„Zieh dich an.“
Anya nickte, und obwohl ihre Beine wacklig waren und die Welt immer noch aus Watte bestand, begann sie ihre Kleidung zurecht zu rücken.
Ansin brauchte nicht einmal so lange, er war noch einem Augenblick schon wieder angezogen und sah so gepflegt wie immer aus. Aber es wäre auch untypisch für ihn gewesen, wenn er sich mehr als nötig entkleidet hätte um sie zu nehmen. Es war in gewisser Weise paradox: er trieb es seit Monaten mit ihr, und trotzdem hatte sie keine Ahnung, wie sein Körper aussah. Doch im Grunde war ihr das recht. Er lebte nur seine Triebe an ihr aus, und alles was sie tat war, ihn gewähren zu lassen. Sie empfand nichts für ihn, und nichts, weder die Zeit noch das Schicksal, und erst recht nicht der Anblick von etwas nackter Haut, würden je etwas daran ändern.
Nach einigem Ziehen und Zerren befand sich ihr Kleid endlich wieder an Ort und Stelle, und sie trat ohne weiter darüber nachzudenken zu Ansins Waschschüssel, um sich etwas frisch zu machen. Sie griff nach der Kanne, goß sich frisches Wasser ein und begann ihr Gesicht und ihre Hände zu reinigen. Eigentlich hätte sie sich das Waschen an diesem Morgen auch sparen können, sinnierte sie. Sie fühlte sich verschwitzt, aber vermutlich hatte Ansin sie in dem Wissen her beordert, dass er sie haben wollte, und sie deshalb trotz der Umstände zum Waschen befohlen. Er wollte sie sauber, das hatte er irgendwann gesagt, auf seine typisch charmante Art, also absolut brutal und mitleidlos. Soweit sie sich erinnerte, waren die Worte „dreckige Hure“ gefallen. Er war eben ein absolutes Schwein.
Es war nicht mehr viel Wasser da, aber es reichte, um zumindest noch ihre Scham zu waschen. Sie zitterte, als der feuchte Stoff ihre erhitzte Haut berührte. Einerseits war das Wasser kalt und ließ sie frösteln, aber gleichzeitig flaute ihre Erregung erst jetzt langsam ab, und ihr Körper reagierte immer noch empfindlich. Zumindest das konnte man Ansin zugute halten; er sorgte dafür, dass sie auch etwas von ihrer Begegnung hatte, solange er selbst noch nicht befriedigt war.
Er war nicht besonders kreativ, wenn es um sie ging, da hatte selbst Gael mehr Einfallsreichtum. Er packte sie von vorn, schob ihren Rock hoch und drang in sie ein, und das war alles, was sie an Vorwarnung oder Vorspiel bekam. Aber wenn sie eine günstige Position suchte, in der er eine Hand frei hatte, teilte er mit den Fingern ihre Schamlippen und ließ seine Finger sanft über ihre Klitoris kreisen, bis es ihr völlig egal war, was für ein Mistkerl er eigentlich war.
Sie gab gern zu, dass sie einfach zu befriedigen war, aber er bewies darin deutlich mehr Geschick als andere Männer. Sie wusste nicht, wie es dazu kam, dass ausgerechnet ein eiskaltes Scheusal wie er so geübt darin war, Frauen zu verwöhnen, aber in diesen Momenten hinterfragte sie es nicht.
Dafür verzieh sie ihm sogar, dass sie noch nie ihren eigenen Namen aus seinem Mund gehört hatte, wenn er sich an ihr abreagierte. Es war eine Ersatzhandlung, das war ihr völlig klar; er wollte nicht sie, sondern wer auch immer in diesem Moment durch seine Fantasie spukte. Aber das ging sie im Grunde auch nichts an. Sollte er sich ihretwegen ruhig vorstellen, er würde den König und seinen ganzen Hofstaat vögeln, solange er nicht aufhörte die Finger zu bewegen. Sie ignorierte ihn in diesen Momenten genauso wie er sie, und wenn sie kam machte sie sich auch nicht die Mühe, seinen Namen zu stöhnen. Er folgte meist dicht hinter ihr, nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie in ihrer Erregbarkeit übereinstimmen, was wohl auch der Grund war, warum er sie besonders gern zu sich befahl.
Während sie den besudelten Lappen zurück in die Waschschüssel warf, wo ihn irgendeine bemitleidenswerte Dienerin finden würde und die Sauerei auch noch waschen musste, dachte sie daran, dass Ansin ihr immer noch ein Rätsel war. Ihre selige Mutter hatte ihr gesagt, dass es etwas ganz Besonderes sei, einem Mann, wie hatte sie es blumig genannt? „Beizuwohnen“, richtig. Und dass eine gute Frau die Wünsche ihres Mannes verstand und in den Momenten seines Glücks einen Einblick in seine Seele erhielt, den sie schätzen und behüten musste.
Nun, bei Gael war das vielleicht der Fall, ihn kannte sie inzwischen recht gut. Aber ein Einblick in Ansins Seele war so aufschlussreich wie der Blick in einen Eimer Teer, egal ob Glück oder nicht. Sein Körper spannte sich an, er öffnete den Mund, und dann: Ausatmen. Mehr war es nicht. Er lächelte nicht einmal, er zeigte keine Befriedigung, und das war im Grunde bemitleidenswert. Was hatte er davon, wenn sein Herz vielleicht irgendwo anders war, sofern er eins besaß? Sie begriff es nicht.
Egal; Ansin war vielleicht der Herr dieser kleinen Welt, aber dennoch nicht wichtig genug, dass sein Innenleben sie mehr als nötig beschäftigen sollte. Das einzige was sie von ihm wollte war, dass er sie im geeigneten Moment an einen wohlhabenden Mann verkaufte, der sie zur Mätresse, aber besser noch zur Ehefrau erkor. Bis dahin würde sie ihm zur Verfügung stehen, und ihm danach keine Träne nachweinen.
Anya richtete ihren Rock und wandte sich zu Ansin um, der schon wieder an seinem Schreibpult saß und in eine seiner unendlich vielen Listen vertieft war, mit deren Hilfe er den Wagenzug organisierte.
Er blickte auf, als er bemerkte, dass sie ihn ansah und fragte: „Endlich fertig? Dann lass uns zum Geschäftlichen kommen.“
Was, war das gerade weniger geschäftlich?, dachte Anya mit bitterem Humor, aber sie sagte nichts, sie fühlte nur, wie ihr Mundwinkel verräterisch zuckte. Irgendwann musste sie sich diese unwillkürliche Reaktion abgewöhnen. Jetzt stützte sie nur die Hände in die Hüfte und sagte: „Ich bin ganz Ohr.“
„Wie du bemerkt hast, hat sich die Lage ein wenig geändert“, dozierte Ansin kalt. Anya nickte, das war ihr ebenfalls klar gewesen. Aber auch ohne die gestrigen Vorfälle war Valion anders, als sie erwartet hatte, und erwartet hatte sie ihn schon vom ersten Tag an. Gleich nach seiner Brandmarkung war Ansin bei ihr aufgetaucht und hatte ihr geschildert, was für ein Küken sie unter ihre Fittiche nehmen sollte.
„Ich war überrascht. Du hast mir den Jungen beschrieben, aber ich kann das was ich sehe nicht mit dem vereinen, was er tut”, erklärte sie, „Er wirkt auf den ersten Blick harmlos und naiv, genau wie du sagtest, aber irgendetwas steckt in ihm.” „Mehr, als du ahnst. Du kennst sicher schon die ganzen pikanten Details seiner gestrigen Abenteuer?”, fragte Eravier mit einem schmalen Lächeln. Anya hob eine Augenbraue. „Da muss ich dich enttäuschen, bis auf deine Andeutungen habe ich nichts weiter gehört. Was hat er ausgefressen?”
Eravier lachte, nicht freundlich, sondern spöttisch. „Dann ist der neuste Klatsch diesmal noch nicht bis zu dir vorgedrungen? Kaum zu glauben, ich dachte auf Karvashs Schoß entgeht dir nichts.”
Halt die Klappe und spuck es aus, ätzte Anya in Gedanken, aber stattdessen lächelte sie zuckersüß und erklärte: „Ich war damit beschäftigt, ein paar sehr verschüchterten Herren den Kopf zu tätscheln. Gael war so weit ich weiß eher von Kelians Entsorgung beeindruckt. Also, was ist passiert?”
