„Entspricht es euren Vorstellungen, Herrin?” Anya runzelte die Stirn, verschränkte die Arme und betrachtete die Szenerie eingehend.
Der Bereich zu dem sie geführt worden waren lag am Rande des Lagers, eingekesselt zwischen mehreren Wagen und halb verstopft mit Bergen von schmutziger Kleidung, die gerade von einer Schar Dienerinnen sortiert und geflickt wurden. Vermutlich würde die Wäsche im Laufe des Tages ihren Weg zum Fluss finden, um dort gewaschen zu werden. Lediglich die Hälfte des verfügbaren Raumes war als Waschplatz für die Sklaven eingerichtet worden. Eimer mit kaltem Wasser, Seife und Tücher zum Abtrocknen lagen bereit, ein paar grobe Kämme, aber kein einziges Rasiermesser. Valion war fast sicher, dass sie jemand unter Verschluss hielt und nur auf Nachfrage heraus geben würde, aus Sicherheitsgründen.
Es war hier nicht so hektisch wie im Zentrum des Lagers, aber sie würden alles andere als unbeobachtet sein, und das war vermutlich beabsichtigt. Schon als sie eingetroffen waren hatte Valion die Wachen bemerkt, die bei den Dienern postiert waren und den Platz überblickten. Auch wenn sie momentan eher die Morgensonne genossen und schwatzten, ihre Aufmerksamkeit würde sich in der Sekunde, in der sie eintrafen, auf die niederen Sklaven richten. Zusammen mit den wachsamen Augen der Diener würde niemand entgehen, wenn sich Widerstand regte oder jemand versuchte, sich heimlich auszutauschen.
Doch bevor es so weit war, waren Valion, Anya und Jadzia das einzig Interessante, das sich auf dem Platz abspielte, und das bekamen sie zu spüren. Alle Augen lagen auf ihnen, als sie sich in Begleitung der Wächter näherten. Niemand ließ sich entgehen, neues Material für Klatsch zu sammeln und sich gegenseitig halblaute Kommentare zu zu flüstern; was das anging waren die Wächter schlimmer als die Dienerinnen, die viel zu viel zu tun hatten, um den Neuankömmlingen mehr als nur finstere Blick zu zuwerfen und meist nur knappe Anweisungen austauschten.
All das genügte vollkommen, um Valion nervös zu machen. Obwohl er die selbe Prozedur schon einmal am vorigen Tag durchgestanden hatte, schien es ihm diesmal noch schlimmer. Er war zwar nicht allein, aber Anyas Anwesenheit beruhigte ihn kaum, und Jadzia schien sich genauso unbehaglich wie er zu fühlen bei der Aussicht, sich ausgerechnet hier vor aller Augen zu entblößen Sie hatte die Arme wieder schützend vor dem Körper verschränkt, und die Anspannung die auf ihr lag war fast greifbar.
Das einzige Zugeständnis, vermutlich nur für Anya arrangiert, war eine Trennwand aus aufgespannten Stoffplanen, die einen Teil des Waschplatzes vor Blicken abschirmte. Es war ein etwas kärgliches Provisorium, das dennoch seinen Zweck erfüllen würde, bis die anderen Sklaven eintrafen und der Aufbau verschwinden würde. Es war vermutlich ein zu großes Risiko, die niederen Sklaven derartig unbeobachtet zu lassen, und Valion konnte sich nicht vorstellen, dass ihnen irgendeine Art von Luxus zugestanden werden würde. Der Waschplatz war nicht schmutzig, aber alles war nachlässig und in Eile arrangiert, zusammen geworfen, kaum durchdacht. Die anderen Sklaven wurden nicht hoch genug geschätzt, um mehr als das Notwendigste zu erhalten.
Anya, die sich inzwischen ebenfalls ein Bild der Situation gemacht hatte, antwortete Guy jetzt spöttisch: „Wenn du mit »es« diese ärmliche Viehtränke meinst, dann kann ich dir sagen: Nein, »es« ist kein bisschen nach meiner Vorstellung. Aber ich werde mich schon damit arrangieren. Ich habe wohl kaum eine Wahl, oder?”
Sie lächelte, und in diesem Moment sah sie gar nicht wütend, sondern eher amüsiert aus. Valion ertappte sich dabei, wie er sie für ihre Duldsamkeit bewunderte, um im nächsten Moment verwirrt in seinen Gedanken inne zu halten. Er wollte sie weder bewundern noch ihren Worten in irgendeiner Weise zustimmen, nicht einmal wenn sie behauptet hätte der Himmel wäre blau. Und selbst wenn er sich unbehaglich fühlte, an dem Waschplatz selbst war im Grunde nichts auszusetzen. Er kannte gar nichts Anderes als das, was den niederen Sklaven hier geboten wurde, er hatte sich Zeit seines Lebens nur mit kaltem Wasser und wenig Seife gewaschen, und trotzdem hatte er ihr für einen Moment zustimmen und sie in ihrem Urteil bestätigen wollen. Er begriff langsam immer besser, auf welche Art sie alles um sich herum in ihren Bann zog. Während er selbst mit Jadzia ein paar Schritte hinter ihr zurückgeblieben war, von den Wachen regelrecht abgestellt, vereinnahmte sie die Situation und ihre Umgebung völlig. Niemand stellte sie an die Seite oder nahm ihr die Aufmerksamkeit. Die Diener und Wachen bemerkten Jadzia und Valion durchaus, aber Anya und die Art, wie sie sich durch die Welt bewegte, zogen sie in den Bann, und er hasste es. Es erinnerte ihn an Jan, und war gleichzeitig völlig anders. Es steckte keine Ehrlichkeit dahinter, und trotzdem ließ er sich davon einwickeln.
Doch es gab durchaus Ausnahmen, nicht jeder ließ sich von Anya derartig beeindrucken. Guy zumindest handhabte jede ihrer Gefühlsregungen, egal ob Zorn oder Schmeichelei, mit der gleichen stoischen Ruhe. Es schien ihm außerordentlich egal zu sein, auf welche Art sie sich versuchte aus allem heraus zu winden, er blieb einfach bei seinen Befehlen. „Das sehr ihr richtig, Herrin, es gibt heute keine Ausnahmen”, bestätigte er. „Wenn ihr dann so freundlich wärt, zu beginnen.” „Wenn es unbedingt sein muss”, stimmte Anya gelangweilt zu und griff wie ein nachträglicher Einfall nach Jadzias Hand, um sie mit sich zu ziehen. „Komm Liebes, auf uns wartet warmes Wasser. Das hoffe ich zumindest”, sagte sie und warf den Dienerinnen einen scharfen Blick zu, als Warnung, dass sie diesbezüglich keine Abweichungen dulden würde.
Guy wiederum gab Levin, der schon die ganze Zeit neben ihm gelauert hatte, einen Wink, dass er Valion von seinen Fesseln befreien sollte. Vage Hoffnung machte sich in Valion breit, auch wenn ihm Levins abscheuliches Grinsen nicht gefiel. Die Ketten zwischen seinen Füßen hatten ihn schon die ganze Zeit behindert, und die Handfesseln waren schwer und zerrten an seinen Handgelenken. Außerdem kam ihm trotz des Trubels der Gedanke, den Schmutz des gestrigen Tages mit warmen Wasser abzuwaschen, tröstlich vor.
Aber Levin wäre nicht Levin gewesen, wenn er die Situation nicht ausgenutzt hätte, um weiter seine Macht zu demonstrieren. Er zog die Schlüssel zu den Handschellen hervor, trat nahe an Valion heran, näher, als es ihm angenehm war, und warnte gehässig und mit gesenkter Stimme: „Wenn ich du wäre, würde ich keine faulen Tricks wie gestern versuchen. Ich behalte dich und die kleine Schlampe im Auge.” Dabei nickte er Jadzia zu, die sich gerade im Gehen zu ihnen umwandte und einen unbehaglichen Blick zu Valion und Levin zurück warf. Sie hatte Angst, und Valion fühlte Wut in sich aufkeimen. Er sagte kein Wort, aber er starrte Levin kalt an, was diesem überhaupt nicht zu gefallen schien. „Aufmüpfig, was? Lass das lieber sein, das wird dir nämlich schlecht bekommen!”
Er packte Valion an der Schulter, zwang ihn grob in die Knie und wollte sich daran machen die Handschellen aufzuschließen, als Anya sich plötzlich umwandte und energisch einschritt. „Was zum Teufel macht der Trottel da?”, fragte sie spitz. „Ihr wollt den Kerl auf uns loslassen? Nur über meine Leiche! Wir werden uns nicht zusammen mit irgendeinem wildfremden Mann waschen, der gestern noch jemand mit dem Tode bedroht hat! Was, wenn er uns als Geiseln nimmt?!”, zeterte sie.
Sowohl Gevin als auch Valion starrten sie perplex an, und Guy seufzte. „Herrin, das war der andere Sklave. Der hier ist harmlos und sowieso nur eine halbe Portion. Von einem Mann kann keine Rede sein”, versuchte er sie zu beschwichtigen, aber sie ließ nicht locker. „Ausgeschlossen! Ehe ich es mich versehe, habe ich ein Messer zwischen den Rippen! Er bleibt angekettet, bis ich fertig bin”, forderte sie und deutete anklagend auf Valion.
Er hätte beinahe gelacht. Was sie hier bot war eine durch und durch überzogene Darbietung, und er kaufte ihr keine Sekunde ab, dass sie Angst vor ihm hatte. Wenn, dann war er derjenige, der Angst vor ihr haben musste. Aus irgendeinem Grund hatte sie beschlossen, dass er ihr im Weg war, und das ließ sie ihn spüren, aber gleichzeitig war sie seltsam unbeteiligt. Sie wirkte zornig, aber ihre Augen blickten ruhig und gefasst. Er hatte das Gefühl, diese Diskrepanz schon einmal gesehen zu haben, bis ihm schaudernd einfiel, woher er sie kannte. Eravier, dachte er und schauderte ungewollt, Sie ist wie Eravier. Eiskalt. Sie bemerkte seinen Blick, und für einen Moment starrte er sie nur an, und sie starrte dreist zurück. Er sah, dass sie sich keine Illusionen machte, was ihn betraf. Sie wusste genau, dass er ihr nicht traute, und für den Sekundenbruchteil, den sie ihn direkt ansah und eine Augenbraue hob, machte sie ihm klar, dass sie ihn genauso durchschaute wie er sie. Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst. Zu schade, das hast du jetzt davon. Ich lege dir gern so viele Steine in den Weg, wie ich finde. Sie wusste, dass Guy nachgeben würde, dass er lieber Valion eine Weile länger in seinen Ketten schmoren ließ, als ihren Zorn auf sich zu ziehen. Und sie tat das alles nur, um ihm das Leben schwer zu machen. Er konnte sie jetzt noch weniger leiden als zuvor.
