Aber vermutlich hatten sie den Befehl, genau das nicht zu tun; sicher durften sie ihn nicht einmal anrühren. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte - auch ohne ihr Zutun war er ziemlich sicher geliefert, das hatte er selbst diagnostiziert, als er noch nicht zu schwach für klare Gedanken gewesen war. Die Wunde hatte sich entzündet, dann hatte das Fieber eingesetzt, und von dort war es ein stetiger Weg abwärts. Seit Stunden quälten ihn heiße und kalte Schauer. Sein Kopf schmerzte, manchmal fror er regelrecht, aber die meiste Zeit war ihm unerträglich heiß, und er wünschte sich nur, dass es vorbei war.
„Was ist mit ihm?” Die Stimme kannte er nicht. Sie hatte etwas Durchdringendes, und obwohl sie freundlich klang, fehlte ihr auf subtile Weise Wärme. Er wagte kaum zu hoffen, und vermutlich war es sinnlos, aber für einen Moment gab er sich der Vorstellung hin, ein Arzt würde sich endlich um ihn kümmern. Doch die Wachen schienen irritiert von dem Auftauchen des Mannes, und einer von ihnen sagte: „Du solltest nicht hier sein. Karvash hat ausdrücklich befohlen, dass wir-” „Karvash will ihn hier einfach so verrecken lassen? Ich dachte er hat eine nette Summe aus dem Fenster geworfen, um ihn zu bekommen”, wurde er unterbrochen, und jemand kam ohne zu zögern näher. „Ja, aber-” „Er will sich rächen, nicht wahr? Das hat sogar etwas Stil, hätte ich dem alten Sack nicht zugetraut.” „Niemand soll ihn anfassen!” „Tsss...”
Jemand drehte ihn grob an der Schulter herum, riss ihn hoch und gab ihm eine Ohrfeige. „He, mach die Augen auf!”, befahl die amüsierte Stimme. „Ich kann nicht”, murmelte er als Antwort. Er kassierte noch einen Schlag ins Gesicht, heftiger als der erste, und unter Qualen gelang es ihm, die Augen ein wenig zu öffnen.
Der Besitzer der Stimme war älter als er, aber er hatte ein ebenmäßiges, schönes Gesicht, das sein wahres Alter nur erahnen ließ. Sein ungewöhnlich langes, blondes Haar fiel ihm über die Schultern und schimmerte selbst im schwachen Licht wie Silber. Er war zu attraktiv, um ein einfacher Diener zu sein; das bedeutete, er war einer der Prostituierten. Er lächelte, aber die beinahe farblosen Augen blickten seltsam gleichgültig. „Sieh an, noch nicht tot”, stellte er amüsiert fest. „Na, hast du auch einen Namen?”
Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er einen Namen hatte. Er hatte das Gefühl, ihn irgendwann zwischen der Brandmarkung und diesem Moment vergessen zu haben. Es war schwer genug, sich im Fieberwahn noch daran zu erinnern, wo er war und warum er hier war. „Keine Ahnung”, flüsterte er grimmig. Noch ein Schlag ins Gesicht. Wie hatte sein Vater immer gesagt? Schläge auf den Kopf waren gut für das Gedächtnis? Ohne es zu wollen verzog sich sein Gesicht zu einem sardonischen Grinsen. Er hatte keinen Vater mehr, und es gab nichts mehr, das ihn einschüchtern konnte.
Ein Name? Ja, er erinnerte sich an einen. Aber die Zeit, in der er Befehlen gehorcht hatte, lag hinter ihm. Was bedeuteten Schläge und Folter jetzt noch? Er war dem Tode nahe. Alles verlor an Wichtigkeit im Angesicht dieser Tatsache. Niemand konnte ihm in diesem Zustand noch etwas antun; er war eine lebende Leiche, und damit hatte der Tod seinen Schrecken verloren.
„Sag’ mir lieber zuerst deinen Namen”, verlangte er mühsam und war sich bewusst, dass die Worte ineinander flossen wie bei einem lallenden Betrunkenen. Er erwartete einen weiteren Schlag, aber stattdessen wurde er von seinem Bett gezerrt und zu Boden gestoßen. Ein Stiefel traf seine entzündete Schulter, und er schrie so laut auf, dass er glaubte seine Stimme müsse versagen. „Fast tot, und immer noch frech, wie charmant. Ich will ihn haben”, sagte der junge Mann, im gleichen, amüsierten Ton wie zuvor. Die Wache, die an seine Seite geeilt war, schien unentschlossen, was zu tun war. „Aber Karvash-” „- kann mir sowieso nichts, wolltest du sagen? Ich will ihn haben. Er hat dieses entzückende Lächeln, als würde er gleich jemand die Haut abziehen. Karvash weiß es noch nicht, aber er wird mir noch danken, dass wir ihn behalten haben.”
Er wurde wieder gepackt und auf die Knie gezwungen, und der junge Mann sagte freundlich: „Du willst meinen Namen wissen? Dann merk ihn dir gut. Ich bin Anssi Eravier.” Sieh an. Irgendetwas sagte ihm, dass er hier gerade eine interessante neue Freundschaft schloss. Nicht, dass es noch eine Rolle spielte, jetzt, da es nur noch Stunden dauern würde, bis er sich aus seinem Leben verabschiedete. In diesem Fall spielte es aber auch keine Rolle, wenn er seinen Namen erfuhr.
Er hob die Hand, ein endloser und schmerzhafter Prozess, der das entzündete Fleisch in seiner Schulter pulsieren ließ, und packte Anssis Handgelenk. Darauf aufgestützt quälte er sich auf die Füße, begab sich auf eine Augenhöhe mit seinem Gegenüber. Er hatte nicht viel, und ihm gehörte nicht einmal sein eigenes Leben, aber seinen Stolz hatte er noch nicht verkauft. Er hatte nicht siebzehn Jahre Hölle überlebt, um jetzt nachzugeben.
„Solange ich noch am Leben bin… kannst du mich Tarn nennen.”
Tarn schreckte hoch. Desorientiert setzte er sich in der Dunkelheit auf und versuchte sich zurechtzufinden. Erst nach und nach kehrte er aus seinem Traum zurück in die Realität, und er musste nach seiner Stirn und seiner Schulter tasten, um wirklich sicher zu sein, dass er nicht mehr träumte. Aber er hatte kein Fieber, er war nicht siebzehn, und seine Schulter war vernarbt, aber heil. Ihn quälten nur die alten Phantomschmerzen und die Erinnerungen an früher, vielleicht, weil sein ganzer Körper sich glühend heiß anfühlte. Als er eingeschlafen war, hatte er gefroren, jetzt war ihm viel zu warm.
Die Wärmequelle war schnell gefunden; neben ihm lag Ansin, tief schlafend und völlig regungslos, und strahlte Wärme ab wie ein gut geheizter Kamin. Es hätte angenehm sein müssen, weil der Wagen außerhalb ihres gemeinsamen Lagers sonst bitterkalt war, aber Tarn fühlte sich viel zu heiß. Dennoch ließ er sich zurücksinken, schloss die Augen und versuchte eine bequeme Lage zu finden, um wieder einzuschlafen. Doch selbst wenn sein Körper immer noch nach Ruhe verlangte, sein Geist war wach, und nachdem er sich eine Weile hin und her gewälzt hatte, um eine bequeme Schlafposition zu finden, gab er auf und starrte in die Düsternis.