Eravier kostete sein Wissen noch einen Moment aus, bis er eröffnete: „Nun, ich ging davon aus, dass ich dir eine kleine Jungfrau überlasse, aber falls es jemals der Fall war - er ist keine mehr.” Er lachte auf, als er Anyas überraschten Blick sah. „Ganz richtig, diese Hürde hat er ganz allein genommen, auch ohne deine fachkundige Hilfe. Lass dir bei Gelegenheit erzählen, wie er sie genommen hat. Es war eine Freude, zuzusehen.”
Anya presste die Lippen aufeinander und sagte nichts dazu. Sie billigte Ansins voyeuristische Züge nicht, egal ob es um Gewalt oder Sex ging. „Das heißt, im Grunde habe ich nichts mehr zu tun. Gut für ihn, gut für mich, schätze ich”, versuchte sie das Thema zu wechseln, aber Eravier schüttelte gönnerhaft den Kopf. „Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass er jetzt erst richtig anfängt. Und er scheint dich als sein Vorbild auserkoren zu haben. Du hast es sicher selbst bemerkt.”
Natürlich hatte sie das, das war eines der Dinge, die sie so überrascht hatten. Valion hatte sie imitiert, vermutlich in dem Versuch, Eravier zu gefallen, und er hatte sie gut getroffen. Sein Gang war etwas ungelenk, vermutlich, weil er mit viel weniger Körper arbeiten konnte, sein Lächeln etwas zu schmal, weil er nicht wagte zu übertreiben. Aber was sie am meisten erstaunt hatte war, dass es keine Verhöhnung war. Er hatte ihr Gebaren ausgeborgt, ohne sich darüber lustig zumachen, im Gegenteil, es war eine respektvolle Interpretation gewesen.
Und das verwirrte sie. Sie hatte viel daran gesetzt, dass er sie nicht mochte, in der Hoffnung, dass sie nicht das tun musste, was Ansin von ihr erwartete: Den Jungen zu verführen und zu entjungfern. Egal, was Jungfräulichkeit für den Rest der Gesellschaft bedeutete, für einen guten Sklaven war sie bestenfalls ein Hindernis, das hatte ihr niemand lange erklären müssen. Niemand bezahlt Unsummen um eine verschüchterte graue Maus im Bett zu haben, von ein paar sadistischen Ausnahmen abgesehen. Valion brauchte Erfahrungen, sie waren wortwörtlich Gold wert. Und was lag für Eravier da näher als die erfahrenste seiner neuen Sklavinnen auf ihn anzusetzen? Sie konnte ihm schließlich eine Menge beibringen.
Nur, dass Anya das nicht wollte. Valion war ein hübscher Junge, aber eben doch ein Junge. Sie hatte vier Ehemänner begraben, und auch wenn sie jünger aussah, der Altersunterschied war ihr unheimlich. Außerdem erschien es ihr auch nicht richtig auszuwählen, wie oder mit wem Valion seine Erfahrungen sammeln sollte. Und deshalb hatte sie ihn sorgfältig, aber unauffällig gegen sich aufgebracht. Ansin konnte sie kaum dafür bestrafen, dass Valion sich nicht auf sie einließ. Sie hatte gehofft, ein paar gezielte Gemeinheiten würden den Jungen schnell und nachhaltig davon abhalten, ihre Nähe zu suchen.
Aber da hatte sie sich geirrt. Der Junge war nicht blind für ihre körperlichen Reize, und er schien sich strikt zu weigern, sie zu hassen. Himmel, sie hatte ihm einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, als er wehrlos und todtraurig war. Er war vorsichtig in ihrer Nähe, als wäre sie eine giftige Schlange, die jeden Moment zubeißen konnte, aber gleichzeitig schien er immer wieder mit sich zu hadern und zu versuchen, sich Respekt für sie abzuringen. Und in dem Moment, in dem sie versucht hatte sich aus der Affäre zu ziehen, war er eingesprungen und hatte versucht zu helfen. Sie begann, ihn zu mögen.
Aber das durfte Ansin nicht erfahren. Er sollte nicht das Gefühl haben, dass sie Fortschritte mit Valion machte, deshalb sagte sie kalt und desinteressiert: „Ja, er hat versucht mich zu imitieren, es war ein ziemlich billiger Abklatsch. Ich hatte eher das Gefühl, dass er mich damit ärgern wollte. Ich meine, ich gebe natürlich nach wie vor mein Bestes, vielleicht entwickelt er sich. Aber ich habe das Gefühl, dass er immer noch denkt, ihn würde das alles hier nicht betreffen. Anscheinend erwartet er eine Sonderbehandlung. Vielleicht würde es ihm gut tun, eine Weile bei den niederen Sklaven zu bleiben, damit er weiß, wieviel Glück er hat.”
„Kommt überhaupt nicht in Frage”, sagte Ansin kalt, und in seinem Tonfall hörte Anya die leise Warnung, dass sie genau darüber nachdenken sollte, was sie über seinen neusten Erwerb sagte. Plötzlich war sie alarmiert, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Eravier verteidigte niemand, ausgenommen seine Lieblinge. Oh Gott, der arme Junge; er gefiel Ansin.
„Er wird sich fangen und bald lernen, was er zu tun hat. Er ist auf dem richtigen Weg, das spüre ich”, erklärte Ansin weiter, und in seinen Augen zeigte sich ein Funken Zuneigung, der Anya schaudern ließ. „Er ist ein wirklich in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Als ich ihn das erste Mal sah, wusste ich, dass er schwer zu zähmen sein wird, und ich habe fest damit gerechnet, dass er irgendwann versuchen wird auszubrechen.”
Anya lachte nervös. „Mag sein, aber du kannst unmöglich damit gerechnet haben, dass die Rebellen ihn mitnehmen wollen.” Ansin zuckte mit den Achseln, und mit einer Arroganz und Selbstüberschätzung, die Anya kaum glauben wollte, sagte er: „Und trotzdem stehe ich am Ende als Gewinner da. In gewissem Sinne hat mir diese kleine Ratte einen Dienst erwiesen - dank ihm ist Valions Kampfgeist gebrochen. Er will nicht mehr entkommen, nur noch überleben, und er wird alles dafür tun. Und seine Erfahrung mit dieser kleinen Missgeburt hat ihn auch von dem Wunsch kuriert, sich dem Rebellenpack anzuschließen.” „Denkst du, das hatte er vor?”, fragte Anya so ungläubig wie sie konnte, um mehr aus ihm heraus zu holen.
Sie war gespannt, was jetzt kommen würde, und sie war froh, dass Ansin wie so viele Männer oft einfach nur in ihrem Beisein sprach, statt mit ihr. Er ordnete nur seine Gedanken und benutzte sie als Zuhörer und Stichwortgeber für seinen Monolog. Zu dumm, dass er dabei seine Erkenntnisse verriet, ohne sich dessen völlig bewusst zu sein. „Ich denke, dass er früher schon Kontakt zur Rebellion hatte, aber nicht wusste, was ihm bevor steht”, sinnierte Ansin, „Er ist zu naiv und gutherzig, um sich tatsächlich einer Bande gewalttätiger Aufständischer anzuschließen, und er hat mit eigenen Augen gesehen, wozu sie fähig sind.”
Für einen Moment war sein Gesicht nicht mehr spöttisch, sondern nachdenklich, als er sagte: „Die Vorstellung, dass tatsächlich jemand sterben könnte, war für ihn unerträglich… Man könnte fast meinen, er hätte so etwas wie ein gutes Herz.” Er lachte, als er das sagte, aber es klang falsch… als müsse er sich zwingen, das als absurd abzutun.
Fast als wollte er seine Unsicherheit überspielen fuhr er schnell fort: „Seine kleine Flucht hat ihm Angst eingejagt, und dass Tarn ihn zurück gepfiffen hat, hat ihn ebenfalls beeindruckt. Er hat vermutlich erwartet, dass sein »Freund« ihn einfach so laufen lassen würde. Er ahnt ja nicht, wem Tarns Loyalität gehört. Oder der ganze Rest von ihm”, sagte er. Das Wissen um diesen Umstand schien ihm seine Sicherheit zurück zu geben, denn er lächelte mit einem Ausdruck, den Anya nur als sadistische Freude beschreiben konnte.