Natürlich gab Guy nach, wiederwillig, aber allein das einsetzende Tuscheln der Diener und die Blicke der anderen Wachen bewirkten, dass er sich unter Druck gesetzt fühlte. „Wenn es unbedingt sein muss”, seufzte er und gab Anya einen Wink, dass sie endlich anfangen sollte. Levin wiederum gefiel die Entwicklung, er grinste noch breiter, zog den Schlüssel zurück und gab Valion stattdessen mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf, wobei er Guys warnenden Blick ignorierte. Diese ganze Sache war für ihn ein gefundenes Fressen und mehr als genug Entschädigung dafür, dass er am Vorabend so erfolglos durch den Wald gepirscht war. Mit etwas Glück würde er sogar Faures misshandelte Visage bald vergessen können.
„Du hast die Dame gehört”, sagte er gehässig, „Selbst Schuld, wenn du mit deinem kleinen Freund abhaust.” „Du redest zu viel, Levin”, brummte Guy ungehalten, aber sein Blick war in diesem Moment auf Anya und Jadzia konzentriert. Auch er fragte sich vermutlich, was Anya mit ihrem Tun beabsichtigte, und er hatte wahrscheinlich beschlossen, sie besser im Auge zu behalten. Deshalb schritt er nicht ein, als Levin fortfuhr: „Zu dumm, dass er sich allein aus dem Staub gemacht hat, was?”
Valion knirschte mit den Zähnen, aber er verbot sich, darauf zu reagieren. Levin wollte ihn provozieren, vermutlich um einen Grund zu haben, ihn zusammenzuschlagen. Aber so einfach würde er es ihm nicht machen.
Das bedeutete aber auch, dass Levin natürlich nicht locker ließ, sondern nach einem Moment, in dem er begierig auf eine Reaktion wartete, noch höhnender fort fuhr: „Aber keine Angst, der kleine Scheißer hat bestimmt schon den nächsten gefunden. Bei euch Sklaven geht das ja schnell, ihr macht doch für jeden die Beine breit. Vermutlich hat er schon vergessen, dass es dich gibt.” Er wartete weiter sehnsüchtig auf eine Regung, blickte in Valions versteinertes Gesicht, der gerade aus starrte. Er biss die Zähne zusammen, kämpfte mit sich, aber er hielt seine Wut mühsam unterdrückt. Er war gebrandmarkt worden, er hatte unerträgliche Schmerzen ausgehalten, er widerholte es wie ein Mantra in seinem Kopf. Das war nichts, nichts im Vergleich, berührte ihn nicht. Es waren nur Worte, Lügen, Vermutungen, die dazu bestimmt waren ihn zu verletzen. Aber das schaffte Levin nicht, so einfach ließ er sich nicht beugen. Es waren nur Worte, die-
„Aber vielleicht ist er ja auch längst tot”, schlug Levin im Plauderton vor. „Vielleicht liegt seine Leiche auf irgendeinem Feld, und dort wird sie verrotten.”
Etwas zerbrach in ihm, er spürte es deutlich, und alles, was er in den letzten Stunden so mühsam versucht hatte zu ignorieren, aus seinen Gedanken zu verbannen, war plötzlich wieder da. Er wollte sich ablenken, einen klaren Gedanken fassen, aber alles was er denken konnte war
Jan
Jan
Jan
Tränen brannten in seinen Augen, und er hatte das Gefühl, dass es ihn zerreißen würde. Er wusste nicht wohin mit diesen Gefühlen, sie waren zu groß, zu unsortiert, zu frisch. Er wollte nicht weinen, er konnte nicht weinen, nicht vor diesem Scheusal. Levins Augen weiteten sich triumphierend, als er sah und endlich sicher wusste, dass er es geschafft hatte. Er würde diesen Sieg auskosten, und schlimmer noch, er würde immer wieder von Neuem beginnen, würde die Wunde immer wieder aufreißen, um zu sehen, wie Valion litt, wenn er jetzt nachgab. Für einen Moment glaubte Valion dennoch, dass er es nicht schaffen würde.
Dann landete ein Eimer voll kaltem Wasser in seinem Gesicht, und er keuchte erschrocken auf. Levin fuhr nicht weniger erschrocken zusammen, ein Gutteil des Wasser spritzte auch auf ihn, und im nächsten Moment hatte er sein Vorhaben vergessen, weil er von Valion zurückwich und wie ein Verrückter fluchte. Valion keuchte, sein Herzschlag hatte sich in Sekunden auf das Doppelte beschleunigt, das kalte Wasser brannte auf seiner Haut und ließ ihn augenblicklich frieren. Völlig verwirrt blickte er auf, tropfend und wie ein begossener Pudel.
Anya sah mit einem Lächeln auf ihn herunter, das man nur als boshaft bezeichnen konnte. Sie hatte bereits die meiste Kleidung abgelegt, trug nur noch ihre Schnürbrust und ihr Unterhemd, aber sie schämte sich anscheinend kein bisschen, fast nackt herumzulaufen. In ihren Händen hielt sie immer noch den eben geleerten Wassereimer, dessen Inhalt sie gerade mit Schwung auf Valion geschüttet hatte wie auf einen Hund. Sie lachte auf, als er sie völlig verwirrt anstarrte, und sagte: „Es tat mir so Leid, dass du nur wegen mir nicht der erste sein kannst, der sich waschen darf! Das erschien mir einfach unfair! Da bitte, jetzt bist du schon fast sauber!”
Levin, der ihr für einen Moment verdutzt gelauscht hatte, grinste plötzlich über das ganze Gesicht und schien Anya nicht einmal übel zu nehmen, dass er einen nassen Hemdsärmel davon getragen hatte. Guy hingegen kochte vor Wut. „Es reicht jetzt”, befahl er und baute sich zu voller Größe auf. „Levin, nimm dem Jungen die Ketten ab. Diese ganze Alberei hat jetzt ein Ende”, sagte er dann zu Anya gewandt, und sein Tonfall war so grimmig, dass selbst Valion sich reflexartig duckte. „Wascht euch, oder ihr werdet seine Ketten tragen und von einer Dienerin gewaschen.”
Anya öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich dann aber eines besseren. Sie wusste, wann es zu viel des Guten war. Stattdessen warf sie den Eimer, den sie bis eben noch in der Hand gehalten hatte, schmollend beiseite und stützte ungehalten die Arme in die Hüften, während Levin sich beeilte, Valion von seinen Ketten zu befreien. „Schon gut, schon gut. Du verstehst wirklich keinen Spaß, Guy!” Valion, endlich seine Fesseln los, warf ihr einen hasserfüllten Seitenblick zu, den sie ignorierte, dann machte er, dass er aus ihrer Reichweite kam. Er wollte nicht wissen, was sie als nächstes anstellte, um ihn zu demütigen.
Er überbrückte die wenigen Meter zu Jadzia, die dem Geschehen den Rücken zudrehte und sich so unauffällig und still wie möglich wusch. Niemand achtete auf sie, aber eine Dienerin trat auf Valion zu, mit einem Stapel Kleidung und einem Paar Schuhe in der Hand. „Hier”, sagte sie leise und kurz angebunden, aber nicht unfreundlich, und völlig perplex sagte Valion: „Danke.” Seltsam, sie erschien ihm gar nicht so feindselig eingestellt, wie er vermutet hatte. Er hatte Kälte erwartet oder zumindest Misstrauen, aber sie schien ihm sogar grimmiges Mitleid entgegen zu bringen. „Vielleicht solltest du dich erst einmal abtrocknen”, riet sie ihm, „Sie hat dir eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt, du wirst dich bestimmt erkälten. Da drin ist warmes Wasser.” Sie deutete auf den Eimer, aus dem Jadzia ihr Wasser schöpfte. Sie war fast fertig, wie er sah, wusch sich schnell und leise die Unterschenkel und die Füße. Ihr schlanker, brauner Rücken war ein hübscher Anblick, aber er wandte sich schnell wieder ab. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass er sie anstarrte. Sie hatte schon genug mit Levin zu kämpfen.
Levin, was tat er überhaupt? Valion wandte sich um und zog sich dabei schnell das zerrissene, dreckige Hemd über den Kopf, er wollte keine kostbare Zeit verschwenden, in der er unbehelligt war. Dann sah er zurück auf die zwei Wächter und Anya, die trotz ihrer Ermahnung immer noch bei ihnen stand.
„Was ist dieses Miststück nur für eine ehrlose Schlampe”, flüsterte die Dienerin neben ihm, während sie in die selbe Richtung blickte. Valion war sich plötzlich sicher, dass Jadzia nichts vor Levin zu befürchten hatte, nicht in den folgenden Minuten. Er war viel zu beschäftigt damit, Anya anzuglotzen, ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sie ließ sich von Guy aus der Kleidung helfen, und stand dann schamlos, völlig nackt, vor ihm und flirtete ihn an. Er war immer noch die Ruhe selbst, aber Valion sah trotzdem, dass ihr zugeneigt war. Vermutlich wie jeder Mann, den sie beschloss um den Finger zu wickeln.
„Schamlos”, rutschte es Valion heraus, und die Dienerin neben ihm nickte heftig. „Sie hält sich für eine feine Dame, scheucht jeden herum, und im nächsten Moment biedert sie sich an wie eine billige Nutte. Aber sie wird noch sehen, was sie davon hat. Bitte gib mir noch deine Hose”, fuhr sie fort, und Valion wandte sich von ihr ab und stieg aus seiner Kleidung, was sie mit einem grimmigen Nicken quittierte. „Einige von uns haben eben doch ein wenig Anstand”, kommentierte sie bitter, packte Valions zerrissene Kleidung und trug sie fort.
„Starr nicht so, beeil dich lieber”, zischte Jadzia ihm plötzlich zu. Sie war fertig, zog sich bereits ihr eigenes Unterhemd wieder über, aber sie schien über Irgendetwas aufgebracht zu sein; Valion konnte nicht deuten, was das sein konnte. Sie betrachtete ihn plötzlich weniger freundlich als zuvor, und als er noch einmal zu Anya zurück sah, packte sie sein Handgelenk und zog ihn zurück. Sie tat ihm nicht weh, aber er zuckte trotzdem zusammen. Es war eine Geste, die er ihr gar nicht zugetraut hatte, genauso wie den missbilligenden Tonfall, den sie anschlug, als sie sagte: „Sieh sie nicht auch noch an. Denkst du nicht, dass es genügt?” Valion zuckte mit den Achseln, aber gleichzeitig regte sich auch Widerwillen in ihm. Warum verteidigte sie Anya so? „Genau das will sie doch. Sie will doch von allen angestarrt werden”, verteidigte er sich, und ihm war bewusst, wie geringschätzig das klang. Jadzia schüttelte nur den Kopf, wütend, enttäuscht, und plötzlich fühlte Valion sich unwohl, abgestoßen von sich selbst, und etwas, das er nicht einordnen konnte, zerrte an seinem Verstand. So kannte er sich selbst nicht, so hämisch, so abgestoßen. Was kümmerte ihn, was Anya tat? Warum urteilte er so harsch über sie, wenn er sie kaum kannte?