Wie oft war er in den frühen Morgenstunden aufgewacht und hatte grübelnd da gelegen, unfähig mit sich selbst ins Reine zu kommen? Es reichte nicht, dass er zu viel arbeitete, zu selten ausruhte und zu viel bedeutungslosen Sex hatte. Wenn er allein war und versuchte Schlaf zu finden, hielten ihn auch noch seine Gedanken wach. Und er aß zu wenig; ihn selbst kümmerte es kaum, weil er selten Hunger spürte, aber er sah an Jefrems wachsamen Blick, dass er vermutlich zu schnell Gewicht verlor.
An welchem Punkt war alles entgleist? Er kannte das Gefühl, er kannte die Symptome, aber ihm war nicht klar, wieso es gerade jetzt geschah, und auch darüber grübelte er nach. Hatte es einen Auslöser gegeben? Wenn, dann war er ihm nicht bewusst.
Es hatte schleichend begonnen, und zuerst hatte er sich eingeredet, dass er nur zu viel zu tun hatte und zu viele Sorgen, aber die Erschöpfung verschwand nicht. Zuerst langsam, dann von einem Tag auf den anderen, blutete die Farbe aus der Welt, und zurück bleib nur Leere. Er riss sich zusammen, er macht weiter, aber er wusste nicht wirklich wozu. Es hätte irgendetwas Erstrebenswertes in seinem Leben geben müssen, aber da war nichts. Er tat seine tägliche Arbeit, schlief mit Eravier, schlief danach für ein paar Stunden ein, wachte auf und grübelte, bis der Morgen anbrach. Sonst nichts.
Arbeit. Er würde irgendeine Beschäftigung finden. Leise stand er auf, sammelte seine verstreuten Sachen ein, stieg nur in seine Hose, warf sich ein Hemd über und trat hinaus in die kühle Morgenluft. Es war kurz vor Sonnenaufgang, also hatte er vielleicht vier Stunden am Stück geschlafen. Das Lager lag verlassen da, die meisten Feuer herunter gebrannt. Wenn jemand wach war, dann genauso still und heimlich wie er; selbst die Nachtwachen, die außerhalb des Lagers patroullierten, waren außer Sichtweite.
Verloren schlug er den Weg zu den Pferdeknechten ein, ging fröstelnd im grauen Dämmerungslicht den Hang hinab in Richtung Fluss. Raureif hatte sich auf den Grashalmen gebildet und kühlte seine nackten Füße. Der Himmel war verhangen, die Welt grau und leer. Nicht ein Vogel sang. Die einzigen Geräusche waren das Tosen des nahen Flusses und das traurige Heulen des Windes.
Das Lager der Pferdeknechte war völlig still, als er es erreichte. Selbst hier schlief im Moment jeder tief und fest, und vermutlich würde das auch für ein oder zwei Stunden noch der Fall sein. Sie lagerten, das bedeutete, dass alle die seltene Gelegenheit hatten, länger zu schlafen. Jefrem erlaubte es, weil es die Stimmung besserte, auch wenn es eigentlich genug zu tun gab. Tarn war über sich selbst verärgert. Er hätte daran denken müssen, aber sein Kopf war zu voll mit verworrenenen Gedanken und zu benebelt vom Schlafmangel. Selbst die Pferde dösten oder schliefen - die Suche nach Valion und Jan hatte das ganze Lager wach gehalten, und die Bewachung musste die Tiere unruhig gemacht und vom Schlafen abgehalten haben.
Hier gab es also nichts zu tun. Tarn wollte gerade umkehren, als Bewegung in eines der Zelte kam. Es raschelte, jemand rappelte sich auf und gähnte gewaltig, und dann kam Jefrem zum Vorschein. Wie jeden Morgen bot er einen wilden Anblick, das Haar war zerzaust, die Augen klebrig, und sein Kinn völlig stoppelig. Im ersten Moment bemerkte er Tarn gar nicht, sondern schlurfte nur völlig verschlafen in Richtung der für den Morgen bereitgestellten Wassereimer, bis Tarn ihn leise grüßte. „Guten Morgen.”
Jefrem schrak sichtlich zusammen; vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm um diese Uhrzeit jemand über den Weg laufen würde. Er brüstete sich gern damit, der zu sein, der jeden Morgen als erster aufstand. Nun wandte er sich um, um zurück zu grüßen, doch dann musterte er Tarn plötzlich scharf und runzelte auf eine Art die Stirn, die tiefe Besorgnis ausdrückte. Es war nie zu früh am Morgen für Jefrem, um sich Sorgen um andere zu machen. „Guten Morgen? So wie du aussiehst, ist das kein guter Morgen, sondern der Tag des jüngsten Gerichts, und die Toten wandeln wieder auf der Erde! Himmelherrgottnochmal, hast du überhaupt eine Stunde geschlafen?”, fragte er streng.
Tarn fragte sich wie so oft, wie Jefrem es schaffte, seine Knechte innerhalb von Sekunden und mit wenigen Worten zu kleinen Jungen zu dezimieren. Selbst er war dagegen nicht immun, so wie jetzt. Es musste etwas in der Stimme des Alten sein, ein Tonfall, der ganz deutlich sagte: Du bist in Schwierigkeiten, mein Freundchen! Was hast du wieder ausgefressen?
Sein Blick weckte den Wunsch, auf den Boden zu sehen und betreten mit den Füßen zu scharren. Das war umso erstaunlicher, weil Tarn nie einen Vater gehabt hatte, den auch nur ansatzweise scherte, was er ausgefressen hatte.
„Ganze vier”, gab er zu und schaffte es, zumindest ein wenig seines Stolzes aufrecht zu erhalten. Nicht, dass es etwas genutzt hätte, denn Jefrem fuhr im gleichen Tonfall fort: „Na, so siehst du aus! Jetzt aber sofort zurück ins Bett, du kannst in meinem Zelt bei Mischa schlafen, ich fange jetzt nämlich mit der Arbeit an! Lass mich nur schnell meine Sachen holen.”
Er wartete gar keine Antwort und erst Recht keinen Protest ab, sondern kroch in das Zelt zurück; die Geräusche deuteten darauf hin, dass er seine Sachen zusammen suchte. Trotzdem versuchte Tarn abzuwehren, einfach nur aus Prinzip. „Es gibt genug zu tun. Wenn schon, dann weck mich wenigstens in zwei Stunden”, sagte er leise, um Mischa nicht aus dem Schlaf zu reißen. „In zwei Stunden siehst du bestimmt nicht besser aus als jetzt”, erwiderte Jefrem in voller Lautstärke, vermutlich in dem Bewusstsein, dass niemand, der so laut schnarchte wie Mischa, von irgendetwas geweckt werden konnte. Dann krabbelte er wieder aus dem Zelt, in der Hand ein Bündel mit seiner Kleidung, ein winziges Stück Seife, ein Rasiermesser und ein alter Lappen, mit dem er sich immer wusch. „Und du nützt mir bestimmt nichts, wenn du beim Arbeiten einschläfst. Leg dich hin, sonst hole ich mir ein paar Wächter, die dich fest ketten!”, drohte er, und Tarn musste lächeln. „Dafür würdest du eine Menge Ärger kriegen”, sagte er, doch Jefrem lächelte nicht zurück. Er war wieder dabei, Tarn zu mustern, und schließlich brummte er: „Den würde ich glatt einstecken, wenn du endlich wieder mal wie ein Mensch aussiehst.”
„Sag bloß nicht, du machst dir Sorgen”, sagte Tarn leichthin, in der Erwartung, dass Jefrem alles abstreiten würde. So fürsorglich er auch war, er hasste es, wenn jemand ihn bezichtigte eine Glucke zu sein. Doch Jefrem nickte nur bedeutungsschwer, und sein Blick war jetzt völlig ernst. „Und ob ich das tue. Ich bin kein Trottel, das müsstest du inzwischen wissen, und ich sehe doch, wenn es dir nicht gut geht! Du isst kaum, du schläfst kaum, du machst Fehler.”