Sie hatte früh begriffen, dass Tarn mehr war als nur Eraviers Schatten. Er war sein persönlicher Sklave und Diener, aber etwas an Ansins instabiler, irrationaler Zuneigung reichte in seinem Fall noch tiefer. Sie hätte es Liebe genannt, aber dazu war seine Zuwendung zu selbstsüchtig und besitzergreifend. Besessenheit traf es eher.
Es war für sie umso unbegreiflicher, weil sie Tarn nur als gedankenvollen, stillen und freundlichen Mann kennengelernt hatte. Sie konnte nicht umhin, sich in seiner Gegenwart wohl zu fühlen, und sie kannte nur eine Hand voll Leute, die ihm feindselig begegneten. Hätte Ansin ihn nicht aus persönlichen Gründen immer in seiner Nähe behalten, er hätte ihn vermutlich trotzdem zu seinem Stellvertreter und rechter Hand auserkoren. Tarn war für jeden offensichtlich die Barriere zwischen Ansins Wahnsinn und dem Rest der Welt, und die meisten hörten schon deshalb auf ihn, weil er fürsorglich, umgänglich und ein guter Arzt war. Das war vermutlich auch der Grund, warum Ansin ihn von Anfang an darauf angesetzt hatte, Valions Vertrauen zu gewinnen.
„Es war eine gute Idee, die beiden in Kontakt zu bringen. Tarn und den Jungen, meine ich. Er ist für ihn sicher wie ein Vaterersatz”, plauderte sie weiter. Schmeichelei schadete niemals, und ein Gespräch mit Ansin zu führen bedeutete generell, alle unangenehmen Themen zu umschiffen. Selbst die Andeutung, die er fallen ließ, bewirkten, dass sie sich nach einem heißen Bad sehnte. Es war ratsamer, das Gespräch in seichte Gewässer zu steuern, so wie jetzt, als Ansin eher gelangweilt zustimmte: „Es war vorherzusehen. Tarn hat mich in dieser Beziehung noch nie enttäuscht; jeder vertraut ihm.” Anya machte einen letzten Versuch, ihre Aufgabe abzuwälzen, als sie betont harmlos sagte: „Nun, wenn Tarn doch so großen Einfluss auf ihn hat und der Junge vielleicht gar kein Interesse an Frauen hat, wäre es da nicht einfacher wenn er-”
Ansin wandte sich zu ihr, und jetzt sah er ungeduldig und reizbar aus. „Bist du wirklich so dumm, oder willst du mich nur reizen, Weib? Du hast Einfluss auf ihn, nutze ihn gefälligst.” Er erhob sich, ging auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie zuckte reflexartig zusammen; sie hatte fast damit gerechnet, dass er sie jetzt schlagen würde. Das hatte er noch nie getan. Aber es war nur eine Frage der Zeit, darüber machte sie sich keine Illusionen.
Doch so schnell, wie er zornig geworden war, flaute seine Reizbarkeit wieder ab und wich Freundlichkeit gepaart mit zynischem Hohn. Er strich ihr durch das rote Haar und über die Wange und sagte: „Tu, was du am besten kannst, mein Schatz. Sei eine gute Hure und bring ihm bei, wie man seine Hemmungen verliert. Wenn du es nicht selbst tun willst, finde jemand, der es tut. Bis wir Luteija erreichen will ich, dass er auf oder unter mindestens einer weiteren Person gelegen hat, Geschlecht und Alter sind mir egal.” „Und wenn er nicht-”, wollte Anya fragen, und sie konnte das Zittern nicht ganz aus ihrer Stimme vertreiben. „Dann wirst du das bereuen”, antwortete Ansin ihr kalt und stieß sie grob von sich. Sie stolperte einen Schritt zurück und fing sich mit klopfendem Herzen. Seine Geduld war für heute aufgebraucht, eindeutig, und sie dankte dem Himmel, dass er sie mit den Worten „Du weißt was du zu tun hast, also verschwinde.” hinaus schickte.
Anya verließ den Wagen vergnügt, mit schwingenden Hüften und einem Lächeln, und sie behielt es bei, bis sie sicher war, dass die Wächter vor dem Wagen tatsächlich verschwunden waren. Als sie sich überzeugt hatte, dass ihr keine neugierigen Blicke folgten, sackte sie zusammen, und das immer gleiche Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
Für einen Moment verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und atmete tief ein und aus. Lächle, mein Schatz, sagte ihre Mutter sanft in ihren Gedanken, die leichtfertig vergossenen Tränen einer Frau sind für ihren Mann nicht von Belang, sie verärgern ihn nur. Ja, das wusste sie, aber Gott, es war so schwer. Sie schämte sich nicht für das, was sie tat und wer sie jetzt war, aber Ansin brachte es fertig, dass sie sich schmutzig fühlte. Benutzbar, austauschbar, kaum menschlich, mehr Werkzeug als alles andere.
Einatmen. Ausatmen. Es half. Es half ihr immer. Es lag nicht an ihr, sie war nicht verblendet oder naiv. Sie war mit dem, was sie tat, immer noch im Einklang, und jeder, der wollte, dass sie sich dafür im Unrecht fühlte, war das wahre Problem. Manche von ihnen hassten alles, was sie nicht verstanden oder nachvollziehen konnten. Aber manche von ihnen versuchten auch einfach nur sie zu verletzen, so wie Ansin.
Hätte sie gewusst wie er war, als er ihren Vertrag aufsetzte, sie hätte niemals unterzeichnet. Aber damals hatte er die Hand gehoben und bewundernd über ihr langes, rotes Haar gestrichen. Obwohl sie erschrocken und irgendwie abgestoßen davon war, dass er sie berührte ohne sie jemals um Erlaubnis gefragt zu haben, hatte es ihr Herz bewegt. „So schönes Haar. Rot ist die Farbe der Könige”, hatte er schmeichelnd gesagt, und für einen Moment hatte sie an ihren Ehemann gedacht.
Ihren ersten, und in ihrem Herzen auch der einzige. Auch er hatte so liebevoll, so voller Bewunderung, über ihr Haar gestrichen. Er hatte sie oft seinen rothaarigen Engel genannt. Damals, vor langer Zeit, jung und vollgestopft bis oben hin mit den Benimmregeln ihrer Mutter und den Erwartungen an ihren Stand, hatte sie schüchtern das Haupt gesenkt und ihren Ehemann dankbar angelächelt, und das Wunderbare war: Er war davon verzaubert gewesen. Sie hatte ihn so unglaublich, so unverhofft, so bedingungslos geliebt, dass es sie erschrak, und es hallte noch in ihr nach, als er schon lange begraben war.
Und nur deshalb hatte sie ausgerechnet Ansins Vertrag unterschrieben, wegen einer sentimentalen Erinnerung, und es war eine Fehlentscheidung gewesen. Eravier hatte ihr vom ersten Moment an klar gemacht, dass er sie nicht nur besitzen, sondern auch mit ihr schlafen wollte, und sie hatte gezögert. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie der Vorschlag nicht einmal abgestoßen, sie wollte nur das Für und Wider abwägen. Doch allein der Gedanke, dass sie ihn ablehnen könnte, hatte Ansins Zorn geweckt. Er hatte sie angesehen, kalt, herzlos, und gefragt: „Glaubst du, dass eine einfache Hure wie du noch eine Wahl hat?”
Vielleicht war es gut so. Sie hatte sich keiner Illusion hingegeben, dass er sie jemals respektieren würde. Und ein eiserner Teil ihrer selbst, der bis zu diesem Zeitpunkt nur hin und wieder zum Vorschein gekommen war, war in diesem Moment vollends erwacht. Sie hatte ihn spöttisch angesehen und geantwortet: „Solange sich die Männer darum reißen, dieser Hure zu Füßen liegen, tut und lässt sie, was sie will.” Und das hatte sie seitdem getan.
Aber tief in ihrem Inneren, ob eisenhart oder nicht, würde es immer einen verletzlichen Kern geben. Und deshalb konnte und wollte sie sich nicht sofort in das Menschengetümmel stürzen, die Blicke ertragen, die immer auf ihr lagen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu besinnen.