Dann dachte er an das kalte Wasser, das sie über ihn gekippt hatte, in dem Moment, als er am verletzlichsten gewesen war, und sein Gesicht verhärtete sich. Nein, er hatte kein Mitleid, nicht mit Anya. Und sie brauchte auch keines, das machte sie deutlich, als sie zu ihnen herüber stolzierte und flötete: „Jadziaaa! Sei doch so gut und hilf mir beim Haare waschen! Ich würde ja eine Dienerin bitten, aber ich fürchte, ihre tollpatschigen Pfoten würden mir alle Haare einzeln ausreißen!” Sie lächelte ihr strahlendes Lächeln, während Dutzende Augenpaare sie verfolgten. Ihr Spott war so scharf, dass man sich daran schneiden konnte, und ihre Augen lachten keine Sekunde lang.
Obwohl Valion es mit Widerwillen betrachtete, wusch Jadzia Anya tatsächlich die Haare, nachdem Anya den Rest ihres Körpers gesäubert und ganz nebenbei fast das ganze, für sie alle bestimmte warme Wasser aufgebraucht hatte. Es schien Jadzia nichts auszumachen ihr zu helfen, im Gegenteil, sie wirkte jetzt ruhiger und wie in ihrer eigenen kleinen Welt, und die beiden flüsterten hin und wieder leise miteinander, vertraut und ohne dass jemand anders als sie beide etwas verstehen konnte.
Er selbst wusch sich schnell, aber gründlich, und er war froh, dass er zumindest jetzt noch darauf verzichten konnte, sich zu rasieren. Er wollte jetzt nicht mit einem scharfen Messer hantieren, egal wie es aussah, und seine Hand zitterte als er daran dachte.
Dann wagte es zum ersten Mal, seine Verbrennung auf der Schulter zu berühren. Seine Finger strichen über den dicken Schorf, der sich gebildet hatte und die Beweglichkeit seiner Schulter unmerklich einschränkte. In den wenigen Tagen, die die Heilung schon andauerte, hatte er sich eine Schonhaltung für den linken Arm angewöhnt, das fiel ihm erst jetzt auf, und als er sich streckte, schoss neuer Schmerz durch die Schulter, und er ließ es schnell bleiben. Er dachte daran, dass Tarn sich die Wunde vermutlich irgendwann in der Zukunft ansehen würde, aber dann schob er das wieder beiseite.
Er fühlte sich leer, und ihn beschlich das Gefühl, dass es nichts gab, worin er sich in Gedanken flüchten konnte. Er wollte nicht an das denken, was am vorigen Tag geschehen war, und er fürchtete sich davor, Eravier wieder gegenüber zu treten und wollte deshalb nicht darüber nachdenken, was als nächstes passieren würde. Neben ihm hatten sich Jadzia und Anya von ihm abgekapselt und ignorierten ihn, und das machte ihm nicht nur seine Einsamkeit bewusst, es kam ihm regelrecht unfair vor. Er war nicht derjenige, der alle anderen wie Abschaum behandelte, und trotzdem erhielt Anya von Jadzia wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Ihre Charakterfehler ignorierte sie entweder, oder sie war in Wahrheit nicht besser, obwohl Valion sich das kaum vorstellen konnte. Er beschloss, dass er ihr ebenfalls nicht vertrauen konnte. Das brachte ihn auf den Gedanken, dass der Kreis seiner Freunde gerade fast auf Null geschrumpft war, und Marceus hätte auch auf dem Mond sein können. Er kam an ihn nicht so einfach heran, solange er selbst derartig bewacht wurde.
Es bewirkte, dass er sich hohl fühlte, einsam und richtungslos. Während er sich die Sachen anzog, die man ihm gegeben hatte und die ihm erstaunlich gut passten, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er tausendmal lieber hungernd und frierend in einem Wald gehockt hätte, als wieder hier zu sein.
Schließlich war er vollständig angezogen und streckte sich. Die Kleidung lag ungewohnt an seinem Körper an, ein starker Kontrast zu den Sachen, die er sonst getragen hatte, teilweise noch Kleidung von seinem Vater, der Zeit seines Lebens kräftiger als er gewesen war. Aber der Stoff war nicht rau und kratzte nicht, und er nahm an, dass er sich nach einer Weile daran gewöhnen würde.
Er ließ Anya und Jadzia links liegen, die gerade ebenfalls zum Schluss kamen, und trabte resigniert zu Guy und Levin zurück, um sich wieder anketten zu lassen. Das immer währende Starren ignorierte er, und obwohl er abwesend bemerkte, dass ein paar Dienerinnen miteinander tuschelten und ihm mit ihren Blicken folgten, tat er es als unwichtig ab. Was auch immer sie sahen oder dachten zu sehen, es war ihm in diesem Moment egal, er wartete nur ab, bis auch Jadzia und Anya sich endlich zu ihnen gesellten.
Auch sie musterten ihn ungewohnt neugierig, und langsam fragte er sich bitter amüsiert, ob er noch Dreck im Gesicht hatte oder ihm inzwischen ein drittes Auge gewachsen war, von dem er noch nichts wusste. Selbst Levin sah ihn merkwürdig an, obwohl er beim Schließen der Handschellen rein aus Prinzip Valions Haut an den Handgelenken einklemmte. „Was ist?”, fragte er schließlich mürrisch, und zu seinem Erstaunen war es Anya, die antwortete: „Tja, wer hätte gedacht, dass du doch nicht so ein kleines dreckiges Tierchen bist wie zuerst angenommen. Ich fing schon an, an Ansins Urteil zu zweifeln, aber du siehst… passabel aus.” Sie verschluckte das Wort, das sie eigentlich hatte sagen wollen, aber verwirrt rekonstruierte er aus ihrem Blick. Gut. Er sah gut aus, das hatte sie sagen wollen, bevor sie es in etwas Gehässigeres umformulierte.
Er hatte keine Zeit, sich mit dieser neuen Information auseinander zu setzen, weil Guy, unbewegt wie immer, ihnen befahl: „Kommt jetzt. Levin, du bringst sie zurück.” Er deutete auf Jadzia, die einen ängstlichen Blick in Levins Richtung warf, aber kein Protest kam über ihre Lippen. Anya warf ihr einen Blick zu, den Valion nicht deuten konnte, aber sie wandte ihre Aufmerksamkeit gleich darauf wieder Guy zu, der fortfuhr: „Und ihr zwei kommt mit mir.”
~
Sie waren diesmal nicht allzu lange unterwegs, was vielleicht daran lag, dass Anya genau zu wissen schien in welche Richtung sie gehen musste. Sie trieb Valion, Guy und den zweiten Wächter regelrecht vorran, wobei sie das betriebsame Chaos um sich herum nicht beachtete und auch nicht mehr innehielt, um bekannte Gesichter zu sehen. Es kam Valion seltsam vor, dass sie alles schon in- und auswendig zu wissen schien, obwohl das Lager erst seit gestern stand. Er selbst war von der wirren Ansammlung von Wagen, Menschen, Arbeits- und Wohnbereichen immer noch verwirrt. Anya aber schritt so unbeirrbar voran als folge sie einem inneren Kompass, und sie wechselte mehrmals die Richtung, ohne jemals die Orientierung zu verlieren. Sie war voller Ungeduld, und das erschien Valion noch grotesker als ihr bisheriges Verhalten; sie schien der Begegnung mit Eravier regelrecht entgegen zu fiebern. Im Gegensatz zu allen anderen schien sie sich nicht vor ihm zu fürchten, und sie nannte ihn konsequent beim Vornamen… ohne dass er es wollte, zog Valion die offensichtlichen Schlüsse.
Er hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, ob Eravier überhaupt irgendeine Art von intimer Beziehung zu irgendjemand pflegte, und er konnte sich auch jetzt kaum dazu zwingen. Die Vorstellung, dass jemand seine Nähe suchte war für ihn absurd. Aber er gab widerwillig zu, dass wenn es überhaupt jemand länger in seiner Gesellschaft aushielt, das vermutlich Anya war. Negative Emotionen anderer ignorierte sie oder umging sie geschickt, und ihre eiskalte Ruhe, spontane Grausamkeit und kalkulierte Fröhlichkeit hielten Eravier vielleicht bei Laune. Die Frage war, ob er in dem Fall nicht doch versuchen sollte, sich gut mir ihr zu stellen. Jadzia hatte selbst gesagt, dass Anya einiges bewirken konnte - anscheinend begriff er erst jetzt, was sie wirklich damit gemeint hatte.
Gleichzeitig wuchs seine eigene Nervosität mit jedem Meter, und er musste sich zwingen vorran zu gehen, anstatt vor Angst erstarrt stehen zu bleiben. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, und gestern hatte er einen unwillkommenen Einblick darin erhalten, welche Ausmaße Eraviers Rachsucht und Besessenheit annehmen konnten. Alles, was er bisher gesehen hatte sprach dagegen, dass ihm etwas zustoßen würde, und trotzdem zählte es nichts. Nicht, wenn derjenige, der über sein Schicksal entschied, derartig unberechenbar war. Er wünschte fast, dass er niemals ankommen würde, aber da hatten sie ihren Bestimmungsort anscheinend schon erreicht, weil Anya abrupt stehen blieb.
Der Wagen, vor dem sie Halt gemacht hatte, war derartig schlicht und unauffällig, dass Valion sich umsah, ob er ihr wahres Ziel nicht einfach übersehen hatte. Aber nein, zumindest von außen war Eraviers Quartier schlicht und unauffällig. Irgendwie hatte er Prunk erwartet, etwas Verschwenderisches, trügerisch Schönes.
Anya wandte sich zu den Wächtern um, und die Ungeduld stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie herablassend befahl: „Ihr könnt jetzt gehen, wir brauche keine weitere Eskorte.” Doch Guy verschränkte nur die Arme und schüttelte den Kopf. „Wir warten hier, bis wir andere Befehle erhalten”, widersprach er grimmig, und mit einer Handbewegung wies er seinen Gefährten an, sich mit ihm in der Nähe des Wageneingangs zu postieren.