Es traf Tarn mehr, als er gedacht hatte. Wenn Jefrem ernsthaft besorgt war, dann redete er nicht darum herum, und seine Fürsorge war völlig ehrlich und gerade heraus. Aber trotzdem hatte Tarn das Gefühl, sich dagegen wehren zu müssen, diese Zuneigung nicht annehmen zu können. Und eine Schwäche wollte er erst Recht nicht zugeben.
„Ich mache keine-”, wollte er protestieren, aber Jefrem unterbrach ihn. „Mati wird ausfallen. Sein Gelenk ist verletzt, und wir haben es nicht rechtzeitig bemerkt.” Er nickte in Richtung der Pferde, und Tarn erspähte den schwarzen Hengst fast sofort. Er döste im Stehen, und er wirkte nicht krank, aber Jefrem log ihn nicht an - das lag nicht in seiner Art. „Es war verdammt schwer festzustellen, gebe ich gern zu, aber nur für einen alten Zausel wie mich. Du arbeitest mit Pferden, seit du stehen kannst, und Matis Verletzung einzuschätzen hättest du normalerweise mit Links geschafft. Wärst du konzentriert… oder zumindest ansatzweise bei der Sache…”
„Falls du dich über meine Arbeit bei Eravier beschweren willst-”, versuchte Tarn abzuwiegeln, aber Jefrem ging nicht darauf ein. „Die meiste Zeit machst du deine Arbeit gut, darüber kann sich wohl niemand beklagen. Auch dir passieren Fehler. Aber selten so viele wie jetzt, und jedes Mal wenn ich dich sehe, möchte ich dich zwingen dich zu setzen und was zu essen, damit mal irgendwas an deinem Knochengerüst hängen bleibt.” Er warf einen kritischen Blick auf Tarns Arme und Schultern, denen man in seinem nur halb bekleideten Zustand deutlich ansah, dass sie knochiger geworden waren. Ernst fuhr er fort: „Ich weiß nicht, was los ist, aber es ist bestimmt nichts Gutes. Seit wir den Jungen aufgesammelt haben reibst du dich so auf wie noch nie, und das macht mir Sorgen. Das letzte Mal, als etwas Ähnliches passiert ist… ”
Tarn zuckte unbehaglich zusammen. Jefrem sprach den Satz nicht zuende, aber das musste er auch nicht. Sie wussten beide, was damals geschehen war. Es fehlte ihm noch, dass Jefrem ihn an alte Zeiten erinnerte, auch wenn seine Worte eine erschreckende Plausibilität hatten. Er wollte es nicht wahrhaben, aber er hatte wie damals das Gefühl, die Orientierung verloren zu haben, nicht mehr zu wissen, in welche Richtung er gehen sollte. Jefrem sah ihn erwartungsvoll an, und er war nahe daran, sich zu öffnen, eine Erklärung zu finden. Aber nein, der Zeitpunkt dafür war noch nicht da. Seine Gedanken waren zu ungeordnet, und er war zu müde.
„So weit kommt es nicht”, beschwichtigte Tarn ihn leise, „Und wenn, dann wärst du immer noch da, oder?” „Das stimmt schon”, brummte Jefrem, „aber-” „Wolltest du nicht, dass ich unbedingt schlafen gehe? Dann lass es gut sein.” Damit war das Gespräch für Tarn beendet, und er wandte sich von Jefrem ab und kroch in das Zelt, um sich schlafen zu legen.
Jefrem stand für einen Moment am selben Fleck, dann schüttelte er den Kopf und trabte zu den Wassereimern. Während er sich wusch und rasierte, sinnierte er darüber, dass es keinen Sinn hatte, jetzt weiter in Tarn zu dringen. Nicht, bevor er eine Ahnung hatte, was ihn nach all den Jahren aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Aber was es auch war, es belastete nicht nur Tarn, sondern auch ihn selbst schwer. Es war weit davon entfernt, ungewöhnlich zu sein - jeder seiner Jungen hatte dunkle Stunden gehabt, und manche waren ihm ganz entglitten. Manche seiner Knechte waren irgendwann verschwunden, zurück zu dem, was sie kannten und womit sie sich jahrelang über Wasser gehalten hatten; meistens beinhaltete es, anderen die Kehle durchzuschneiden.
Tarn war nicht der erste und nicht der letzte Knecht gewesen, den er aufgenommen hatte. Er war nicht der härteste, mit dem er je zu tun gehabt hatte - das war Mischa gewesen, der ihm im Streit fast den Schädel zertrümmert hatte. Er war auch nicht der leichteste gewesen, das war Viljo, der jetzt eine Frau und Kinder hatte und von jedem gemocht wurde, obwohl er früher jeden umgebracht hätte, der zwischen ihn und eine Flasche Fusel kam. Aber in gewisser Weise war Tarn trotzdem etwas Besonderes. Das Leben hatte ihn öfter und heftiger als andere zu Boden geworfen, und mehr als einmal hatte der Tod ihn vermutlich nur nicht mitgenommen, weil er die Mühe nicht mehr wert schien. Man musste Mitleid mit jedem haben, der immer wieder in die Fänge der falschen Menschen geriet.
„So weit kommt es nicht?”, brummte Jefrem unbehaglich und widerholte damit Tarns Worte. „Ich wünschte, das könnte ich glauben. Aber ich glaube, ich kenne dich inzwischen etwas besser.”
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Eigentlich war es nur eine Ausrede gewesen, aber jetzt, da Tarn im Zelt war, war es im Grunde egal, ob er sich hin legte oder nicht. Nicht, dass das eine einladende Vorstellung war; Jefrems Lager war, wie alles in seinem Besitz, ein schäbiger Anblick. Alle seine Gebrauchsgegenstände waren tausendmal geflickt, ausgebeult, angeschlagen und abgewetzt, da machten die dünnen Decken in denen er schlief keine Ausnahme. So mutete seine Schlafstätte an wie ein riesiger Haufen Lumpen, vor allem im Vergleich zu Mischas sorgfältig genähter bunter Flickendecke, die ihn großzügig einhüllte, ein Geschenk seiner Schwester. Mischa lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, und schnarchte hingebungsvoll. Niemand wollte sich das Zelt mit Jefrem oder Mischa teilen, weil den Krach einfach niemand aushielt, deshalb schliefen sie zusammen und schnarchten sich nachts gegenseitig an. Tarn bezweifelte, dass er ein Auge zu tun würde, aber er legte sich dennoch hin, hüllte sich in die drei Decken, die alle an unterschiedlicher Stelle ein großes Loch hatten und deshalb insgesamt nur zwei Decken ergaben, und schloss die Augen. Der Boden war hart, und es war kühl, laut und roch nach Pferden und nach Jefrem. Es war eine Zusammenstellung all der kleinen Dinge, die den brummeligen alten Kerl ausmachten; harte Arbeit und ein hartes Leben, schnörkellos und gerade heraus. Vielleicht fühlte er sich deshalb plötzlich sicher.
Und es erinnerte ihn so sehr wie noch an sein Zuhause. Wie oft hatte er lieber im Stall geschlafen, in der Nähe der Pferde? Es war einfacher, außer Sichtweite zu sein, und einen Heuhaufen musste man sich im Gegensatz zu seinem Bett nicht mit zwei Geschwistern teilen. Damals hatte er ständig zwischen Liebe und Abneigung geschwankt - es gab nicht genug zu essen und auch nicht genug Platz für sie alle. Jetzt, Jahre später, war es einfacher, all die Wut, die er früher gespürt hatte, zu verdrängen und sich an das Gute zu erinnern. Er vermisste seine Familie, und trotzdem hatte er sie wieder einmal seit Monaten nicht gesehen. Vielleicht war es Zeit, heimzukehren, auf einen Besuch. Arize hatte inzwischen ihr drittes Kind, er hatte es noch gar nicht gesehen, und wer wusste schon, welchen Ärger sich Hers wieder eingehandelt hatte, während er nicht da gewesen war.