Langsam, nachdenklich entfernte sie sich ein Stück von Eraviers Wagen, in Richtung des Weidelandes, und überblickte es.
Die Weite der Wiesen und Felder war jetzt, kurz vor der Mittagszeit, wirklich hübsch anzusehen. Der Himmel war aufgeklahrt, die Sonne strahlte, und der Wind, der am Vorabend noch so eisig gewesen war, bewegte nun das lange Gras auf dem Weideland und ließ es tanzen. Große Wolken zogen wie dicke weiße Schafe über den Himmel, und Anya versuchte, Formen in ihnen zu erkennen, das heiterte sie immer auf. Während sie ein Schiff und einen großen, schlappohrigen Hundekopf entdeckte, verlor sie die kalte, unfreundliche Welt für einen Moment aus dem Blick.
„So nachdenklich, mein Herz?”, fragte plötzlich eine schmeichelnde Männerstimme an ihrem Ohr. Anya zuckte leicht zusammen, aber im nächsten Moment erkannte sie, wer ihr einen Besuch abstattete. Es kostete sie Überwindung, sich nicht reflexartig um zu drehen, aber das war eine der Grundregeln, die sie schon ganz zu Anfang von Fourmi erhalten hatte - keine Namen, keine Gesichter. Stattdessen entspannte sie sich, das Gesicht weiterhin aufs Weideland gerichtet.
„Du bist spät dran, ich habe dich schon gestern Abend erwartet”, ärgerte sie ihn. „Es gab einige kleinere Zwischenfälle”, erklärte Fourmi, und Anya lachte auf. „Ich wusste ja, dass ihr Rebellen hart im Nehmen seid, aber dass du mir deinen gebrochenen Arm als kleinen Zwischenfall verkaufen willst, ist ein wenig übertrieben, meinst du nicht? Dass du überhaupt die Dreistigkeit besitzt direkt hier aufzutauchen…”, sagte sie und gestikulierte vage in Richtung von Eraviers Quartier. Sie standen hier immerhin in Rufweite, und kurz überlegte Anya, ob sie das irgendwie zu ihrem Vorteil nutzen konnte, doch Fourmi war so entspannt und selbstsicher wie immer.
„Wäre die Dame etwas aufmerksamer gewesen, hätte sie vielleicht bemerkt, dass Eravier seit geraumer Zeit gegangen ist”, erklärte er mit vager Erheiterung in der Stimme, und Anya zuckte mit den Schultern. Sie hatte anscheinend die Zeit vergessen, während sie sich beruhigt hatte. „Ist er das? Umso besser. Aber lass mich raten, du bist bestimmt nicht wegen mir hier. Du willst Informationen”, vermutete sie und wollte sich zu ihm umdrehen, doch er hielt sie fest.
„Nana, wer wird denn”, sagte er tadelnd, und Anya seufzte. „Verzeihung, ich vergesse immer wieder, dass ich dein Gesicht nicht sehen darf”, sagte sie unschuldig und nahm sich vor, ihn beim nächsten Mal zu erwischen. Nur weil es Grundregeln gab hieß es nicht, dass sie sie nicht biegen und beugen würde, wie es ihr passte. Vermutlich würde es ihr letztendlich nichts nützen, wenn sie seine Identität erfuhr, aber sie hätte das Wissen trotzdem gern in der Hinterhand gehabt, schließlich war sie keine Rebellin und auch keine Spionin. Sie hielt sich nur alle Möglichkeiten offen.
Auch deshalb fuhr sie jetzt geschäftsmäßig fort: „Also, Informationen. Soll ich dir einen kurzen Abriss der letzten zwei Stunden geben?” „Ehrlich gesagt habe ich bereits mitgehört, also brauchst du mir nichts zu erklären”, antwortete er, und vages Missfallen sprach aus seiner Stimme, als er sagte: „Nicht dass es mir ein Vergnügen war. Es ist mir unbegreiflich, warum du ausgerechnet auf seine Annäherungen eingehst.”
Anya rollte mit den Augen und ärgerte sich gleichzeitig, dass Fourmi das nicht sehen konnte. Er war einer dieser Menschen - er glaubte, ihre Gründe zu kennen, und bildete sich ungefragt ein Urteil über sie. Vielleicht war das als Spion seine Aufgabe, aber er sollte sie nicht mit seiner Meinung behelligen. Zynisch antwortete sie: „Ausgerechnet? Ich enttäusche dich ungern, aber ein schlechter Charakter macht da keinen Unterschied. Du würdest dich wundern, wie gleich Männer sind, wenn man die Augen schließt. Sie haben fast alle zehn Finger und erstaunlich oft genau einen-” „Schon gut, lassen wir das”, unterbrach Fourmi sie unwirsch, und Anya verbiss sich das Lachen und schämte sich gleichzeitig ein wenig für ihre Vulgarität, aber nicht genug, um es sich anmerken zu lassen. Er hatte seine rüde Antwort verdient.
„Wenn du nicht hier bist, um über Annäherungen zu reden, warum störst du mich dann?”, fuhr sie fort, und Fourmi seufzte. „Sind wir heute wieder schnippisch. Ehrlich gesagt habe ich eine Bitte, oder sagen wir, einen Handel. Er betrifft Valion.”
„Ich habe es befürchtet”, sagte Anya unwillig. „Hör zu, ich weiß, dass er erst einmal unbehelligt bleiben sollte, und um unsere… Freundschaft aufrecht zu erhalten, und weil ich wirklich kein Interesse daran habe, habe ich ihn wie du wolltest von mir ferngehalten und Ansins Befehle nicht befolgt. Aber es wird immer schwieriger den Jungen von allem auszuschließen, und er ist klug genug zu wissen, dass er sich nicht ewig widersetzen kann. Er ist berechtigterweise daran interessiert, nicht mit durchgeschnittener Kehle am Wegesrand zu verenden. Wenn ihr seiner Mutter etwas schuldet, dann solltet ihr euch beeilen, ihn heraus zu holen. Denn andernfalls wird er bald ein Sklave werden - mit allem, was dazu gehört.”
„Ja, das ist mir auch bewusst”, sagte Fourmi grimmig. „Ich dachte wir hätten Zeit, um unsere Schritte zu überdenken, wir haben schließlich nicht nur ein Eisen im Feuer. Aber die letzte Nacht hat uns einiges gekostet - Tarn hat sich als illoyal erwiesen, der Junge als rebellisch, und Eravier ist nun endgültig auf unseren Fersen. Über kurz oder lang wird er jemand finden, der uns verrät, und dann müssen wir von vorn beginnen.”
„Das klingt wirklich übel”, stimmte Anya zu, „aber was hat das mit mir zu tun? Ich erinnere dich ungern daran, aber ich habe mit eurem Freiheitskampf wenig zu tun.” Fourmi seufzte erneut. „Deshalb kommst du hier ins Spiel. Uns bleibt nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen. Der Junge will mehr über die Rebellion erfahren? Schön. Wir machen ihn zu einem vollwertigen Spion, und wir fangen jetzt an. Du machst ihn zum Sklaven, und ich mache ihn zum Kämpfer.”
Anya schwieg verdattert, und als sie ihre Sprache wiederfand, war das erste, was aus ihr heraus platzte: „Das ist dein genialer Plan? Hast du getrunken?!” Fourmi lachte an ihrem Ohr, aber Anya war nicht nach Lachen zumute. „Was soll das überhaupt bringen? Was erhoffst du dir davon?”, fragte sie ärgerlich.
„Ich weiß, es ist gewagt, aber du hast Eravier selbst gehört. Er geht nicht davon aus, dass Valion sich uns jemals anschließen würde. Er ist neben Tarn der einzige, der auch in Zukunft sicher sein wird, und Tarn können wir nicht mehr trauen. Er wird den Mund halten, aber wir halten uns von ihm fern. Die anderen sind alle in Gefahr. Wir lösen uns auf und gruppieren uns neu. Valion und du, ihr werdet unsere letzten Informanten in Eraviers Nähe sein, bis wir unauffällig neue Verbündete bei ihm einschleusen können.”