Anyas Augen wurden für einen Moment schmal; dann zuckte sie mit den Achseln und strich sich demonstrativ durch das Haar, richtete ihr Kleid und warf dann einen Blick auf Valion, der ihn zurückzucken ließ. „Kannst du wenigstens dein Äußeres richten, bevor wir Ansin gegenüber treten? Du siehst aus wie ein Entlaufener”, sagte sie abfällig. Bevor er protestieren oder zurück schrecken konnte, trat sie auf ihn zu und richtete den Kragen seines Hemdes, als wäre sie seine Mutter, nur wesentlich weniger liebevoll und doppelt so gereizt. Er fragte sich gerade, was sie bezweckte, als sie plötzlich, fast unhörbar flüsterte: „Bleib hinter dem Eingang stehen. Und sei verdammt nochmal leise. Ich habe noch ein Wort mit dir zu reden.”
Valion blinzelte verblüfft und versuchte herauszufinden, ob sie sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Aber Anya sagte kein weiteres Wort, sondern schob ihn von sich und betrachtete ihn, strich seine Haare aus der Stirn und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Nicht wirklich ansprechend, aber seien wir ehrlich, du sollst mich ja auch nicht in den Schatten stellen. Gehen wir”, kommandierte sie, schob sich an ihm vorbei und betrat den Wagen, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen. Valion war viel zu verwirrt, um etwas zu sagen und folgte ihr, schob die Plane am Eingang beiseite und blieb nach einem Schritt stehen, so wie sie es ihm befohlen hatte.
Das erste was er bemerkte war, dass auch in diesem Wagen der Wohnraum durch einen weiteren Vorhang vom Eingang getrennt war. Plötzlich wusste er auch, warum Anya, die jetzt direkt vor ihm stand, ihm befohlen hatte leise zu sein. Sie waren in diesem winzigen Bereich, für eine kostbare Sekunde, ganz allein. Er hatte es kaum begriffen, da packte Anya ihn und zog ihn noch näher zu sich heran. Erst dachte er, sie wolle ihn küssen, doch sie näherte sich ihm nur weit genug, um direkt in sein Ohr flüstern zu können.
„Mach jetzt keinen Laut”, sagte sie so leise, dass es für jeden außer Valion völlig unhörbar war. „Was soll das?”, flüsterte er zurück. Er war viel zu perplex, um wütend oder misstrauisch zu sein, und dazu kam, dass er ihre Anziehungskraft, so nahe bei ihr, deutlich spürte. Egal, wie sie sich verhielt, sie war einfach wunderschön. Ihre zarte Haut, das hübsche runde Gesicht, die fast getrockneten roten Locken, alles schien dafür gemacht, berührt zu werden. Sie roch nach Lavendel und Seife, und darunter lag ihr eigener Geruch, süß und schwer. Es war einfach sich vorzustellen, wie schnell man sich in ihrem Lächeln verlieren konnte.
Jetzt lächelte sie jedoch nicht, sie fixierte Valion und durchbohrte ihn fast mit ihren Blicken. „Du bist mir im Weg, das solltest du inzwischen bemerkt haben”, sagte sie schneidend. Es war erstaunlich, wie viel Hass in diese wenigen Worte passte, und obwohl sie flüsterte hätte es nicht wütender klingen können, wenn sie geschrien hätte. Er nickte, immer noch unsicher, worauf sie hinaus wollte, und sie fragte: „Aber weißt du auch, warum? Weil du Chaos verursachst. Du brichst die Regeln, und weißt du wie sie wieder zurecht gerückt werden?“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern fuhr fort: „Du wolltest wissen, wie Faure gestorben ist; Ansin hat ihm eine Scherbe ins Auge gerammt, Spiegelglas, zehn Zentimeter lang. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?”
Valion war sich nicht sicher, was diese Information bewirken sollte oder woher sie überhaupt so präzise wusste, wie Faure gestorben war. Ganz davon abgesehen, dass er keine Ahnung hatte woher sie wusste, dass die Scherbe ihm gehörte. Aber wenn sie Schuldgefühle in ihm wecken wollte, dann hatte sie das geschafft. Jemand war mit der Waffe, die er sich beschafft hatte, ermordet worden. Es spielte keine Rolle, dass Eravier sie verwendet hatte; er hatte die Wut, die Valion angefacht hatte, an einem Unschuldigen ausgelassen.
Er nickte erneut, aber er wusste immer noch nicht, was sie eigentlich von ihm wollte. „Warum erzählst du mir das?” „Weil du mich, wenn du klug bist, nicht weiter sabotieren wirst. Was hat es dir bisher gebracht, nicht mitzuspielen? Mehr Ketten und sonst nichts. Du solltest ihm gehorchen und tun, was ich tue. Bieder dich an, es ist mir egal wie. Ich habe wegen dir schon genug am Hals.”
Bevor er fragen konnte, was sie damit meinte, hörten sie hinter sich Schritte, und Anya reagierte sofort. Sie stieß Valion von sich, kehrte zum Eingang zurück, straffte sich und ging dann an ihm vorbei durch den Vorhang, als hätte sie niemals innegehalten. Schlagartig wurde ihm klar, dass sie ihr geheimes Gespräch zu tarnen versuchte, indem sie den Eindruck erweckt, gerade erst eingetroffen zu sein. Er traute ihr nicht, aber er traute durchaus ihren Instinkten, was Gefahr betraf; wenn sie es für nötig hielt, ihren Austausch geheim zu halten, dann spielte er besser mit. Deshalb beeilte er sich, ihr zu folgen, und trat ebenfalls durch den Vorhang.
Er hatte damit gerechnet, dass das Innere des Wagens im Halbdunkel liegen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Selbst jetzt, am hellichten Tag, brannte eine Unzahl von Laternen und beleuchtete die luxuriöse Einrichtung, die dem Quartier, das Anya und Jadzia bewohnten, in nichts nachstand. Und wie zuvor konnte Valion nur staunen, wie wohnlich der kleine Bereich wirkte, obwohl es sich im Grunde nur um einen schlichten Wagen handelte. Dann fiel sein Blick auf Eravier, der gerade auf dem Weg zu ihnen gewesen war.
Es war kaum zu sagen, ob er ihre geflüsterte Unterhaltung wahrgenommen hatte oder durch etwas anderes auf sie aufmerksam geworden war, aber er wirkte zumindest nicht misstrauisch, eher erstaunt über ihr abruptes Eintreffen. Dazu war er bemerkenswert ruhig und ausgeruht, nicht so, als wäre er am vorigen Tag stundenlang durch den Wald gehetzt. Bis auf einen sichtbaren Kratzer auf der Wange und einen sauberen und ordentlichen Verband, der seinen Hals verdeckte, war er genauso edel gekleidet und gepflegt wie sonst. Es war irrational, aber Valion kam kaum damit zurecht, dass er jetzt so harmlos aussah.
Anya ließ Eravier keine Zeit, Fragen zu stellen oder misstrauisch zu werden. „Ansin, ich habe mich nach dir gesehnt”, behauptete sie mit einem charmanten Lächeln und trat auf ihn zu. Eravier warf erst einen Blick auf Anya, blickte dann aber an ihr vorbei auf Valion. Er musterte ihn, wie Jadzia und Anya es zuvor getan hatten, und das schmale Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte sich.
Im ersten Moment verstand Valion nicht, wie er lächeln konnte, nach allem, was geschehen war, bis er sich in Erinnerung rief, was er für Eravier war - eine Investition, dazu bestimmt, seinen Käufer lebendig und in gutem Zustand zu erreichen. Eravier war zufrieden mit seinem Werk, mit der Art, wie seine Anschaffung jetzt aussah, gewaschen, eingekleidet, geformt wie er es für richtig hielt, und Valions Hände begannen zu zittern.
Er konnte das Lächeln nicht ertragen. Er hatte das Gegenstück dazu vor Augen: blendend weiße gebleckte Zähne im grauen Mondlicht, hasserfüllte Augen, ein Monster, dass ihnen stundenlang durch den Wald gefolgt war, um sie zur Strecke zu bringen. Die Erinnerung schob sich wie ein Alptraum in sein Bewusstsein. Er hob die Hand, bedeckte für einen Moment die Augen, versuchte das Zittern in seinen Händen zu vertreiben, und es gelang ihm fast. Jan hat ihn fast getötet, versuchte er seinen panischen Verstand zu befrieden, er ist ein Irrer und ein Mörder, aber nur ein Mensch. Aber die irrationale Furcht war jetzt noch stärker als zuvor. Er zwang sie mit aller Gewalt nieder, zog sie hinunter zu seinen Gedanken an Jan, an Tarn, an seine Flucht, aber er gelangte an eine Grenze, das spürte er.
Für einen Moment war ihm kalt und er hatte das Gefühl, den Wald zu riechen, den Nebel auf der Haut zu spüren und die Kälte.
Nein. Nicht dahin zurück.
Er riss sich mit aller Willenskraft los, ließ die Hand sinken. Er war fast sicher, dass Eravier ihn wissend ansehen würde, aber er blickte schon wieder in Anyas Richtung, die es keine Minute aushielt, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Es schien, als wäre sein kurzer Aussetzer unbemerkt geblieben.
Anya tat, was sie am besten konnte, sie machte sich beliebt. Sie hatte eine Hand auf Eraviers Schulter gelegt, um seine Aufmerksamkeit zurück auf sich zu lenken, und als er sich ihr zu wandte, ließ sie sich ohne zu Zögern in seine Arme fallen. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, als du gestern plötzlich verschwunden warst. Ich hoffe du hast mich auch vermisst”, sagte sie sanft und hielt ihm ihre Hand hin. Valion wusste nicht, was er erwartete, aber bestimmt nicht, dass Eravier sie charmant ergriff, küsste und dann einen weiteren Kuss auf Anyas Stirn platzierte, den sie kichernd entgegen nahm. „Natürlich”, sagte er freundlich und strich mit der freien Hand durch ihre langen Locken, bis sie auf ihrem Rücken zum Liegen kam, „sonst hätte ich dich kaum zu mir gerufen. Und wie ich sehe, hast du deinen neuen Reisegefährten gleich mitgebracht”, sagte er im Plauderton, als wäre Valion nicht in Ketten von baumgroßen Wächtern hierher eskortiert worden, sondern auf Anyas freundliche Einladung erschienen. „Er ist ein bisschen störrisch gewesen”, meinte sie jetzt und warf einen Blick auf Valion. In dem Moment, in dem sie ihr Gesicht weit genug abwandte, dass ihr Ausdruck nicht mehr von Eravier gelesen werden konnte, verblasste das Lächeln so schnell wie es gekommen war und machte einem wütenden Stirnrunzeln Platz. Reiß dich zusammen, ich tue das hier nicht zum Spaß, sagte ihr Blick, und jegliche Wärme darin fehlte. Nein, sie hatte kein Interesse an Eravier, sie spielte ihm genauso etwas vor wie allen anderen Männern, das begriff Valion in diesem Moment. Sie lag immer noch in seinen Armen, aber sie hätte sich auch an einen Baum klammern können, es ließ sie völlig kalt.