Es war seltsam - früher hatte er nie daran gedacht, länger als ein paar Monate zurückzukehren, aber plötzlich fragte er sich, ob es nicht Zeit wurde, für immer bei seiner Familie zu bleiben. Im Grunde hielt ihn nichts mehr hier. Jefrem fand Mittel und Wege, sich mit ihm auszutauschen, das war schon immer so gewesen, also musste er nicht befürchten, den Kontakt zu ihm oder den anderen Pferdeknechten zu verlieren. Und sonst gab es unter den Dienern niemand, der ihm nahe genug stand, um ihn einen Freund zu nennen. Er hatte Verpflichtungen, und die Pferde lagen ihm am Herzen, aber bei Jefrem waren sie gut aufgehoben. Und Ansin…
Nein, er wusste nicht, was der Gedanke, ihn nie wieder zu sehen, in ihm auslöste. Was er wusste war, dass seine Fähigkeit ihn zu zügeln spürbar nachgelassen hatte. Er hatte Faures Tod nicht verhindern können, er hatte ihn nicht einmal kommen sehen. Er war entbehrlich geworden, selbst für die Rebellion. Das war einerseits bedrückend, aber gleichzeitig war es ein befreiendes Gefühl. Niemand brauchte ihn… Er driftete weg, hin zum Schlaf, und die Gedanken verebbten zu einem Murmeln.
Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass er sich geirrt hatte. Jemand brauchte ihn, zumindest jetzt noch. Er hatte noch eine Aufgabe, bevor er endlich alles hinter sich lassen konnte. Er musste Valion…
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Nebel. Er war so dicht, dass Valion kaum weiter als zwei Meter sehen konnte. Er war völlig allein. Nass glänzende Baumstämme, viele von ihnen abgebrochen oder verfault, ragten aus dem Boden wie schwarze Pfähle. Der Wald umgab ihn schweigend und drohend, so feindselig, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Er drehte sich im Kreis um seine eigene Achse und sah nichts Vertrautes, kein Zeichen, keinen Hinweis auf Leben. Nur nasses Laub, Nebel, und die Bäume, die sich endlos in den Himmel streckten und deren Kronen im Dunst verschwanden. „Jan?!” Seine Hand- und Fußgelenke schmerzten wie verrückt, etwas Schweres lastete auf seinem Brustkorb und schnürte ihm die Luft ab. Er sah sich um und lief los, aber er wusste nicht einmal wohin. Alles sah gleich aus. „Jan?!”
„Jan?!”
Er riss sich selbst mit seinen Rufen aus seinem Alptraum und mitten hinein in absolute, blinde Panik. Alles um ihn war schwarz, er konnte nichts sehen, und sein Herz raste wie verrückt in seiner Brust. Er lag ausgestreckt auf dem Rücken, und etwas Schweres lag auf ihm, auf seinem Brustkorb, sodass er das Gefühl hatte nicht atmen zu können.
Er versuchte tief Luft zu holen, um sein Herz zu beruhigen, aber er konnte es nicht, und das Gefühl zu ersticken wurde noch unerträglicher. Jemand hatte ihn an Händen und Füßen gefesselt, das spürte er jetzt, und instinktiv riss er an den Ketten. Aber die Handschellen schnitten ihm nur in die Haut und verstärkten das Gefühl der Enge. Seine Arme fühlten sich taub an, und der panische Gedanke, dass die Blutzufuhr unterbrochen war, schoss ihm in den Kopf. Er musste ihn mit aller Macht nieder kämpfen.
Wo war er? Jan hatte ihn nieder geschlagen, da waren sie noch im Wald gewesen, aber jetzt war er an irgendeinem anderen Ort. Vielleicht wieder der Pestwagen? Nein, er lag nicht auf dem blanken Holzboden, und er hatte das unbestimmte Gefühl, in einem wesentlich kleineren Raum zu sein. Aber statt dass es ihn tröstete, verstärkte diese Erkenntnis nur das Gefühl der Panik und Beengung. Es gab nichts, an dem er sich fest halten konnte, nichts Vertrautes oder auch nur Bekanntes. Er versuchte die Hand zu heben, um zu sehen, ob er sie in der Dunkelheit erkennen konnte, aber sie wollte sich keinen Zentimeter bewegen. Er lag stumm da, wie versteinert, und kämpfte um jeden Atemzug. Seine Haut brannte, und er starrte verzweifelt und blind in die Schwärze.
Er war allein, völlig allein. Das Wissen stürzte mit aller Macht auf ihn ein. Tarn hatte ihn verraten, um ihn zu schützen, und das hätte ihn wütend machen müssen, aber alles woran er denken konnte, war Jan. Er war verletzt, durch seine Schuld, krank, vielleicht kurz vor dem Erfrieren, und endlos weit weg. Valions Herz schlug noch schneller, und das Gefühl nicht atmen zu können wurde noch stärker. Selbst wenn er vermocht hätte sich zu befreien, selbst wenn er den Mund öffnete um zu schreien, er konnte Jan nicht mehr erreichen. Aber auch wenn Jan jetzt direkt neben ihm gesessen hätte, hätte er sich vermutlich wütend abgewandt. Alles was sie einander geschworen hatten, alles, was sie verzweifelt versucht hatten zusammen zu halten, war in diesem einen Moment zerbrochen…
„Shh… hörst du mich?” Eine Hand tastete sich in der Dunkelheit zu Valion heran und legte sich beruhigend auf seinen Kopf. Endlich hatte Valion einen Anhaltspunkt in der Dunkelheit. Er konnte nur Schemen erkennen, aber er sah die verschwommenen Umrisse einer Person, die sich über ihn beugte - eine Frau, der Stimme nach.
„Du hast geschrien”, flüsterte sie leise. Es klang entschuldigend, als wäre das kein guter Grund, ihn zu stören, aber so unerwartet das plötzliche Auftauchen auch war, umso erleichternder war es jetzt, eine Stimme in der Dunkelheit zu hören. Es gab dem totenstillen Raum plötzlich einen Klang, Hall, eine Perspektive. Und wer auch immer die Frau war, sie schien zu verstehen, vielleicht zu fühlen, wie panisch Valion war. Sie strich beruhigend, in langsamen, gleichmäßigen Bewegungen, über sein Haar, und flüsterte ihm zu: „Du bist bewusstlos hierher gekommen, du musst sehr verwirrt sein. Ich kann ein Licht anzünden, wenn du willst. Oder… soll ich kurz deine Hand halten?”, fragte sie zaghaft nach.
Valion nickte, und sie griff nach seiner kaum bewegungsfähigen Hand. Er erwartete, dass er nichts spüren würde; nichts außer den tausend Nadelstichen die man fühlte, wenn ein Arm oder ein Bein taub wurde. Aber die Haut fühlte sich jetzt wieder völlig normal an. Sie drückte seine Hand kurz und kräftig, aber nicht so, dass es schmerzte, dann ließ sie locker und begann mit dem Daumen über seinen Handrücken zu streichen. Erst hielt er es für eine zufällige Bewegung, aber dann erkannte er, dass ihre Finger einen langsamen Kreis beschrieben, und sie flüsterte ihm zu: „Atme ganz langsam. Einatmen, ein halber Kreis, Ausatmen, ein halber Kreis. Einatmen… Ausatmen… Verstehst du?” Er verstand, und obwohl es eine völlig verwirrende Aufforderung war tat er was sie sagte, atmete im Rhythmus der Bewegung. Einatmen. Ausatmen.