Anya atmete frustriert aus. Das war ein Plan, aber er gefiel ihr nicht. „Dir ist klar, dass du darauf baust, dass ich bei diesem Irrsinn mitmache?”, fragte sie wütend. „Was erhalte ich für dieses kleine Spiel als Gegenleistung, abgesehen vom Risiko, als Rebellin, die ich nicht bin, ermordet zu werden?!” „Einen Käufer, wie du ihn dir wünschst”, antwortete Fourmi knapp.
Es erzielte eine deutliche Wirkung. „Das ist kein Witz?”, fragte Anya tonlos, nachdem sie einen Moment in Stille verharrt hatte. „Es ist keiner. Ich habe meine Verbindungen spielen lassen. Wir haben einen Graf, der sehnsüchtig eine erfahrene, verführerische Frau wünscht. Er ist etwas älter, aber das spielt für dich keine Rolle, oder?” „Ist er reich? Hat er Einfluss?”, fragte Anya, immer noch unbewegt, aber es war spürbar, dass es unter ihrer Oberfläche brodelte. „Bin ich sicher bei ihm?” „Sehr sicher”, sagte Fourmi beruhigend. „Zumindest so lange er lebt, und ich gebe ihm mindestens noch zehn Jahre. Er ist ein Unterstützer, aber kein offener Mitstreiter. Nur ein gesitteter, heimlicher Geldgeber.” Noch einmal wurde Anya still.
Sie suchte in ihrem Herzen nach allen Skrupeln, die sie finden konnte, aber es reichte nicht. Sie war durch die Hölle gegangen, und hier war ihr Ausweg. Weg von Eravier, zurück in das standesgemäße Leben, das sie gewohnt war. Das ihr zustand. Sie würde vermutlich nur eine Mätresse sein, aber es gab Schlimmeres. Ungewissheit zum Beispiel. Schläge. Die vage Möglichkeit, dass sie lange würde warten müssen, bis Eravier sie weiter verkaufte, und das Wissen, dass er viel zu instabil war um nicht doch irgendwann auch auf sie loszugehen. Je länger sie wartete, desto größer wurde die Gefahr für sie.
Und sie musste ja nicht grausam sein. Sie konnte einfühlsam vorgehen, den Jungen behutsam heranführen. Sie musste ihn schließlich nicht quälen oder ihm etwas antun, sie musste ihn nur zu dem machen, was sie selbst war. Wenn er es wollte. Aber würde er das?
„Was ist mit dem Jungen? Was, wenn er ablehnt?” Fourmi schnaubte belustigt an ihrem Ohr, und plötzlich wurde ihr kalt. „Ihr zwingt ihn, oder?”, fragte sie, und sie brauchte die Antwort nicht zu hören um zu wissen, dass es die Wahrheit war. „Wir haben etwas, das ihm viel bedeutet”, stimmte Fourmi zu. Er klang völlig ruhig.
Wo ist Jan? Ist er entkommen?
Kummer und Mitleid schnürten Anya die Luft ab, als sie sich an die von Tränen halb erstickte Frage erinnerte. Das war nicht richtig. Dieser Schachzug war so bestialisch, dass er von Eravier hätte stammen können. Sicher, Valion hatte die Rebellion offen gelegt, ohne es zu wissen. Er war nur ein Junge, ohne Orientierungspunkt, ohne Bewusstsein, welche weitreichenden Folgen sein Handeln hatte. Es war nicht gerecht, dass das einzig Gute, was er in diesen Tagen seit seiner Gefangennahme erfahren hatte, gegen ihn verwendet werden würde.
„Das könnt ihr nicht machen”, sagte sie mit rauer Stimme, aber Fourmi schmetterte es ab. „Lass uns eines klar stellen, ich sehe keine andere Option. Es wird so geschehen, ob es dir passt oder nicht”, sagte er kalt. „Du kannst uns helfen, oder sehen, wo du bleibst. Immerhin hast du es selbst gesagt: Du bist keine Rebellin. Du schuldest uns nichts. Aber wir schulden dir auch nichts.”
Und darauf lief es letztendlich hinaus, nicht wahr? Am Ende des Tages waren sie nur widerwillige Verbündete, und das war vielleicht die beste Möglichkeit, die sie hatte.
„Also gut”, sagte sie leise und verschränkte die Arme. „Es kommt mir zwar vor, als würde ich den Teufel mit dem Belzebub austreiben, aber ich werde es tun. Gib mir etwas Zeit. Was ist mit dir? Ich schätze du wirst das sinkende Schiff als letzter verlassen?” „Richtig, ich werde alle Hände voll zu tun haben, den Jungen auf den Weg zu bringen. Es ist gefährlich, aber nicht unmöglich. Aber mach dich darauf gefasst, dass in nächster Zeit ein paar Leute spurlos verschwinden werden.” Anya seufzte unbehaglich. „Es wird eine gefährliche Zeit werden, oder?”, fragte sie, aber Fourmi widersprach ihr.
„Sorge dich nicht. Für dich wird alles weiterhin so einfach und sicher bleiben, wie es war. Du hältst immerhin jetzt schon alle Fäden in der Hand. Ich bezweifle, dass jemand anders außer Tarn eine ähnlich sichere Position hat.”
Nein, mein Lieber, ich halte nur ein paar Schwänze in der Hand, und das ist nicht das selbe, dachte sie rüde, und wieder zuckte ihr Mundwinkel verräterisch. Ein verzweifeltes Lachen wollte sich Bahn brechen, aber sie rang es nieder. Ihre Mutter im Himmel, wenn sie wirklich auf sie herab sah und all ihre Gedanken hörte, schnappte vermutlich gerade nach Luft wie ein Karpfen. Aber ihr eisenharter Kern ließ sich davon nicht mehr beeindrucken.
„Du hast wohl Recht”, sagte sie diplomatisch, aber er hätte nicht falscher liegen können. Sie war eine Trophäe, ein Wertgegenstand. Männer kämpften vielleicht darum, Trophäen zu erringen. Aber sie zerschmetterten sie auch in Wut und Selbstüberschätzung, oder aus simplem Hass.
Ihre Antwort war nur Schweigen, und reflexartig drehte sie sich um. Niemand hielt sie davon ab.
Fourmi war verschwunden.
„Dir auch noch einen schönen Tag, du durchtriebener Bastard”, sagte sie beleidigt und verschränkte unentschlossen die Arme.
Sie hatte jetzt einen Auftrag. Himmel, welcher Verrücktheit hatte sie da nur zugestimmt? Das würde ein hartes Stück Arbeit werden. Ungebeten kamen ihr Ansins Worte in den Sinn. Diese Hürde hat er ganz allein genommen, auch ohne deine fachkundige Hilfe. Lass dir bei Gelegenheit erzählen, wie er sie genommen hat.
Ja, das war zumindest ein Anfang. Sie musste wissen, was ihren Schützling antrieb, zu wem er in der kurzen Zeit schon Kontakte geknüpft hatte. Wenn sie jemals an ihn heran kommen wollte, musste sie ihn als allererstes kennen lernen. Es war unwahrscheinlich, dass er in der kurzen Zeit viele Freunde gefunden hatte, aber sie brauchte nicht viele. Ihr genügte ein einziger.
Marceus seufzte. „Das ist eine ganze Menge zu verdauen”, sagte er bedrückt, und Valion nickte.
Sie saßen gemeinsam auf Valions neuem Lager in Anyas und Jadzias Quartier, das jetzt irgendwie auch seines war, Marceus im Schneidersitz, Valion selbst mit angezogenen Knien. Sie hatten keine der Laternen angezündet, sondern blieben im Halbdunkel, und das war Valion nur zu recht. Er wusste, dass es nur eine Illusion war, das die Möglichkeit belauscht zu werden immer noch bestand, aber im dämmrigen Licht, umgeben von den drapierten Stoffen, die allem den Anstrich einer Höhle gaben, fühlte er sich unbeobachtet und irgendwie sicher. Es war hell genug, dass er Marceus Gesicht sehen und seine Miene deuten konnte, aber dunkel genug, dass er sich ruhiger fühlte, und für den Moment hatten sie diesen Ort ganz für sich allein. Anya war vermutlich immer noch bei Eravier, und Jadzia hatte sich aus Höflichkeit sofort verabschiedet als sie gesehen hatte, wie aufgewühlt Valion war.
Als sie verschwunden war hatte Marceus Valion losgelassen, unsicher, was er tun sollte, und gefragt, ob Valion alles erzählen wollte, und der hatte nur stumm genickt.