„Oh ja, er scheint eine störrische Ader zu haben, und das nicht erst seit gestern. Und er suhlt sich gern im Dreck”, stimmte Eravier amüsiert zu, und schob Anya behutsam wieder von sich. Er ließ sich an seinem Schreibplatz nieder, lehnte sich zurück und fuhr an Valion gewandt fort: „Aber wie ich sehe, haben Wasser und Seife wieder einmal Wunder gewirkt. Bist du nicht froh, jetzt wieder hier zu sein statt in einem kalten Grab im Wald?” „J-ja”, antwortete Valion stotternd, weil er überhaupt nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
„Sei doch nicht bissig, Ansin”, tadelte Anya, ließ sich seitlich auf seinem Schoß nieder und legte einen Hand auf seine Schulter. „Und wenn wir gerade von kalten Gräbern sprechen, was hast du nur mit Kelian angestellt? Ich habe die Wächter noch nie so grün im Gesicht gesehen!” „Faure war ein Ärgernis seit dem Tag, an dem ich zugestimmt habe, ihn an der Reise zu beteiligen”, antwortete Eravier leichthin, „Er ist mir immer wieder in die Quere gekommen, er hat Rebellen gedeckt. Und er ging mir auf die Nerven.” Anya schnaubte amüsiert. „Er ging dir auf die Nerven, das ist alles? Warum hast du Gael dann noch nicht ermordet?”, lästerte sie, und Eravier lachte auf. „Ich überlege noch, wie ich das anstellen will. Die eigene Familie ermordet man schließlich mit Stil, mein Liebling”, erklärte er, „nur Gesindel und kleinen Ganoven schneidet man einfach die Kehle durch.” Er warf einen Blick auf Valion, der trocken schluckte, aber nichts sagte. Er wusste, auf wen Eravier anspielte, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Jan in ihrem Kampf die Oberhand gehabt hatte.
„Ich frage mich nur, was nun aus all seinen Sklaven wird”, lenkte Anya das Thema zurück auf Faure. Sie klang unschuldig und bemerkenswert beiläufig, als interessiere sie die Antwort auf diese Frage nicht wirklich. Eravier lächelte weiter, aber in seinen Zügen war jetzt auch Wachsamkeit zu sehen. Seine linke Hand wanderte auf ihrem Rücken nach oben, streichelte über ihren Hinterkopf. „Ich dachte mir fast, dass du das ansprechen würdest. Nachdem du alles daran gesetzt hast, dass deine kleine Freundin von Faure gekauft wurde und nicht von mir.”
Ich habe wegen dir schon genug am Hals. Endlich ergaben Anyas Worte einen Sinn, und plötzlich wurde Valion klar, wie berechtigt ihre Wut auf ihn war, und warum ihre Stimmung von milde desinteressiert auf feindselig umgeschlagen war, sobald sie von Faures Tod erfahren hatte. Sie hatte jeden Grund, Schuldgefühle in ihm zu wecken, und er fragte sich, was er noch alles los getreten hatte an diesem Abend. Ein Mann war tot, Jadzia vielleicht Eraviers Gunst ausgeliefert, was auch immer das für sie bedeutete. Was hatte er noch in Gang gesetzt, ohne es zu wissen?
Anya gab sich dennoch unbeeindruckt, nicht bereit, das Thema fallen zu lassen; sie zuckte mit den Schultern, was ihren Busen zum Wogen brachte, und lehnte sich noch näher an Eravier heran, bis ihr Gesicht so nah war, dass sie ihn küssen konnte. Ihre Stimme war sanft, aber auch ein wenig tadelnd, als sie sagte: „Ich dachte damals, dass ihr Vertrag besser bei ihm aufgehoben sei. Wenn du ehrlich bist, handelst du keine Eheverträge aus, das ist nicht dein Niveau. Was willst du also mit ihr? Wenn ich du wäre, würde ich sie Karvash überlassen, gegen eine hübsche Summe, weil du ihm so großzügig den Vortritt lässt.” „Und du wirst ihm natürlich einflüstern, was er mir zu zahlen hat, nicht wahr?”, fragte Eravier lauernd, und plötzlich wurde seine Miene kalt und steinern.
Seine rechte Hand, die eben noch auf ihrem Haar gelegen hatte, packte es plötzlich dicht über der Kopfhaut und zerrte sie zurück, und es war vermutlich nur Anyas eisernem Willen geschuldet, dass sie weder vor Schmerz zusammenzuckte, noch ihr ewiges Lächeln verlor. Ihre Stimme stolperte nicht, aber sie klang rau, als sie leise sagte: „Du weißt, was ich am besten kann.” „Dann bleib in Zukunft dabei, mein Herz”, antwortete Eravier kalt, „dieses eine Mal tue ich dir den Gefallen, weil dir so viel an ihr liegt. Das nächste Mal, wenn du etwas Derartiges versuchst, lasse ich sie vor deinen Augen auspeitschen.” Damit ließ er ihr Haar los, und Anya richtete es abwesend, das eingefrorene Lächeln immer noch auf den Lippen.
Valion atmete erleichtert aus, und er merkte erst jetzt, dass er die Hände so fest zu Fäusten geballt hatte, dass sich seine Nägel in die Handflächen gegraben hatten. Er war drauf und dran gewesen einzuschreiten, und in diesem Moment wäre es ihm egal gewesen, wie Anya sich ihm gegenüber verhalten hatte.
„Und jetzt lass mich einen Moment mit meinem Ausreißer sprechen”, sagte Eravier, und war wieder die Freundlichkeit in Person. Anya ließ sich von seinem Schoß gleiten und trat zurück zu Valion, wobei sie ihm einen warnenden Blick schickte. Es war kaum merklich, aber sie war blass und kämpfte um ihre Fassung.
„Komm her”, befahl Eravier, und winkte Valion heran, und er erstarrte einfach.
Er hatte auf diesen Moment gewartet, aber jetzt, da es so weit war, wusste er nicht, was er tun sollte. Er war gefangen zwischen dem Wunsch zu fliehen und dem Impuls zu gehorchen. Er wollte sich nicht unterwerfen, und doch hatte er keine Wahl, wenn er leben wollte. Eravier beobachtete ihn erwartungsvoll, durchdrang ihn mit seinem Blick, und Valion ertrug es nicht. Es wurde schlimmer, seine Abwehrreaktion immer heftiger und unkontrollierbarer. Zuerst hatte er nur Eraviers Nähe verabscheut, jetzt löste schon seine reine Aufmerksamkeit ein Chaos von negativen Emotionen in ihm aus; Furcht, blinde Panik, Abscheu, und ohnmächtige Wut darüber, wie machtlos er sich fühlte.
Er hätte fast ausgeharrt, aber eine sanfte Hand legte sich für einen Moment in seinen Rücken und gab ihm einen leichten Stoß. Anya. Es lag keine Kraft in ihrer Handbewegung, es war kaum spürbar. „Atme durch”, flüsterte sie leise, und fast hätten ihn diese zwei Worte erneut ins Stocken gebracht.
Einatmen. Ausatmen. Nein, das war nicht sie gewesen. Es musste Jadzia gewesen sein. Anya war nicht fähig, so sanft zu sein, sich selbst für mehr als einen Moment hinten an zu stellen. Oder täuschte er sich?
Sie war vielleicht mehr als das, was sie andere sehen ließ. Und war ihre provokative Art nicht nur eine Variante von dem starren, abwesenden Gesicht, hinter dem Tarn seine Emotionen verbarg? War das ihre Art, alles fernzuhalten, was ihr gefährlich werden konnte?
Vielleicht. Vielleicht war sie aber auch genau das oberflächliche Miststück, für das sie alle hielten. Es spielte keine Rolle, er konnte genauso darauf zurückgreifen wie auf Tarns abwesende Gleichgültigkeit oder Jans dreiste Fröhlichkeit. Masken, alles Masken. Es war sein Ausweg, er musste nur so sein wie sie. Es war keine Garantie, dass er Eravier damit täuschen konnte, aber sie schlug sich nicht schlecht damit. Er musste es versuchen, wenn er das alles überstehen wollte. Lächeln, lügen, und nur nichts von dem zeigen, was ihn wirklich bewegte.
Aber wenn er genau das selbe tun würde, wie konnte er Anya noch verurteilen? Warum war er so abgestoßen und gleichzeitig so fasziniert von ihr? Er wusste keine Antwort darauf. Es war nicht fair, dass er sie so benutzen würde, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er machte den ersten Schritt vorwärts.
Es war nicht so einfach. Er war sich sicher, dass er ihren leichtfüßigen, eleganten Gang in den letzten Stunden genug beobachtet hatte, um zu wissen, wie er ihn nachahmen konnte. Aber sie hatte breitere Hüften als er, und er wollte nicht übertreiben, also hielt er sich zurück, und sein Ergebnis war vermutlich zu kantig. Dazu kamen die Ketten, die ihn behinderten. Egal, Schritt für Schritt. Es musste nicht perfekt aussehen. Nur ansprechend genug, ablenkend. Er straffte die Schultern; Anya hielt den Rücken gerade wenn sie ging, hielt den Kopf nie gesenkt. Vielleicht war es das, was ihr immer diesen arroganten Anstrich gab, aber es sah elegant aus, selbstsicher. Lächeln. Nicht zu sehr, er hatte keinen Grund, über das ganze Gesicht zu strahlen, aber ein wenig.
Er ging auf Eravier zu, und er sah in seinem Gesicht, dass er die Veränderung bemerkte. Vielleicht fragte er sich, woran es lag, dass Valion sich plötzlich so anders gab. Vielleicht machte es ihn sogar misstrauisch. Egal. Es war völlig verrückt, was er vorhatte, aber in diesem Moment versuchte er Anya zu sein; unverschämt, furchtlos, von sich selbst überzeugt. Er überwand den letzten Schritt.
Du kannst es nicht einmal ertragen, dass er dich ansieht, sagte die eine Hälfte seines Verstandes. Du schaffst das nicht. Und die andere Hälfte, die sich verdächtig nach Anya anhörte, antwortete: Halt die Klappe, Herzchen.
Es war wie eine Genugtuung, und endlich spürte er etwas anderes außer Panik und Abscheu: tiefe, unzähmbare Wut.
Wut darüber, dass er sich so klein und ängstlich gefühlt hatte, Wut über alles, was er erdulden musste, und plötzlich, endlich, kehrte etwas von seinem alten Mut zurück. Er würde niemals zeigen, wieviel Angst er hatte, er würde Eravier nicht die Genugtuung geben, dass er seine Unsicherheit sah.