Es half, obwohl er nicht damit gerechnet hatte. Langsam, ganz langsam, beruhigte sich sein Herzschlag. Einatmen. Ausatmen. Es fiel ihm jetzt nicht mehr so schwer, Luft zu holen, als würde sich sein versteinerter Körper langsam lösen. Das Gewicht, das auf ihm lag, die Kette zwischen seinen Handfesseln, bewegte sich mit seinem Brustkorb auf und ab, genauso langsam, aber es erschien ihm jetzt weniger schwer, und die Dunkelheit schien zurück zu weichen.
Selbst die Stille hielt nicht an, denn die Frau begann zu summen, ein Kinderlied, obwohl er sich nicht erinnerte, wie es hieß. Er dachte an seine Mutter, wie sie manchmal bei der Handarbeit summte, abends, wenn das Feuer fast heruntergebrannt war und die Welt sich zur Ruhe begab. In diesem Moment sehnte sich unglaublich nach ihr, und der Gedanke dass sie ebenfalls weit weg war, nicht einmal wusste, wie es ihm ging, schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte das alles nicht, er wollte diesen Schmerz nicht fühlen, nicht verlassen sein. Aber wenigstens war er nicht ganz allein. Einatmen. Ausatmen. „Wo ist Jan?”, fragte er, und seine Tränen liefen an den Schläfen hinab und versickerten in seinem Haar. „Ist er entkommen? Ist er-” „Wir finden es bald heraus. Gleich, wenn die Sonne aufgegangen ist. Denk jetzt nicht daran. Denk an etwas Schönes”, unterbrach sie ihn sanft und summte weiter. Vermutlich wusste sie nicht einmal, von wem er sprach.
Wie lange würde es dauern, bis der Morgen dämmerte? Es erschien ihm so unendlich weit weg. Einatmen. Ausatmen. Was summte sie da? Jetzt erkannte er die Melodie, »Im Mondlicht«. Wer hatte ihm das vorgesungen, und wann? Er glaubte sich erinnern zu können, dass es Nisha gewesen war.
Er sollte an etwas Schönes denken, aber im ersten Moment kam ihm nichts in den Sinn, und er wollte nicht an Jan denken und nicht an seine Familie. Dann dachte er an das Lied, das sie summte, und erinnerte sich an das silberne Mondlicht, das die Lichtung so sanft erhellt hatte. An den ruhigen Teich mit dem eiskalten, klaren Wasser. Er dachte an die kleinen, vom Wind getriebenen Wellen, die darüber geglitten waren. Die struppigen Büschel von Gras, und die dichten Büsche, die leise in der Brise wogten. Blätterrauschen. Wind.
Sein Körper entspannte sich langsam. Das Summen begleitete ihn in den Schlaf.
Er träumte wieder, aber diesmal war es ein schöner Traum. Es musste ein schöner Traum sein, weil Jan bei ihm war.
Er lag dicht neben ihm und sah ihn an, und verschlafen drehte Valion sich vom Rücken auf die Seite und umarmte ihn, legte seinen Kopf an seine Brust. Jans schlang seine Arme um ihn, und er streichelte sein Haar und seinen Rücken. Es war nur ein schmales Lager, und es war ziemlich eng zu zweit, aber so lagen sie Körper an Körper, und es war ein warmes, geborgenes Gefühl. Valion wollte nichts weiter, als für immer so auszuharren.
Aber ihn quälte eine Frage, und schließlich flüsterte er Jan mit geschlossenen Augen zu: „Warum bist du nicht wütend auf mich?” Jan lachte leise. „Denkst du, ich lasse mich von seinen billigen Trick hereinlegen? Ausgerechnet ich? Ich habe dich doch gewarnt, dass du ihm nicht trauen kannst. Er hat uns beide überlistet, und jetzt hat er dich.”
„Das ist nicht wahr, niemand hat mich”, murmelte Valion protestierend, aber Marceus schüttelte milde den aufgestützten Kopf. Irgendwie erinnerte sich Valion nicht daran, dass er zuvor da gewesen war, aber jetzt er lag auf der anderen Seite des Lagers, hinter Valion, auf der Seite und sagte: „Und dabei hat er dich doch selbst gewarnt. Er hat dir gesagt, dass du ihm nicht vertrauen kannst.” Jan warf über Valions Schulter hinweg einen unfreundlichen Blick zu Marceus. „Was macht er hier? Er nimmt uns den Platz weg”, murmelte er verärgert, aber Marceus ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich bin hier, weil Valion es so will. Und Platz haben wir genug.” Er griff eine Hand voll Heu und warf sie nach Jan, und Valion sah sich verschlafen in der Scheune um, in der sie lagen, weich gebettet auf einem großen Haufen Stroh. Richtig, genug Platz. Hier würde sie sicher niemand finden. Seltsam, das Dach fehlte, er sah die Sterne. War er nicht irgendwo anders gewesen?
Völlig egal, er war müde, und es war warm. Valion vergrub sein Gesicht in Jans Halsbeuge, weil er sich den Streit nicht anhören wollte. Jan klammerte sich Besitz ergreifend an ihn, während Marceus interessiert Valions Rücken betrachtete und einige seiner Haarsträhnen aus seinem Nacken strich. Was auch immer er entdeckt hatte, Valion fühlte es plötzlich auch - ein Stechen und Brennen in seinem Rücken. War da nicht Irgendetwas gewesen? „Du hast da ein Messer im Rücken”, sagte Marceus, und Valion zuckte mit den Achseln, obwohl es ein wenig weh tat. „Lass es da”, sagte er, und Jan fragte kryptisch: „Weil es dir egal ist, oder weil es von ihm ist?” „Es wird doch etwas eng, wenn er auch noch dazu kommen soll”, wandte Marceus ein, legte seine Arme um Valion und küsste seinen Nacken und die Schulterblätter. „Ich weiß”, murmelte Valion, aber er musste auch lächeln. Er hatte wirklich nichts dagegen, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. „Erzähl uns, was du mit Nisha getan hast”, sagte Marceus, und Valion errötete, aber Jan nickte nur zustimmend. Woher wussten sie davon? Das war hier gewesen, im Heu. „Erzähl uns alles davon”, forderte Jan ihn erneut auf und küsste seinen Hals.
Plötzlich waren zwei paar Hände überall auf Valions Körper. Jans tastende Finger schoben sich unter sein Hemd, streichelten über die nackte Haut seines Oberkörpers, Marceus wanderten tiefer, über seine Wirbelsäule zu seinem Gesäß. Valion streckte die Hände aus, griff Jan im Nacken und Marceus an seiner Kleidung und zog sie zu sich heran.
Er wollte sie küssen, alle beide, am besten gleichzeitig. Es war ein überwältigendes Gefühl, das ihn fast verrückt machte, ein unstillbarer Hunger nach Berührung, den er überhaupt nicht gekannt hatte, nicht, bis Jan das erste Mal auf seinem Schoß gesessen und ihn mit seinem Verlangen in Brand gesteckt hatte. „Was hast du mir mir gemacht, Jan?”, flüsterte er verzweifelt und küsste ihn begierig. Seine Hand fuhr durch sein Haar, so weich und zart, und das Gefühl war untrennbar mit der Erinnerung verbunden, wie heiß und feucht sich sein Mund angefühlt hatte. Marceus ergriff ihn sanft an der Schulter, drehte ihn zu sich herum und küsste ihn auf den Mund, und dann sagte er: „Wir haben gar nichts gemacht. Das war schon alles in dir.” Seine Hand legte sich auf Valions Brust, direkt über das Herz, das wie wild schlug.