Er hatte erst gedacht, dass er trotz allem kein Wort heraus bringen würde, aber seit dem Moment, in dem sich Marceus ihm gegenüber gesetzt und ihn aufmerksam angesehen hatte, hatte er geredet. Es gab keine Reihenfolge, und zuerst war seine Erzählung wirr und stockend, aber er sprach einfach weiter, über alles, was ihm einfiel, alles, was geschehen war.
Er wusste nicht, ob Marceus mit allem mitkam, aber er nickte immer wieder, runzelte die Stirn, und folgte konzentriert jedem seiner Worte. Auch das half Valion nach und nach, seine Gedanken zu sortieren, weniger in seiner Erzählung hin und her zu springen. Aber egal, was er schilderte und wie er es mitteilte, geordnet oder völlig unsortiert, Marceus hörte sich alles an: wie Valion gebrandmarkt worden war, wie er Jan kennen gelernt hatte, alles über die Tage, die sie allein waren, und alles über ihre Flucht, bis zu dem Punkt, an dem Tarn und Eravier sie aufgehalten hatten. Seit Marceus erfahren hatte, wie es dazu gekommen war, dass Valion immer noch ein Gefangener war, hatte sich sein Gesicht mit jeder Minute verdüstert, aber er unterbrach Valion nicht.
Auch jetzt, nachdem Valion geendet hatte, schwieg er für einen Moment, als müsste er sich erst klar werden, was alles zu bedeuten hatte.
„Was denkst du?”, fragte Valion schließlich zaghaft nach, und Marceus fuhr sich unruhig durchs Haare. „Ich begreife das alles nicht”, sagte er, und das stand ihm auch ins Gesicht geschrieben. Er schien genauso verwirrt von Tarns Handeln wie Valion, und obwohl das bedeutete, dass auch er keine Erklärung hatte, war es trotzdem irgendwie tröstlich. Es gab wenigstens noch jemand, der die Welt nicht mehr verstand.
„Weißt du, ich war wirklich der Überzeugung, dass Tarn euch helfen wollte. Ich bin vielleicht nicht so gut darin, andere einzuschätzen, aber er schien es ernst zu meinen. Ich hätte einfach misstrauischer sein müssen”, fuhr er wütend fort, und aus seiner Stimme sprachen Schuld und Selbstvorwürfe. „Du kannst nichts dafür”, versuchte Valion ihn zu beschwichtigen, aber Marceus schüttelte nur traurig den Kopf. Vermutlich dachte er gerade an die tausend Arten, auf die er das was geschehen war hätte verhindern können, und auch darin unterschied er sich nicht von Valion. „Ich hätte euch nicht einmal allein lassen dürfen! Stattdessen bin ich einfach zurück gegangen”, erklärte er. „Ich ging fest davon aus, dass ihr schon längst weg seid, bis dieser Kerl in Kapuze auftauchte-”
Valion richtete sich so heftig auf, dass Marceus zusammen zuckte. „Wie sah er aus?”, fragte er ihn drängend, und Marceus antwortete nach einer irritierten Denkpause: „Ich weiß nicht, etwas kleiner als ich, etwas älter? Schmächtig, und er war verletzt, denke ich. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, er hat sich von hinten angeschlichen und er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, aber da er sagte er gehöre zur Rebellion, habe ich… es ist blöd, aber ich habe ihm einfach geglaubt. Wieso, wer ist der Kerl? Du kennst ihn?”
„Völlig egal, was hat er gesagt?!”, fragte Valion ungeduldig weiter, und fast tat es ihm Leid, dass seine unerwartete Heftigkeit Marceus so verwirrte, aber er hatte plötzlich eine Vorstellung davon, was hinter dieser völligen Wende in Tarns Verhalten steckte. Im Grunde brauchte er nicht einmal die Bestätigung; im Zusammenhang ergab es alles einen Sinn.
Marceus schwieg für einen Moment, vermutlich, um sich auch wirklich den genauen Wortlaut ins Gedächtnis zu rufen, dann sagte er stockend: „Er hat mich zuerst mit meinem Namen angesprochen, als würde er mich kennen, und dann sagte er… warte, lass mich nachdenken… dass du gefangen genommen wurdest, und dass Jan auf eigene Faust unterwegs ist, und dann hat er mir vorgegeben, was ich tun soll, damit du mit dem Leben davon kommst. Er wollte, dass ich mir die Worte präzise einpräge, alles, was ich sagen soll, und wie ich es sagen soll. Ich war zu verwirrt um-” Plötzlich unterbrach er sich und sah Valion direkt an. „Er hat nicht gesagt, dass du gefangen genommen wurdest, sondern dass du es wirst. Ich wusste, dass irgendetwas daran nicht stimmte, aber ich konnte es zuerst überhaupt nicht einordnen… Val? Was ist los?”
Valion hörte schon nicht mehr zu, er starrte konzentriert ins Leere.
Das war es also. Sie hatten von Anfang an keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Er war nicht sicher, wie es dazu gekommen war, wer hier wen verriet, aber eines stand fest: Dieser unbekannte Spion hatte seinen Anteil daran, wenn nicht sogar die volle Verantwortung dafür. Hatte er Tarn manipuliert, ihn vielleicht gezwungen, in seinem Interesse zu handeln? Wenn ja, warum? Wer sprach hier eigentlich für die Rebellion, Tarn, oder dieser Spion, der zumindest von sich behauptete, ebenfalls ein Rebell zu sein? Waren sie nun verfeindet, oder machten sie am Ende doch gemeinsame Sache? Und wenn Tarn vielleicht nicht immer freiwillig mit der Rebellion kooperierte, was was war dann überhaupt sein Ziel?
Valions Kopf schmerzte. Das waren einfach zu viele Fragen, und er hatte nicht einmal die Hälfte der Antworten. Er hatte eine vage Ahnung, wie alles zustande gekommen war, aber er wusste immer noch nicht genug über diesen Spion, um eindeutig sagen zu können, wer er war und was er vorhatte. Und widerwillig musste er sich eingestehen, dass er auch Tarn nicht einschätzen konnte. Nicht wirklich.
Er hatte noch nicht einmal begriffen, wie weit sein Einfluss überhaupt reichte und was ihn von den anderen Dienern und Sklaven abhob. Alle hier schienen strikten Regeln unterworfen, vor allem die Sklaven, aber Tarn schien zu kommen und zu gehen, wie er es für richtig hielt. Wem legte er Rechenschaft ab? Vermutlich nur Eravier, und das war ein Widerspruch in sich.
Auch wenn Eravier nicht komplett verrückt war, so war er doch nahe daran. Er hatte Jan nur mit einer Scherbe bewaffnet angegriffen, um ihm an Ort und Stelle die Kehle durchzuschneiden, und er kontrollierte jeden und alles um sich herum mit absoluter Wachsamkeit. Wie passte diese Rachsucht und dieser Verfolgungswahn zu der Art, wie er Tarn behandelte? Ich wusste doch, dass auf dich Verlass ist. Eravier hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass Tarn sein Verbündeter war, obwohl er als Mitglied der Rebellion schon mehr als einmal sein Misstrauen auf sich gezogen haben musste. Und Valion wurde klar, dass Tarn nie die Hand gegen Eravier erhoben hatte. Er hatte Jan nicht direkt aufgehalten, aber er hatte ihm auch nicht geholfen.
Valion bemerkte, dass Marceus ihn immer noch verwirrt und erwartungsvoll ansah, und er versuchte seine ausschweifenden Gedanken zu sortieren, obwohl es ihm schwer fiel. Letztendlich hatte er nur eine weitere Verbindung offen gelegt, und es gab nur zwei Dinge, die er sicher wusste: Erstens, dass er endlich herausfinden musste, wer dieser Spion war und ob er tatsächlich für die Rebellion sprach oder nicht. Und zweitens, dass er Tarn nicht einfach verzieh, egal ob er die Flucht freiwillig oder gezwungen sabotiert hatte.
Valion fühlte immer noch die selbe Wut, die bittere Enttäuschung. Tarn hätte ihm die Wahrheit sagen können. Was auch immer geschehen war, selbst wenn er selbst unter Druck gesetzt oder manipuliert worden war, sie hätten gemeinsam eine Lösung finden können. Stattdessen hatte er über seinen Kopf hinweg entschieden, was geschehen sollte, wie über ein Kind, als wüsste er am besten, was das Richtige war.