Er würde das alles hinter sich bringen, alles erzählen, was man von ihm hören wollte, alles tun, was er tun musste, und dann zurück kehren zu seinen Fluchtplänen. Er würde Eravier in Sicherheit wiegen und dann heraus finden, was mit Jan geschehen war, und dann würde er ihn finden und alles aufklären. Danach würden sie ein zweites Mal fliehen, diesmal richtig, ohne Kompromisse, ohne Ausreden, ohne Ablenkung. Egal mit wem er diese Pläne durchführen musste, mit Tarn, gegen Tarn, mit der Rebellion oder gegen die ganze Welt, er würde es einfach tun.
Seine Wut vertrieb die Angst und die Panik nicht, aber im Chaos seiner widerstreitenden Emotionen übernahm sie das Kommando. Ohne weiter zu zögern setzte er sich, wie zuvor Anya, auf Eraviers Schoß, und obwohl die Handfesseln ihn enorm dabei behinderten legte eine Hand auf seine Schulter.
Eraviers Verblüffung war echt. Aus dieser Entfernung, nur dreißig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, war das viel einfacher zu erkennen. Er wirkte älter, und menschlicher, stellte Valion ruhig fest, während ein abwesender Teil seines Verstandes ihn in blinder Panik anschrie, damit aufzuhören. Aber er hatte die Oberhand, zumindest jetzt, obwohl er sich zwingen musste nicht zusammen zu zucken, als Eravier, wie zuvor bei Anya, eine Hand auf seinen Rücken legte. Seinem Erstaunen nach zu Urteilen war das mehr Reflex als alles andere, aber Valion erduldete es, und ließ sein schmales Lächeln auf seinem Gesicht einfrieren.
Eravier schien endlich seine Stimme wiederzufinden, und das nachfolgende Lächeln war immer noch erstaunt, aber auch eindeutig selbstzufrieden. Er verbuchte Valions Überwindung tatsächlich als seinen Erfolg, als weiterer Schritt auf dem Weg, ihn zu zähmen und zu einem richtigen Sklaven umzuerziehen. Valion hätte am liebsten gelacht, aber kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Sollte er denken, was er wollte.
„Na, es geht doch. Du scheinst ja doch bereit zu sein, etwas dazu zu lernen”, sagte Eravier zufrieden, und er warf einen forschenden Blick zu Anya. „War er schon den ganzen Tag so zutraulich, oder ist das neu?”, fragte er amüsiert, und sie beeilte sich, alle Vorteile heraus zu schlagen, die ihr diese Frage bot. „Ich habe ihm erklärt, wie sich ein Sklave zu verhalten hat”, behauptete sie dreist. Mit Eraviers guter Laune schien auch mehr von ihrer Selbstsicherheit zurückzukehren. „Er wollte wissen, wie er seine Fehltritte wieder gut machen kann. Wenn er nicht gerade mit dem Kopf durch die Wand will, kann er ein Schatz sein”, fügte sie hinzu, und rückte ihn zum Ausgleich ebenfalls in ein besseres Licht, etwas, das Valion ihr nicht zugetraut hatte.
„Ach, tatsächlich?” Eravier schien sich bewusst zu sein, dass Anya lügen würde, um sich einen Vorteil zu verschaffen, und wandte sich wieder Valion zu. Seine Hand streichelte abwesend über seinen Rücken, und jede Bewegung verstärkte in Valion den Wunsch, ihm die Hand einfach abzuhacken, aber er hielt sich verbissen. Er nickte immer noch lächelnd und schluckte seine Abneigung gegen Anya und alles, was er mit ihr erlebt hatte. Er konnte sie nicht imitieren und dann leugnen, dass er Hilfe von ihr erhalten hatte, selbst wenn sie vermutlich nicht wusste, auf welche Art sie ihm half. Und sie schien bereit zu sein, ihm einen Gefallen zu tun, wenn er das gleiche tat. Vielleicht mussten sie nicht gegeneinander arbeiten, sondern konnten an einem Strang ziehen.
Deshalb sagte er, so ehrlich wie er lügen konnte: „Sie hat Recht.” Er sah zu ihr, was ihm eine willkommene Ausrede gab, nicht Eravier anstarren zu müssen, und sagte: „Sie hat mir klar gemacht, dass ich großes Glück habe, am Leben zu sein, und besser Dankbarkeit zeigen sollte.” Widerwillig sah er wieder in Eraviers Gesicht, weil er das Gefühl hatte, dass diese Worte sonst wie eine Lüge geklungen hätten. Er ließ das Lächeln fallen, gab sich einen ernsten Ausdruck. Eravier betrachtete ihn einen Augenblick, schien zu versuchen, in ihm zu lesen, und sagte dann zufrieden: „Sehr gut.”
Für einen Moment glaubte Valion, dass er ihn durchschaut hatte, dass er die Wirksamkeit seiner Lügen kommentierte, und eiskalt überlief ihn die Erkenntnis, dass er in dem Moment, in dem Eravier ihn durchschaute, vermutlich tot war. Aber Eravier sprach weiter, freundlich und mit einem beruhigenden Tonfall, der Sicherheit vermitteln sollte: „Ich bin froh, dass du langsam begreifst, wie du dich zu verhalten hast. Dein neues Leben muss nicht schwer sein, Valion. Im Gegenteil, du könntest wie Jadzia und Anya alles bekommen, was du dir wünschst, und noch viel mehr, wenn wir erst Lutejia erreichen. Es liegt nur an dir.” Seine Hand, die zuvor Valions Rücken gestreichelt hatte, fuhr seine Wirbelsäule hinauf, strich durch sein Haar. Es wäre eine liebevolle Geste gewesen, ein Ausdruck der Zuneigung, wenn sich nicht alles in Valion dagegen gesträubt hätte. „Ich bin vielleicht bereit, dir deinen Fehltritt zu verzeihen”, fuhr er fort, „Ich kann sehr großzügig sein, wenn mir etwas am Herzen liegt. Du kannst den Rest der Reise natürlich auch angekettet in der dunkelsten Zelle verbringen, die ich finden kann. Aber es wäre mir viel lieber, wenn du all dies als das sehen würdest, was es ist: Eine Chance für dich, etwas aus dir zu machen.”
Und was wäre das?, dachte Valion bitter, Ein unterwürfiges Spielzeug? Aber er nickte pflichtbewusst, und er versuchte gleichzeitig reuevoll und eifrig zu wirken, als er fragte: „Was muss ich tun?”
Er wusste, dass es keine gute Frage war. Sie war zu naiv, sie ließ alles zu. Aber er musste sie so stellen, wenn er das Bild von sich aufrecht erhalten wollte, das Eravier vermutlich von ihm hatte. Ahnungslos, offen, einfach zu beeinflussen. Eravier lachte, weil es ihm ebenso bewusst war, doch dann sagte er beruhigend: „Ich verlange nicht viel, beantworte mir nur eine Frage: Was hat dich dazu gebracht, die Seite zu wechseln? Warum hast du dem kleinen Bastard nicht erlaubt, mir die Kehle durchzuschneiden, und bist geflohen?”
Es war gut, dass diese Vorstellung nur Horror in Valion auslöste, denn es zeigte sich in diesem Moment in seinem Gesicht. Er hätte Jan nicht verraten, niemals, aber er hatte auch nicht gewollt, dass er Eravier ermordete. Es wäre nicht richtig gewesen, egal, was er für ein Monster war. Und es ging nicht nur um Eraviers Leben, es ging um Jans Seele, um die Zweifel und das, was sein altes Leben aus ihm gemacht hatte. Und Eravier sah es, und plötzlich wusste Valion, dass er eigentlich gewonnen hatte.
Dennoch versuchte er, eine Erklärung zu finden, nicht zu schweigen. Es gab etwas, das er zwar nicht hasste, aber das ihn schon von Anfang an gestört hatte. Er wusste nicht, ob es gut genug war, ob es echt genug klang, aber er antwortete leise: „Er hat mich belogen. Zuerst über seine Familie und seine Vergangenheit. Dann über seine Pläne. Er hat gesagt, bei unserer Flucht würde niemand verletzt werden, aber dann… das wisst ihr ja.” Er sah auf den Verband, und hob die Hand, zuckte dann aber zurück. Für einen Moment hatte er sich der Vorstellung hingegeben, dass er zumindest diese Erinnerung an Jan hatte, aber nein, er würde Eravier nicht mehr als nötig berühren. „Er hat versprochen es nicht wieder zu tun”, zwang er sich fortzufahren, „Und dann… plötzlich fing er an von der Rebellion zu reden, davon, dass er eine Aufgabe hätte und ich ihm helfen könnte. Ich habe gefragt, ob er mich nur deshalb mitgenommen hat. Er hat alles abgestritten… aber das war wohl auch eine Lüge.”
Er sah auf zu Eravier, der ihn seinerseits genau beobachtete. Es war nicht sichtbar, was er dachte, aber er nickte ihm aufmunternd zu, dass er fortfahren sollte, ruhig und gelassen, und fast von allein sprach Valion weiter. Er hörte sich selbst zu, seiner eigenen erlogenen Geschichte, und er begriff, dass ein Teil davon wahr war, dass er sich so gefühlt hatte. Es waren nicht alle seine Gefühle gewesen, aber ein Teil davon. Und egal, wem er sie erzählte, es war befreiend, etwas davon loszuwerden. Für einen Moment stellte er sich vor, alles jemand zu erzählen, dem er vertraute. Seinem Vater vielleicht, oder seinen Freunden.
„Am Ende wollte ich nur noch, dass es aufhört, ich… ich wollte nur noch zurück. Und dann hat er wieder angegriffen und da wurde mir klar, dass es nicht vorbei ist, bis ich dem ein Ende setze. Also… also habe ich versucht ihn aufzuhalten. Ich wollte nicht, dass meinetwegen jemand verletzt wird.”
Valions Stimme schwankte plötzlich, und er hatte Tränen in den Augen. Ein isolierter, eiskalter Teil von ihm dachte, dass das gut war, dass Tränen eine Wirkung haben würden, aber ein anderer, ehrlicherer Teil von ihm litt tatsächlich, war immer noch verletzlich und nicht so abgebrüht und manipulativ, wie er sein wollte, sein musste. Ein Teil, der Trost brauchte, der ihn wieder aufsehen ließ und Eravier, trotz allem, trotz seines Hasses, direkt fragte: „Habe ich ihn wirklich…?”
Und obwohl er nicht damit rechnete, geschah das Unerwartete: Eravier beantwortete seine Frage, völlig ehrlich und ernst. „Nein, er hat überlebt. Du hast ihn verletzt, aber nicht getötet, und er ist geflohen. Meine Wachen sind immer noch auf seinen Fersen, seit gestern Nacht, aber bisher habe ich keine Nachricht von ihnen erhalten.” Valion nickte, wandte den Blick ab, versuchte die Tränen dort zu halten, wo sie waren, in seinen Augenwinkeln. Doch Eravier hob die Hand, drehte seinen Kopf behutsam zu ihm und sah ihn weiterhin ernst und verständnisvoll an. „Gib dir nicht die Schuld daran, wenn ein dreckiger kleiner Rebell zu Schaden kommt”, sagte er und strich durch sein Haar, „Du hast das Richtige getan. Du hast die richtigen Leute verteidigt, und du hast dafür gesorgt, dass Tarn nicht verletzt wurde.”