Er hatte Recht, das wusste Valion. Aber er hatte es vergessen. Er hatte es vergessen, weil es zu viel war, zu groß, zu stark, zu schmerzhaft. Gott, wie sehr hatte er Nisha geliebt, und wie sehr hatte er gehofft, sie würde das selbe spüren wie er. Er hatte ihr schon einmal gezeigt was er empfand, und es hatte ihn verletzt. Erst jetzt verstand er, wie tief diese Wunde gewesen war und wie sehr sie ihn beeinflusst hatte, bis Jan gekommen war, um seine Gefühle wieder wachzurufen. Nisha hatte Recht gehabt, sie hatte ihn ausgenutzt. Erst jetzt begriff er, dass er gewünscht hatte-
„Das ist völlig inakzeptabel, du hirnloser Kretin!” Irgendetwas zerbrach mit lautem Splittern auf dem Boden, und innerhalb von Sekunden saß Valion senkrecht auf seiner Bettstatt, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er sah sich hektisch um, aber bis auf drei schmale, dicht bei einander liegende Lager, die von einer hölzernen Trennwand abgeschirmt wurden, sah er niemand. Das Innere des Wagens lag jetzt im Halbdunkel, weil nur wenig vom Tageslicht von draußen herein drang, aber wenigstens war es hell genug, dass Valion sich in seiner neuen Umgebung zurecht. Der Streit, oder was auch immer es war, schien weiter vorn, nahe des Ausgangs statt zu finden.
„A-aber Herrin, das ist die Anweisung die wir-”, stammelte irgendjemand, vermutlich ein Diener, aber er wurde harsch unterbrochen, als die aufgebrachte Frauenstimme ihn anfuhr: „Wir werden uns nicht draußen im Freien, in der Kälte, in irgendeinem Waschzuber waschen! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das unter unserer Würde ist?! Hörst du mir zu? Du wirst jetzt gehen und Ansin ausrichten, dass er uns eine Alternative zu bieten hat!” „Aber-” Diesmal splitterte es noch lauter. „Wenn ich noch ein »aber« höre wirst du den Tag verwünschen, an dem du geboren wurdest!”
„Was soll Krach?”, polterte eine tiefere Männerstimme, vermutlich eine Wache, „Es ist alles bereit, wenn ihr bitte mitkommen würdet.” „Oh Gott, muss ich mich widerholen? Ich sagte, dass wir nicht-”, setzte die Frauenstimme wieder an, aber der Wächter unterbrach sie, mit einer Mischung aus Verachtung und gönnerhaftem Verständnis: „Herrin, darüber brauchst du nicht zu diskutieren. Morgen wird alles wieder wie gehabt hergerichtet, aber momentan haben wir ein paar Probleme mit der Versorgung. Bedank dich bei unserem Flüchtling.” „Dann warte ich eben, bis alles so weit ist!” „Tut mir Leid, Herrin, aber Herr Eravier will dich gleich danach dringend sehen, wenn du also so freundlich wärst…”
Ein resigniertes „Tss, wenn es unbedingt sein muss!” deutete daraufhin, dass die Frau ihre Forderungen aufgab, doch eine weitaus ruhigere, tiefere Frauenstimme fragte stattdessen: „Was ist mit dem Jungen? Valion hieß er, oder? Wird er uns begleiten?” „Ja, er soll ebenfalls zu Eravier gebracht werden”, stimmte die Wache zu, und Valion verkrampfte sich. Er würde Eravier gegenüber treten müssen, vermutlich, um sich für seine Flucht zu verantworten. Vielleicht würde er befragt werden, oder sogar gefoltert, um alles aus ihm heraus zu holen, was Jan oder die Rebellion betraf. Der Gedanke löste Übelkeit in ihm aus.
Aber warum war er dann hier? Sein Blick schweifte hektisch über die Umgebung, aber dieser Wagen sah kaum wie ein Gefängnis aus, im Gegenteil. Wären nicht die Ketten um seine Hand- und Fußgelenke gewesen hätte nichts darauf hingewiesen, dass er hier ein Gefangener war. Die Lager waren schlicht, aber wesentlich bequemer als der blanke Holzboden, die Decken und Kissen sahen sauber aus, waren weich und hatten keine Risse. Es gab nicht, wie zuvor im Pestwagen, eingelassene Ringe um Gefangene fest zu ketten. Und wenn er richtig gehört hatte, war er hier allein mit zwei Frauen untergebracht. Das ergab alles keinen Sinn.
Er hatte jedoch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn die zweite Frauenstimme sagte sanft: „Wartet bitte, ich hole ihn. Möglicherweise ist er noch nicht aufgewacht.” „Na von mir aus”, brummte der Wächter, und Schritte näherten sich Valion, bis eine Frau am Rand der Trennwand auftauchte. Ihr Blick fiel auf ihn, wie er sie erwartungsvoll anstarrte, und ein schmales, sanftes Lächeln zog über ihr Gesicht. „Oh, du bist schon wach. Komm! Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen. Ich bin Jadzia.” Sie streckte die Hand aus um ihm zu bedeuten, ihr zu folgen.
Valion konnte nur nicken und erhob sich schnell, wobei er tatsächlich die helfend hingestreckte Hand ergreifen musste, da seine kurzen Fußketten ihm nur winzige Schritte erlaubten. Dann folgte er Jadzia um die Trennwand herum, durch den außerordentlich großzügig ausgestatteten Wagen, und seine Verwirrung wurde nur noch größer. Das war auf keinen Fall ein Gefängnis, und wenn, dann das prunkvollste, das er jemals gesehen hatte. Überall war Stoff drapiert, um das hölzerne Skelett des Wagens zu verbergen, und es gab eine Menge Laternen für die Nacht, dadurch wirkte das Innere tatsächlich wie Wohnraum. Es gab einen niedrigen Tisch mit Sitzkissen und einen weiteren sehr schmalen hohen, auf dem eine Waschschüssel stand, dazu eine große Truhe.
Obwohl seine neue Unterbringung sein Interesse weckte, war Valion zunächst hin und hergerissen, ob er seine Umgebung oder lieber Jadzia betrachten sollte. Sie führte ihn bedacht an der Hand weiter und drehte sich immer wieder zu ihm um, und so hatte er genug Gelegenheit, ihr Gesicht zu bewundern. Es geschah nicht oft, dass er von Schönheit überwältigt war, aber eine Frau wie sie hatte er noch nie gesehen. Sie hatte große, dunkelbraune Augen, volle Lippen, eine gerade Nase und hohe Wangenknochen. Ihre dunkle, fast schwarze Haut war ebenmäßig, und ihr schwarzes Haar war zu vielen, dünnen Zöpfen geflochten, kunstvoll hochgesteckt und betonte ihren langen Hals. Von einem war er sofort überzeugt: sie musste es gewesen sein, die nachts an seiner Seite gewesen war. Die sanfte Stimme, die Ruhe und Freundlichkeit, die sie ausstrahlte, alles passte dazu.
Der Eingang des Wagens wurde großzügig von einem dicken Vorhang abgetrennt. Als Jadzia ihn beiseite schob, kamen dahinter die Wache und die zweite Frau, die er gehört hatte zum Vorschein, außerdem die Scherben von etwas, das früher einmal zwei schlichte Keramikbecher gewesen sein musste, vermutlich aus Wut zerschmettert. Weiter kam er nicht mit seiner Betrachtung der Situation, weil die andere Frau sich ihm in den Weg stellte und ihn kritisch musterte.