Unwillig schob er alles beiseite und sah Marceus an. „Tut mir Leid, ich habe nachgedacht. Und ein paar Dinge sind mir klar geworden.” „Anscheinend nichts Gutes”, sagte Marceus bedrückt, und Valion nickte. Er zögerte einen Moment, aber dann wurde ihm klar, dass er Marceus vertraute. Was auch geschehen war, Marceus hatte Tarn ebenfalls vertraut und war auch genauso betrogen worden. Er hatte eine Erklärung verdient, und er war vermutlich der Einzige, der Valions Gefühle ansatzweise nachvollziehen konnte.
„Der Spion, den du gesehen hast…”, setzte er an, „Ich kenne ihn. Er ist mir schon mehrmals über den Weg gelaufen, und er hat mich auch bedroht. Ich bin nicht sicher, aber es könnte sein, dass er nicht auf unserer Seite ist. Also auf meiner zumindest”, fügte er sicherheitshalber hinzu, aber davon wollte Marceus überhaupt nichts hören.
„Wenn er nicht auf deiner Seite ist, ist er auch nicht auf meiner”, sagte er grimmig, und Valion wusste im ersten Moment gar nicht, wie er mit der unerwarteten Loyalität umgehen sollte. Zum Glück musste er nichts sagen, weil Marceus ernst fort fuhr: „Wenn er tatsächlich etwas gegen dich hat, kann es wirklich sein, dass er deine Flucht sabotiert hat. Vielleicht machen er und Tarn gemeinsame Sache. Und ich habe ihnen auch noch geholfen, ich Vollidiot”, fluchte Marceus und ballte die Hände zu Fäusten, aber Valion schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, dass Marceus sich die Schuld dafür gab. „Du hättest es nicht ändern können, selbst wenn du gewusst hättest, was er vorhatte.” „Wir müssen in Zukunft aufpassen, wem wir trauen. Ich werde am besten mit Jefrem reden, wenn ich ihn irgendwie allein erwische.” Er schien Valions Gedanken zu erraten, weil er hinzufügte: „Tarn und Jefrem sind befreundet, ja, aber Jefrem hat seinen eigenen Kopf, und er mag dich. Wenn er spitz kriegt, dass du hereingelegt wurdest, und wer dafür verantwortlich ist, wird er den Teufel tun und das Tarn auf die Nase binden. Und wenn wir uns gegen die Rebellion stellen müssen, dann tun wir das eben. Jefrem war sowieso nie so begeistert von ihnen. Und Mischa, Viljo und Danilo sind auch noch da, und die halten zu uns. Am besten kommst du morgen einfach mit. Kurz vor Mittag wird es etwas ruhiger sein, und dann haben wir vielleicht eine Möglichkeit ungestört mit ihm zu reden.”
Valion hörte erstaunt zu, wie Marceus sein Vorhaben beschrieb, und ihm wurde klar, dass er ihn noch nicht wirklich kannte. Bei ihrem ersten Treffen war Marceus völlig ruhig, aber auch seltsam zurückhaltend gewesen, dann angespannt und nervös, als sie sich im Wald begegnet waren. Und gegenüber Jan hatte er eine beinahe feindselige Ader gezeigt. Doch jetzt war er voller Enthusiasmus, sprach und gestikulierte viel offener. Alles was er sagte schien immer noch wohl überlegt, und eine gewisse Ruhe wohnte allem inne was er tat, aber er wirkte auch viel zugänglicher, als Valion ihn bisher erlebt hatte. Als er geendet hatte blickte er erwartungsvoll, fast ungeduldig, und doch wartete er still ab, was Valion zu seinen Ideen sagen würde. Er war nicht nur ein guter Zuhörer, er war generell ein guter Gesprächspartner, und Valion musste lächeln. Wenn er sich vorher nicht sicher gewesen war, ob er Marceus wirklich mochte, jetzt war er es. Er hatte Glück gehabt, ihm zu begegnen, und er hätte sich in diesem Moment keinen besseren Freund wünschen können.
Aus einem Impuls heraus sagte er: „Ich bin froh, dass du da bist.”
Es waren nur schlichte Worte, hinter denen eigentlich viel mehr stand als Valion auszudrücken vermochte, aber Marceus schien dennoch auf Anhieb zu begreifen. Er war einen Moment erstaunt, doch dann lächelte er ebenfalls. „Ich auch”, sagte er, obwohl er nach einer kurzen Denkpause hinzufügte: „Mir wäre zwar lieber, wenn du nicht hier sein müsstest, wenn du jetzt gern woanders wärst, aber…” „Ich weiß”, antwortete Valion leichthin. Für einen Moment schwiegen sie in stummen Einverständnis, und Marceus schien in seinem Gesicht zu forschen, bevor er auf einmal fragte: „Du vermisst ihn, oder? Du hast es nicht gesagt, aber…”
Das war ein Schlag in die Magengrube, und obwohl Valion sich schlagartig elend fühlte und seine Gesichtszüge ihm entglitten, war er irgendwie froh. Er konnte nur wortlos nicken, nichts sagen, und er kämpfte mit den Tränen, und trotzdem war es in Ordnung.
In Sicherheit. Er war hier endlich in Sicherheit. Es gab keinen Eravier, vor dessen Wahnsinn er all seine Emotionen verstecken musste, und keinen Levin, der auf seine Schwäche lauerte, um ihn zu demütigen. Nicht einmal Verräter, die ihn in falscher Sicherheit wogen, um ihm in den Rücken zu fallen. Nur Marceus verständnisvollen Blick, und zumindest für diesen Moment gab er dem Schmerz nach.
Marceus ließ ihm Zeit, und auch das tat gut. Er war einfach da, wartete, beobachtete, immer bereit zuzuhören. „Du musst mich für eine ziemliche Heulsuse halten”, meinte Valion schließlich mit bitterem Humor, während er sich unwillig die Tränen aus den Augen wischte, aber er hätte Marceus nicht falscher einschätzen können.
„Blödsinn”, sagte er nur, fast etwas ärgerlich, und als Valion ihn immer noch zweifelnd ansah, fuhr er von selbst fort: „Niemand wird einfach so ein Sklave, Val. Was denkst du, wieviel ich in meiner ersten Woche geheult habe? Oder als sie mich gebrandmarkt haben? Oder vorher, als sie mich erst gar nicht haben wollten? Und ich war schon sechszehn. Also sag nicht sowas.”
Valion nickte dankbar, obwohl er sich Marceus in Tränen aufgelöst überhaupt nicht vorstellen konnte, er war schließlich so ruhig wie niemand sonst den er kannte. Was vermutlich bedeutete, dass es wirklich eine Tortur war, die er hier durch stand, wenn es selbst Marceus aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Dennoch stutzte Valion und wiederholte Marceus Worte in seinem Geiste, bis ihm einfiel, was ihn so irritiert hatte: „Was soll das heißen, sie wollten dich nicht haben?”
„Das ist eine ziemlich blöde Geschichte”, meinte Marceus, und jetzt sah er zum ersten Mal verlegen aus. Valion wollte schon ablenken, aber auch diesmal fuhr Marceus nach einem Moment Bedenkzeit wie von selbst fort: „Du weißt ja, dass ich mich selbst entschieden habe Sklave zu werden. Aber ich wollte eigentlich kein Arbeitssklave werden. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich mir damals vorgestellt habe, aber ich hatte auch noch nicht wirklich Ahnung, was das überhaupt beinhaltete. Na ja, letztendlich ist nicht viel daraus geworden, weil Eravier nur einen Blick auf mich geworfen und angewidert das Gesicht verzogen hat, aber im Nachhinein betrachtet war es vermutlich das Beste. So bin ich an Jefrem geraten, und das hat mir vermutlich einigen Ärger erspart.”
Valion hörte ihm ungläubig zu. Er musste einen ziemlich dämlichen Anblick bieten, weil Marceus tatsächlich schief grinste und fragte: „Was erstaunt dich jetzt daran so sehr?”
Alles, dachte Valion, aber das erste was ihm in den Sinn kam war das, was aus ihm heraus platzte: „Warum angewidert? Was hat ihm nicht gefallen?”