Valion nickte und erlaubte sich, die Tränen aus seinen Augen zu wischen, und seine Blick wanderte für einen Sekundenbruchteil zu Anya. Sie versuchte die Fassung zu wahren, aber im Grunde war sie nicht im Stande zu begreifen, was vor sich ging, und er konnte es ihr nicht verübeln. Er begriff es selbst nicht, aber anscheinend hatte er für diesen einen, kurzen Moment, einen anderen Eravier hervor gezaubert. Eine Person, die einem Menschen ähnlicher sah als einem Monster, die fähig war Verständnis zu zeigen.
Aber machte es einen Unterschied? Für ihn selbst, vielleicht. Er spürte immer noch Angst und Misstrauen, aber die irrationale Furcht vor Eravier war zumindest für diesen Moment verflogen. Er war ein Mensch, fähig zu den selben Emotionen wie jeder andere auch. Er befehligte mehr Männer als so mancher, er hatte auch mehr Macht, aber er unterschied sich nicht grundsätzlich von Schlägern wie Levin, und das war es, was sich niemals ändern würde. Eravier war kein guter Mensch. All seine Empathie, das verständnisvolle Lächeln, das er zur Schau trug, konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass er grausam war, dass etwas an ihm grundlegend falsch war. Valion hatte seine Freundlichkeit als ein rares Geschenk erhalten, etwas, das ihm zuteil wurde, weil er darum gebettelt hatte, nicht, weil es ein grundlegender Wesenszug von Eravier war. Und seltsamerweise war es dieser Moment untypischer Anteilnahme, der Valions Hass zementierte. Er würde Eravier niemals trauen. Vielleicht würde er eines Tages wieder Emotionen ihm gegenüber zeigen müssen, aber er würde ihm niemals Zugang zu seinem Inneren gewähren, wie Jan oder Tarn.
Er wandte sich wieder zu Eravier, der ihm aufmunternd zu lächelte. „Nun, ich denke das hat meine Frage zufriedenstellend geklärt”, sagte er, und schon klang er wieder geschäftsmäßig, freundlich, aber grundsätzlich desinteressiert. „Ich denke, all das wird dir eine Lehre sein. Und etwas Gutes hatte dein Fehltritt zumindest auch.”
„Warum?”, fragte Valion, und das war ein Fehler. Er hätte wissen müssen, dass er dem Frieden nicht trauen durfte, dass er bei der nächsten Gelegenheit auf seinen Platz verwiesen werden würde. Denn genau das geschah jetzt, als Eravier ihn mit dem gleichen gelassenen Lächeln ansah und sagte: „Ich war mir nicht sicher, ob ich einen Mann als Käufer in Erwägung ziehen kann. Aber da du anscheinend jedem beliebig zu Willen bist, brauche ich mir darum keine Gedanken mehr zu machen. Ach ja, und üb nur weiter so. Du kannst jetzt aufstehen.”
Valions Kopf wurde rot, und gleich auf die Scham folgte die Erniedrigung, und dann die Wut. In wenigen Worten hatte Eravier ihn nicht nur daran erinnert, dass er ein Sklave und damit Ware war, sondern seine Liebe zu Jan herabgewürdigt und ihm selbst unterstellt, es mit jedem zu treiben. Dagegen war der Eimer kaltes Wasser, den Anya über ihn geschüttet hatte, ein Spaziergang. Er stand derartig hastig auf, dass er beinahe über seine Fußkette gestolpert wäre, und trabte zu der Stelle zurück, an der Anya stand und immer noch wartete. Sie tauschten einen Blick, und jetzt verband sie mehr als nur ihr Sklavenstand. Sie waren auch gemeinsam in einem Raum mit Eravier gewesen und hatten überlebt. Es wäre komisch gewesen, wenn es nicht gleichzeitig ein bizarrer Alptraum gewesen wäre.
Eravier wiederum wandte sich, ohne Valion weiter zu beachten, an Anya und befahl: „Anya, bitte die Wachen herein.” Sie nickte knapp, verschwand und kehrte mit Guy und der anderen Wache im Schlepptau zurück. „Herr?”, fragte Guy knapp, und Eravier nickte ihm zu. „Bitte befreie Valion von seinen Fesseln. Vorerst. Er erhält auf Probe die selben Privilegien wie Anya, mit der Ausnahme, dass er sein Quartier nachts nicht verlassen darf.” „Herr, nach allem was gestern-”, begann Guy, aber Eravier schnitt ihm das Wort ab. „Du hast mich gehört. Ich gehe davon aus, dass er von nun an das tun wird, was man von ihm erwartet.”
Guy schien das alles nicht zu behagen, aber pflichtbewusst schloss er die Hand- und Fußschellen auf und nahm sie an sich. Er warf Valion einen warnenden Blick zu, und der nickte kaum merklich, als Bestätigung, dass er wusste, was man von ihm erwartete. Es war allemal besser als Eravier anzusehen, dessen gute Laune auf einmal umgeschlagen war. Er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte, und befahlt schließlich, als Valion befreit war: „Geht jetzt. Guy, du lässt dich neu einteilen, Valion, du kannst dich umsehen. Solltest du nach Sonnenuntergang allerdings nicht in deinem Quartier auftauchen, wanderst du in Ketten in das dunkelste und stinkendste Loch, das ich finden kann. Verstanden?” Valion nickte schon, als er seinen Namen hörte, und Eravier nahm es befriedigt zur Kenntnis. Er hatte alle Freundlichkeit abgeschüttelt und kehrte zu seiner kalten, routinierten Grausamkeit zurück. Sein letzter Befehl lautete: „Du bleibst hier, Anya.”
Valion warf einen Blick auf Anya, die sich als erste zum Gehen gewendet hatte. Sie wusste, wenn das Eis dünn wurde, und jetzt schien sie regelrecht nervös. Eraviers undefinierbare Stimmung stellte vermutlich auch sie vor ein Rätsel, doch im nächsten Moment zauberte sie das ewige Lächeln zurück auf ihr Gesicht. „Valion, findest du allein zu unserem Quartier zurück?”, fragte sie, und Valion schüttelte mechanisch den Kopf. Wenn er konnte, würde er sie jetzt nicht hier zurück lassen. Doch ein Blick in Eraviers Gesicht brachte sie beide von dieser Idee ab. Er würde Anya nicht gehen lassen.
„Dann erkläre ich es dir schnell”, sagte Anya gezwungen fröhlich, „Du gehst von hier aus geradeaus und dann rechts am Lager der Wächter vorbei. Du kannst es gar nicht verfehlen, und Jadzia wird vermutlich dort sein. Du findest es schon.” Damit schob sie ihn sanft, aber bestimmt, Richtung Ausgang, und er beeilte sich, den Wächtern zu folgen.
Draußen angekommen blinzelte Valion in die Sonne und fragte sich, was gerade geschehen war. Er war begnadigt, getröstet, verhöhnt und rausgeworfen worden, in dieser Reihenfolge, alles nacheinander, von der selben Person. Und jetzt war er frei. Er griff nach seinen Handgelenken und rieb sie vorsichtig. Die Haut schmerzte ein wenig, aber das war alles. Er fühlte sich mehrere Kilo leichter, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er außerdem, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, am Leben war.
Erst jetzt bemerkte er, dass die zwei Wächter ihn immer noch musterten, als würde er in der nächsten Sekunde die Beine in die Hand nehmen und aus dem Lager flüchten. Er fragte sich, warum er es nicht in Erwägung zog, aber gleichzeitig wurde ihm klar, dass er es gestern versucht hatte und gescheitert war. Er war jetzt klüger; ohne langfristige Vorbereitung, oder überhaupt so etwas wie einen Plan, brauchte er nicht einmal daran denken.
Etwas anderes interessierte ihn hingegen viel dringender, und reflexartig borgte er sich Anyas Unverfrorenheit, um Guy zu fixieren, der ihn immer noch beobachtete, und ging direkt auf ihn zu. Guy schreckte nicht zurück, aber er wurde noch wachsamer. „Was sind diese »Privilegien«, die Anya hat?”, fragte Valion gerade heraus, und sein Gegenüber entspannte sich ein wenig. Er schien eine innere Liste zu konsultieren, bevor er antwortete: „Anya darf sich zu allen Tageszeiten frei im Lager bewegen, aber diese Regel wurde für dich natürlich beschnitten. Sie wird nachts nicht angekettet, sie darf mit anderen Händlern, Dienern und Wächtern verkehren, kann ihre Mahlzeiten auswählen, wenn ihr der Sinn danach steht, darf Gegenstände und Kleidung besitzen. Das sind die grundlegenden Regeln.” Valion stutzte und fragte verwundert: „Dürfen die anderen Sklaven nicht mit den Dienern sprechen?” Guy und der andere Wächter warfen sich einen Blick zu, und noch bevor sie einen Ton sagten wusste Valion, was eigentlich gemeint war.
So war das also - Anya hatte das Privileg, Beziehungen welcher Art auch immer mit wem auch immer zu führen. Und er selbst damit auch. Er wusste nicht, was er mit dieser Information anfangen würde, aber er winkte ab. „Ich habe es verstanden, schon gut.” „Wir behalten dich im Auge”, drohte der andere Wächter neben Guy, aber Valion nahm es kaum mehr wahr. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was er mit seiner neu gewonnen Freiheit anfangen würde. Wenn er etwas besitzen durfte, konnte er vielleicht den Spiegelrahmen holen, der immer noch im Pestwagen versteckt war. Und wenn er vor Einbruch der Nacht praktisch überall hingehen konnte, konnte er mehr Informationen einholen, vielleicht sogar einen anderen Kontakt als Tarn zur Rebellion herstellen. Oder Tarn sehen.
Der Gedanke war gleichzeitig schmerzhaft und reizvoll. Einen Moment lang fragte er sich selbst, was er davon erwartete. Eine Entschuldigung? Eine Rechtfertigung? Es war möglich, dass er beides bekommen würde, oder nichts von alledem. Immerhin war er jetzt in Sicherheit, so wie Tarn es geplant hatte. Vielleicht war das sein einziges Ziel gewesen, und damit alles für ihn erledigt. Oder auch nicht. Valion wollte es wissen, und wollte sich gleichzeitig nicht die Illusion zerstören, dass es Tarn zumindest ein wenig Leid tat, wie alles abgelaufen war. Vielleicht konnten sie einen Teil des gegenseitigen Vertrauens widerherstellen, aber vielleicht war das auch nur Wunschdenken. Wenn…
Ein Splittern ließ Valion aufschrecken, und wie die zwei Wächter blickte er zu Eraviers Wagen, aus dem das Geräusch stammte.