„Mein Name ist Anya”, stellte sie sich vor, „Irgendein Idiot hat beschlossen, dass du ab jetzt mit uns reisen sollst. Da wir dir aber unsere missliche Lage zu verdanken haben kann ich nicht behaupten, dass ich besonders froh darüber bin, dass du zu uns gestoßen bist.” Sie funkelte ihn an, und dazu stützte sie provokant die Hände in die Hüften, als wolle sie verhindern, übersehen zu werden, aber diese Gefahr bestand durchaus nicht. Sie überragte Valion um einen halben Kopf und wog vermutlich doppelt so viel wie er, und ihre breiten, runden Hüften wogten bei jedem Schritt. Ihre reine, schneeweiße Haut und die leuchtend roten Haare, die in einer gewaltigen Mähne bis zur Mitte ihres Rückens reichten, machten sie zu Jadzias komplettem Gegenteil, mit einer Ausnahme - ihre Schönheit war absolut ebenbürtig. Allerdings löste ihre provokante Art in Valion nicht das selbe stumme Staunen aus, das Jadzia bewirkte. Er war sich nicht sicher, ob er sie mögen würde - er war zwar Jans Sprüche gewöhnt und machte sich nichts aus ihren direkten Worten. Aber die Art, wie sie sich durch die Haare fuhr und sich inszenierte deutete darauf hin, dass sie recht eitel war, und damit kam er nicht gut zurecht. Ohne weiter nachzudenken antwortete er: „Das nächste Mal lasse ich mich erschießen, um dir das zu ersparen.”
Ihre Mundwinkel zuckten verräterisch, als wolle sie lachen, aber im nächsten Moment fragte Valion sich, ob er sich das eingebildet hatte, weil sie sich brüsk abwandte. Statt ihn weiter zu beachten, baute sie sich vor der Wache auf, die immer noch im Wagen stand und ungeduldig auf sie wartete. Sein Gesicht kam Valion bekannt vor, er musste ihn am Tag zuvor gesehen haben. „Na schön”, sagte Anya schnippisch, „Können wir jetzt gehen? Ich werde schließlich erwartet!” Damit stolzierte sie vorran.
Die Wachen, insgesamt drei, eskortierten sie ein Stück durch das Lager, das inzwischen wesentlich voller wirkte als die Tage zuvor. Die Diener schienen hektisch damit beschäftigt, ihre Rückstand vom letzten Abend aufzuholen, und vieles von dem, was sonst in den Wagen lagerte, schien für die Dauer ihres Aufenthalts nach draußen geschafft worden zu sein. Das Ergebnis war organisiertes Chaos, und eigentlich hätten die drei Sklaven und ihre Bewacher kaum auffallen dürfen, aber das Gegenteil war der Fall - sie wurden praktisch ununterbrochen angestarrt.
Jadzia duckte sich sichtlich unter den Blicken, und sie verschwand beinahe instinktiv in Anyas Schatten, hielt sich nahe bei ihr, wenn sie sich beobachtet fühlte und ließ den Blick gesenkt. Anya schien das alles nicht zu stören, im Gegenteil, sie schien dafür geboren zu sein, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die Blicke befeuerten sie nur. Sie hatte ein zuckersüßes Lächeln aufgelegt, sah sich aufmerksam um, zwinkerte ein paar Männern zu und scherte sich einen Dreck um abfällige Blicke - negative Aufmerksamkeit prallte völlig wirkungslos an ihr ab.
Und dann gab es einen nicht unbeträchtlichen Anteil von Dienern und Wächtern, die Valion finstere Blicke zu warfen. Sie wussten, wem sie die Unruhe und die zusätzliche Arbeit verdankten, und Valion versuchte wie Jadzia den Blick gesenkt zu halten und ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er nicht direkt dafür verantwortlich war, wie es den Dienern oder Wächtern erging, aber trotzdem spürte er Schuld. Er hatte alles ins Chaos gestürzt, auch wenn er es nicht beabsichtigt hatte. Dabei hatte er nur bei Jan sein wollen…
Er schob den Gedanken hastig von sich. Der Schmerz und die Panik lauerten dicht unter der Oberfläche seiner Ruhe, und er musste all seine Kraft darauf verwenden, seine Emotionen nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Unterbewusst verstand er, dass er diese Gedanken nicht für immer aussperren konnte, aber so lange er seine Ruhe aufrecht erhielt, funktionierte er. Deshalb verbannte er alles aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf die Wachen, die sie führten.
Je länger er ein Teil der Wagenzuges war, desto besser konnte er einzelne Gesichter auseinander halten, und diese drei hatte er tatsächlich schon öfter gesehen. Sie hatten ihn und Jan aus dem Wagen gezerrt, und der hässliche von den drei hatte Jan geschlagen. Er war es auch, der Jadzia und Anya jetzt immer wieder gierig von der Seite musterte. Vor allem auf Jadzia klebte sein Blick, und weil sie sich auf der vom Lager abgewandten Seite hinter Anya verborgen hielt musste sie zwangsläufig in seiner Nähe gehen, was ihr großes Unbehagen zu bereiten schien. Wenn er sich ihr auf weniger als drei Schritte näherte, wich sie ihm aus, und diese Wirkung schien ihm durchaus bewusst. Er grinste dreckig und machte es sich zum Spaß, sie immer wieder abzudrängen. Der dritte Wächter ging vorraus, aber der zweite war auf einer Höhe mit Valion, und auch er kam ihm bekannt vor. Er war ein Baum von einem Mann, muskelbepackt und vermutlich über 100 Kilo schwer, und im Gegensatz zu seinem hässlichen Kumpan strahlte er wesentlich mehr Wachsamkeit und auch einiges an Intelligenz aus. Er schien seine Aufgabe ernst zu nehmen, sein Blick wanderte zwischen den Frauen, den anderen Wächtern und Valion hin und her, und er bemerkte durchaus, wie sehr Jadzia zugesetzt wurde, doch er schritt nicht ein. Doch nicht nur das fiel ihm auf - er sah, dass Valion ihn beobachtete, und als Valions Augen zu seinem Kumpan und Jadzia wanderten und wieder zu ihm zurück, nickte er als Antwort kaum merklich, sagte aber nichts. Widerwillig spürte Valion etwas Respekt ihm gegenüber - er war klug genug, auch die anderen Wächter im Auge zu bahelten, und Valion versuchte jetzt noch mehr als zuvor, sich sein Gesicht einzuprägen. Möglich, dass er das noch einmal brauchen würde.
Sie hatten vermutlich gerade die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als Anya plötzlich jemand zu erspähen schien, den sie nicht nur mit einem Lächeln oder Zwinkern bedenken wollte. „Gaeeel!”, flötete sie und verließ eilig die kleine Gruppe. Der hässliche Wächter schnauzte: „He!” und wollte sie abhalten, aber der große Wächter neben Valion pfiff ihn zurück: „Lass sie, Levin!” „Aber Guy, sie-” „Das ist ihr erlaubt.”
Anya achtete gar nicht auf ihre Bewacher, in der vollen Überzeugung, dass niemand das Recht hatte sie von irgendetwas abzuhalten, und ging auf den Mann zu, der sie gerufen hatte. Ein Menschenhändler. Er sah sie und wirkte erfreut, und obwohl man nicht verstehen konnte, was die beiden zueinander sagten, trat Anya nach einer kurzen Begrüßung noch näher an ihn heran und legte eine Hand zärtlich auf seine Brust.
Valion ballte die Fäuste. Plötzlich fühlte er sich gleichzeitig wachsam und abgestoßen. Er hatte noch nicht viel von den anderen Händlern mitbekommen, nur ihre Namen aufgeschnappt, aber anscheinend waren sie nicht weniger zwielichtige Gestalten als Eravier, wenn sie auf diese Art mit ihren Sklaven verkehrten. Und Anya flirtete den Händler so schamlos und offensichtlich an, dass Valion das Zusehen fast peinlich war.
Jadzia trat leise neben ihn, die Arme vor dem Körper verschränkt, und flüsterte ihm zu: „Das ist Gael Karvash, Anya hat ein Auge auf ihn geworfen.” Valion nickte und flüsterte zurück: „Das ist kaum zu übersehen.” Er schaffte es nicht ganz, die Abneigung aus seiner Stimme zu verbannen, und er sah, dass Jadzia für einen Sekundenbruchteil die Stirn runzelte, doch dann ging sie darüber hinweg. „Er ist ziemlich reich, und sie findet ihn attraktiv”, erklärte sie weiter, „Wenn sie kann, geht sie und trifft sich mit ihm.” Sie sagte das so urteilsfrei, dass Valion einfach nachfragen musste: „Ist er denn allein? Ich meine, hat er nicht-” „Angeblich hat er drei Ehefrauen”, flüsterte Jadzia zurück und zuckte mit den Schultern, zum Zeichen, dass sie selbst nicht wusste, ob das der Wahrheit entsprach. „Anya versteht sich gut mit den Händlern. Eravier soll ihr auch recht zugetan sein. Wenn du ein Problem hast oder etwas brauchst, wendest du dich am besten an sie, sie kann einiges bewirken.”
„Hört auf zu schwatzen, hier werden keine Pläne mehr ausgeheckt, verstanden?”, schnauzte Levin plötzlich und gab Valion einen Stoß, und hastig nahmen sie beide etwas Abstand voneinander. Aber gleichzeitig war es Valion recht, dass ihr Gespräch damit endete. Er betrachtete Anya aus der Ferne, und Widerwille wallte in ihm auf. Er glaubte nicht, dass er die Abneigung, die er fühlte, Jadzia gegenüber weiter verbergen konnte.
Das merkwürdige war, dass ihm diese Art von Abneigung eigentlich fremd war. Es kam selten vor, dass er jemand auf Anhieb nicht leiden konnte, aber alles an Anya erschien oberflächlich und falsch. Wenn er sie sah, wie sie sprach, sich bewegte, ihr Haar zurückwarf, wurde er nur misstrauisch. Alles an ihr war darauf ausgerichtet, Männer um den Finger zu wickeln, vom Schwung ihrer Hüften bis zu dem melodischen Lachen, das jetzt zu ihm herüber schallte. Dazu kam, dass sie anscheinend jede Beziehung, die sie knüpfen konnte, gnadenlos ausnutzte, es konnte gar nicht anders sein. Wie sonst konnte sie so mit den Dienern und Wächtern umspringen und sich wie eine Königin benehmen? Sie wickelte alle, die in irgendeiner Weise Einfluss hatten um den Finger, und der Rest kuschte notgedrungen vor ihr.
Er sah dabei zu, wie sie auf Karvash einredete, und es war schmerzhaft offensichtlich, wie sie ihn für sich einnahm. Sie hielt Körper- und Augenkontakt, stand immer nahe bei ihm, legte ihre Hände auf seinen Arm oder seine Brust und verlor niemals ihr Lächeln. Sie war darauf aus seine Aufmerksamkeit zu bekommen, und es gelang ihr gut. Es erinnerte Valion an das, was Tarn gesagt hatte. Vermutlich musste er vorsichtig sein, was sie betraf, denn soweit er sehen konnte, ging es ihr vor allem um ihren eigenen Vorteil. Er hatte zunächst angenommen, dass sie und Jadzia sich freundschaftlich gegenüber standen, aber jetzt war er nicht mehr sicher. Sie waren charakterlich völlig unterschiedlich, und Anya hatte Jadzia einfach stehen lassen. Vermutlich drehte sich alles in ihrem Kopf nur darum, möglichst einflussreiche Freunde zu gewinnen. Und wenn sie tatsächlich nah an Eravier heran kam, würde sie vielleicht wie Jan als Spion eingespannt werden, das hatte er nicht vergessen. Vielleicht war das der Grund, warum er zusammen mit ihr und Jadzia einquartiert worden war, um ihn langsam auszuhorchen. Das ergab Sinn, aber seltsamerweise war die Vorstellung erleichternd - damit konnte er umgehen. Er würde sich einfach hüten müssen, was diese Frau betraf, und das würde ihm nicht schwer fallen, wenn er kaum Sympathie für sie aufbringen konnte. Nur was Jadzia anging, war er sich noch nicht sicher.
In diesem Moment verabschiedete Anya sich von Karvash und kehrte beschwingt zurück. „Wir können weiter gehen”, verkündete sie, fuhr sich durchs Haar und erklärte beiläufig an Jadzia gewandt: „Übrigens, Faure ist tot.” „W-was?”, fragte die völlig perplex, und die Wächter zuckten sichtlich zusammen. Valion bemerkte, da vor allem Levin plötzlich ganz grau im Gesicht wurde, als würde er sich an etwas erinnern, das er lieber vergessen würde. Die plötzliche Unruhe deutete darauf hin, dass gestern noch viel mehr passiert war, als er selbst mitbekommen hatte, und plötzlich wollte er alles darüber wissen. Wenn es auch nur den kleinsten Hinweis ergab, was mit Jan geschehen war…
„Was ist passiert?”, fragte er, und ärgerte sich gleich darauf, als Anya nur gelangweilt mit den Schultern zuckte. „Wen kümmert das schon?”, fragte sie. „Ist ja nicht so, als hätte ihn irgendjemand besonders gemocht. Seine arme Frau tut mir Leid, aber auch nur, weil Ansin sie über den Tisch ziehen wird, wenn er die Verträge kauft”, plauderte sie ungeniert weiter. Es war fast komisch anzusehen, wie panisch sich die Gesichter Wächter verzogen, als sie diese Information einfach so in die Runde warf. Sie sahen sich hektisch um und schienen zu überlegen, ob jemand Anyas Bemerkung genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte, um ein Gerücht in die Welt zu setzen. Valion sah zu Anya, die weiterhin gleichgütig blieb, aber für einen Sekundenbruchteil glaubte er, das verräterische Zucken ihrer Mundwinkel wieder zu erkennen. Und schon war es verschwunden. Oder nie da gewesen.
„Wir sollten jetzt lieber weiter gehen”, bestimmte Guy fest, um das Thema möglichst schnell abzuschließen, und Anya nickte, aber Jadzia schien plötzlich bedrückt. „Was wird dann aus meinem Vertrag?”, sagte sie halblaut, aber Anya winkte nur ab. „Keine Sorge, mein Herz, das werden wir alles regeln. Ich werde mit Ansin über deinen Vertrag sprechen. Du weißt doch, er hört immer auf mich.” Damit war das Thema für sie erledigt, und sie schlenderte weiter. Jadzia folgte ihr etwas verdattert, und Valion wagte nicht, weiter nachzufragen. Er hätte es fast getan, aber dann bemerkte er, dass Levin ihn im Auge behielt, und er machte eine drohende Gebärde in seine Richtung, um ihn weiter zu treiben.
Oh, wir furchtbar, das macht mir aber Angst, Rübennase, sagte Jan in seinem Kopf, spöttisch und ohne die geringste Angst, und das tat weh. Er musste sich zusammen reißen, und sein Gesicht blieb völlig starr, obwohl er gleichzeitig lachen und weinen wollte.
Jan, wo bist du jetzt?