Du wolltest wissen, wie Faure gestorben ist; Ansin hat ihm eine Scherbe ins Auge gerammt.
Die Erinnerung an Anyas Worte schnürte Valion die Luft ab, und ohne weiter nachzudenken wollte er hinein stürmen, doch er würde an der Schulter gepackt, ausgerechnet die linke. Er schrie erstickt auf und wollte sich losreißen, aber Guy, der nach ihm gegriffen hatte, packte jetzt seinen Arm und hielt ihn zurück. „Was soll das?!”, herrschte Valion ihn an, aber er schüttelte nur den Kopf. „Was da drin passiert geht niemanden etwas an.” „Aber-”, wollte Valion einwenden, doch Guy wiederholte nur: „Niemand, ist das klar? Du kannst da rein gehen, aber wenn du es tust, bist du ziemlich sicher tot. Es liegt an dir.” Damit ließ er ihn los, wandte sich ab und zog seinen Kumpan mit sich.
Valion konnte es kaum glauben. Es war den Wächtern so unangenehm, dass sie nicht in der Nähe sein wollten um Zeuge jedweder Ereignisse zu werden. Eraviers Quartier war also eine rechtsfreie Zone. Das war unfassbar, aber es passte zu dem ganzen Wahnsinn, der ihn umgab. Für einen Moment wollte er zögern, dann riss er sich zusammen. Er ließ Anya nicht einfach im Stich, wenn ihr tatsächlich etwas geschah.
So leise wie er konnte schlich er in den Wagen, verharrte hinter dem Vorhang, lauschte. Etwas zerbrach erneut, und dann hörte er Anya leise lachen, dann keuchen. „Und ich dachte, ich würde nachlässig mit der Einrichtung umgehen”, scherzte sie heiser, und Eraviers Stimme antwortete ihr nur: „Du redest zu viel.”
Valion wusste es schon, bevor er durch den Vorhang spähte. Im Grunde war es falsch, und er wusste es. Jadzia hatte völlig Recht gehabt, als sie ihm sagte, er solle Anya nicht anstarren. Wieviel tat sie freiwillig, und wieviel nahm sie einfach in Kauf? Das konnte nur Anya beantworten, niemand sonst.
Er sah nicht viel, aber genug. Er sah ihren entblößten Oberkörper, und wie sie sich auf dem Tisch abstützte, den Kopf zurückgeworfen, dass ihr Haar fast die Tischplatte berührte. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Mund leicht geöffnet. Sie stöhnte, und ihr Gesicht war entspannt - wenn sie sich Eravier aus Zwang hingab, dann war es ihr nicht anzusehen. Aber auch darüber konnte nur sie allein Auskunft geben. Von ihm sah Valion gnädig wenig, weil er sich über sie beugte, und dann wurde ihm klar, was er tat, und er wandte sich ab und verließ den Wagen so leise, wie er gekommen war.
Er schlug den Weg ein, den Anya ihm beschrieben hatte, aber er nahm ihn kaum wahr. Seine Gedanken waren verwirrt, und gleichzeitig ging ihm nicht aus dem Kopf, dass er von Anfang an Recht gehabt hatte - Anya schlief mit Eravier. Wie oft und warum spielte im Grunde keine Rolle. Wenn er diesen Fakt ausnutzen wollte, dann konnte er das tun. Aber dieser Gedanke kam ihm jetzt abwegig, geradezu grotesk vor.
Während er das Lager der Wachen erreichte und dann abbog, genau wie Anya es ihm beschrieben hatte, dachte er darüber nach, ob er Jadzia vorsichtig und möglichst respektvoll ein paar Fragen stellen konnte. Aber wie die aussehen sollten wusste er selbst so genau.
„Schaut mal, Besuch.”
Valion schrak zusammen, blickte auf, und sofort wurde ihm klar, auf welchem Weg Anya ihn zurück geschickt hatte. Das war der Teil, den er bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, und er hatte ihn nicht sehen wollen. Er dachte daran, was Jan gesagt hatte: Die niederen Sklaven sitzen sich da drüben fast gegenseitig auf dem Schoß. Das war nicht gelogen gewesen, das sah er jetzt, denn die zwei Wagen, die hintereinander aufgestellt waren, waren alles, was er sich in seinen Alpträumen vorgestellt hatte.
Die Seiten waren mit langen, stabilen Eisenstäben vergittert. Sie konnten gegen Licht, Witterung und Kälte mit Stoffplanen verhüllt werden, aber die waren jetzt hochgerollt. Und hinter den Gitterstäben, wie Tiere angekettet, Menschen, getrennt nach Männern und Frauen, bestimmt an die zwanzig in jedem Wagen, die meisten von ihnen nur wenige Jahre älter als er. Plötzlich fühlte er sich von allen Seiten beobachtet.
„Seht mal, wer sich her verirrt hat”, sagte einer der Frauen, die nahe am Gitter gelehnt stand und nach draußen sah. Sie war mager und wirkte erschöpft, aber sie war attraktiv, auch wenn diese Attraktivität bei weitem nicht an die von Jadzia oder Anya heran reichte. „Es ist einer von den hübschen. Was machst du denn hier? Suchst du einen starken Mann?” Das Gelächter aus beiden Wagen war hämisch und gleichzeitig feindselig, und Valion wich instinktiv einen Schritt zurück. Die Worte der Frau schienen für Aufmerksamkeit zu sorgen, denn mehr Sklaven traten an das Gitter, betrachteten ihn. Nur einige wenige blieben verborgen in den hintersten Winkeln der Wagen, eingeschüchtert.
„Und, wovor bist du weggelaufen, hm?”, fragte einer der Männer und lachte. „Hast du jemand kalt gemacht? Eine Kleine geschwängert? Bringst du das überhaupt fertig?” „Sieh ihn dir an, der hat noch nie ein Mädel angefasst”, spottete eine Frau, und ein anderer mutmaßte: „Der hat seine Eltern entehrt. Stimmts, du hast dich mit der falschen Gesellschaft erwischen lassen?” Valions Herz schlug bis zum Hals, als er wütend sagte: „Ich wurde entführt! Ich habe überhaupt nichts getan, und ich laufe vor nichts weg!”
Wenn er gedacht hatte, dass diese Worte Sympathie auslösen würden, hatte er sich getäuscht. Das Gegenteil war der Fall, plötzlich waren alle Blicke die ihn trafen feindselig. „Achso, der Kleine ist was Besseres! Einer von den feinen, sauberen, die sich nicht kaufen lassen!”, zischte eine Frau und spuckte in seine Richtung, und plötzlich hagelte es Beschimpfungen. „Unverdorbenes Fleisch, was?!” „Das wird dir noch ausgetrieben, wenn du unter dem ersten liegst!” „Wirst du betteln, dass sie dich gut behandeln?!” „Denkst du du bist besser dran als wir, wenn du erst verkauft bist?!”
„Valion”, sagte plötzlich eine zarte Frauenstimme durch das Durcheinander von Beschimpfungen, und plötzlich verstummten alle Stimmen nach und nach. Valion wandte sich um, suchte die Gesichter ab, aber wer auch immer seinen Namen gesagt hatte, gab sich nicht erkennen. Völlig irritiert trat er auf das Gefängnis der Frauen zu. „Wer hat das gesagt?”, fragte er, und eine Männerstimme antwortete aus der anderen Richtung. „Jan ist in unseren Händen.”
Valions Blut gefror in den Adern. Er hastete zu dem Gefängnis der Männer, sprang auf den Wagen und packte den erstbesten Mann, den er in die Finger bekam, am Kragen. „Wer hat das gesagt?!”, schrie er ihn an, aber der Mann zuckte nicht einmal zurück, und von den Frauen her kam eine völlig andere, leise Stimme: „Hintergeh die Rebellen nie wieder. Dein Ziel ist Lutejia.” „Ich weiß, dass du ein Sklave bist! Du hast mich zu Boden gerissen! »Ich sehe dich, egal ob du schläfst oder wach bist«, damit hast du geprahlt, aber warum hast du nicht gesehen, was Jan vorhatte?! Ich will wissen, wer zum Teufel du bist!”, spie Valion wütend, und diesmal machte er nicht den Fehler, den Blick abzuwenden. Dass er die Blickrichtung wechselte war vorhergesehen, das sollte ihn verwirren. „Sag es mir, oder ihm passiert was!” Er wusste nicht einmal, ob er fähig war, irgendjemand zu verletzen, aber in diesem Moment war er wild entschlossen, es zu versuchen. Doch plötzlich packte der Mann, den er fest gehalten hatte, sein Handgelenk und sah ihn ernst an. „Wir sind die Rebellion”, sagte er, und in seinen Augen stand nicht einmal ein Funken Angst, „und wer denkst du, bist du?”
Eingeschüchtert ließ Valion ihn los und stolperte einen Schritt zurück, weg von dem Wagen, aber er brauchte keine Antwort geben. „Er ist ein kleines Küken”, sagte eine dritte Frauenstimme, und diesmal zeigte sich die Sprecherin. Sie war eine winzige, zierliche Person, stand nahe am Gitter, und betrachtete ihn gleichgültig. „Der Sohn einer Nachtigall.” „Was-”, begann er, aber sie lächelte und sang leise: „Entflogen ist uns Frau Nachtigall, Sie ist entflogen, wird sie uns wieder singen?” „Wir wissen zu viel über deine Familie. Belass es dabei”, sagte der Mann, den er am Kragen gepackt hatte. Seine Augen durchbohrten ihn. „Das ist besser für dich und für sie.”
Valion floh. Er floh vor den starrenden Augen und der Gleichgültigkeit, dem Hass und den Drohungen. Er hörte nicht auf zu laufen, bevor er den Wagen erreichte, der Anyas und Jadzias Quartier war. Jemand stand davor, sprach mit Jadzia und und wartete offensichtlich auf ihn. Marceus.
Er drehte sich um, als er Valion außer Atem heran kommen sah, und bevor er überhaupt etwas sagen konnte verzog sich sein Gesicht plötzlich besorgt. „Was ist passiert?”, fragte er sofort und griff nach Valions Schulter, „Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen!” Valion wollte etwas sagen, aber er brachte kein Wort heraus, und plötzlich war ihm nach Heulen zumute. Er schaffte das alles nicht allein.
Marceus begriff, wie es ihm ging, und zog ihn kommentarlos in eine Umarmung, und Valion klammerte sich an ihn. Er wünschte er hätte ihm erklären können, was geschehen war, aber es steckte in seinem Verstand fest.
Alles, wollte er sagen. Alles ist passiert.