Er konnte beim besten Willen keinen Makel an Marceus finden, selbst wenn er sich bemühte. Er war groß und kräftig, hatte ebenmäßige braune Haut, und sein kräftiges gelocktes Haar war genauso schön wie seine dunklen Augen.
Marceus zuckte mit den Schultern und lachte nervös. „Warte, vielleicht bekomme ich es noch zusammen. Schlammfarbene Haut, stumpfe Augenfarbe, zu große Nase? Ich war ziemlich wütend, als er sofort abgelehnt hat, und als Antwort darauf er hat mich fein säuberlich auseinander genommen und mir vielleicht drei Dutzend Makel aufgezählt, die mich völlig unverkäuflich machen. Es war verdammt demütigend. Dann hat er mir geraten, es auf der Straße zu versuchen.” Er betrachtete Valions Gesichtsausdruck und lachte. „Du bist jetzt stellvertretend für mich wütend, oder?”
Damit hatte er allerdings Recht, und obwohl es eigentlich lächerlich war, weckten Eraviers Worte, selbst Jahre später nacherzählt, in Valion die selbe Wut und den Ekel, als hätte er all seine Schmähungen vor seinen Augen Marceus ins Gesicht gesagt.
Er konnte sich gut vorstellen, auf welche Art, mit welchem taxierenden Blick Eravier jeden Makel aufzählte, egal wie an den Haaren herbei gezogen oder oberflächlich er sein mochte. Er hatte diesen Blick selbst schon zu spüren bekommen, und im Grunde verdankte er es nur seinem Aussehen, dass er jetzt hier festsaß. Er hatte nichts verbrochen, nichts getan außer mit einem Gesicht geboren zu werden, das Eravier nach seinen eigenen kranken Maßstäben zusagte. Er fühlte Wut, und auch das fühlte sich gut an - offen wütend zu sein, seinen Zorn nicht zurück zu halten, selbst wenn es im Grunde nur eine von vielen Ungerechtigkeiten war.
„Was weiß er schon?”, fragte Valion wütend und ließ sich auch nicht davon abhalten, dass Marceus den Vorfall anscheinend schon lange abgeschrieben hatte und mit wesentlich mehr Gelassenheit betrachtete. „Was bildet er sich ein, wer er ist? Wie will er das beurteilen?” Marceus zuckte mit den Schultern, immer noch leise lächelnd. „Na ja, er ist immerhin Menschenhändler. Wenn er so viele Menschen sieht, vielleicht weiß er dann am besten, was schön ist und was nicht?” „Und mit diesem tiefgreifenden Wissen hat er ausgerechnet mich entführt? Schwachsinn!”, sagte Valion immer noch aufgebracht und schüttelte den Kopf. „Ich meine, schau mich an - gibt es irgendetwas Besonderes an mir?”
Es war eigentlich nur eine rhetorische Frage, aber Marceus legte den Kopf schief und betrachtete ihn eingehend, bevor er mit todernster Stimme sagte: „Abgesehen davon, dass du wie ein Mädchen aussiehst?”
Valion starrte ihn perplex an. Das wäre fast eine freundschaftliche Beleidigung auf Jans Niveau gewesen, nur, dass er hier nicht Jan vor sich hatte und Marceus es so ernst vorgetragen hatte, als würde er eine Tatsache beschreiben. Trotzdem zuckte sein Mundwinkel für einen Moment nach oben. „He, das klappt sogar. Du lachst”, stellte Marceus mit einem Lächeln fest. „Ich dachte mir, ich versuche es mal auf Jans Art”, beeilte er sich zu erklären, als Valion ihn weiterhin ansah, als sei er verrückt geworden, und plötzlich schien er überzeugt, alles falsch gemacht zu haben, weil er zu stammeln begann: „I-ich meine, er hat er dich, na ja, zum Lachen gebracht und ich dachte- also, vielleicht willst du aufgeheitert werden?”
„Du weißt schon, dass man Witze eigentlich nicht erklärt?”, fragte Valion immer noch perplex, weil er gar nicht wusste, was er sonst sagen sollte, und Marceus seufzte frustriert. „Ich weiß, ich kann das nicht so gut! Was denkst du, womit mich die anderen immer aufziehen? War es denn wirklich so schlimm?”, fragte er genervt, und Valion musste grinsen. „Furchtbar!”, bestätigte er, und Marceus grummelte beleidigt: „Ach sei still!”, aber er musste jetzt ebenfalls lachen, und Valion dachte gar nicht daran, aufzuhören. „Im Grunde war es das Gegenteil von einem Witz, was auch immer das ist.” „Ja, schon gut!” „Ich hätte ja gern gesagt, es wäre eine gute Beleidigung, aber das war es auch nicht. Au!” „Wirst du wohl endlich still sein?”, fragte Marceus, der nach seinem Kopfkissen gegriffen hatte, um ihn zu schlagen, und er grinste jetzt noch breiter. „Gib das zurück, das ist meins!”, befahl Valion und griff danach.
Sie zerrten beide daran, und plötzlich balgten sie sich auf dem Boden, als wären sie wieder elf Jahre alt. Marceus hielt sich zuerst noch zurück, aber Valion war es gewohnt gegen eine gnadenlose, niederträchtige Neunjährige zu kämpfen, und er machte keine Gefangenen. Gleich als erstes griff er nach Marceus und versuchte ihm den Arm auf den Rücken zu drehen, nur dass er dem reflexartig auswich und stattdessen wieder mit dem Kissen zu schlug, und von da an wurde es ein unkontrolliertes Handgemenge. Alles wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass sie im Halbdunkel kaum etwas sahen und kaum Atem schöpfen konnte, weil sie wie verrückt lachten. Es war ein guter Kampf, und für eine Weile entschied Valion die Schlacht um das Kissen für sich, weil er erstaunlich kräftig zu treten und Marceus genau wie Arinda damit passabel auf Abstand halten konnte, aber als seine Beine müde wurden hatte er diesen Vorteil verspielt, und Marceus war im Gegensatz zu einem kleinen Mädchen ein beeindruckender Meister des Scheinangriffs. Während eines ausgeklügelten Frontalangriffs brachte er das Kissen in seinen Besitz.
Es war noch kein Sieger in Aussicht, als Marceus schließlich doch die Waffen streckte, los ließ und rief: „Gnade! Schon gut! Kannst es haben!” Er ließ sich einfach umfallen, und Valion grinste zufrieden. „Da siehst du’s, leg dich nicht mir an”, prustete er und tat es ihm dann gleich.
Schwer atmend lagen sie nebeneinander auf dem Rücken, während Valion sein wieder errungenes Kissen einen Moment betrachtete und dann von sich warf. Marceus lachte immer noch erstickt in sich hinein, bis er sagte: „Ich gebe es nicht gern zu, aber irgendwie hatte Jefrem doch Recht.” „Hm?”, fragte Valion angenehm erschöpft und pustete sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. „Er hat immer gesagt, dass ich mir Freunde in meinem Alter suchen sollte. Lag mir ständig damit in den Ohren, bis er es aufgegeben hat. Aber vielleicht hat er ja Recht, und ich habe was verpasst. So etwas wie das eben.” Er lachte leise, als er sagte: „Vielleicht könnte ich dann heute bessere Witze erzählen”, und Valion lachte und stöhnte danach, weil alle seine Bauchmuskeln protestierend ächzten. „Hör auf, ich kann nicht mehr”, sagte er gequält, aber gleichzeitig fühlte er sich so wohl wie lange nicht mehr.
Er hatte sich gefühlt, als hätte er die ganze Zeit die Luft angehalten, bis seine Lungen brannten und sein Herzschlag in seinen Ohren dröhnte. Jetzt, da es vorbei war, wurde ihm bewusst, wie viel Angst er gehabt hatte. Er war unter Wasser gewesen, unfähig zu atmen, panisch, ohne zu wissen, wo die Oberfläche war und wo der Grund. Es war noch nicht vorbei, aber zumindest für diesen Moment konnte er den angehaltenen Atem entweichen lassen.
Valion drehte sich erschöpft auf die Seite, hin zu Marceus, und der tat es ihm gleich. Sie sahen sich lange nur schweigend an.
Es gab keinen Moment, den Valion benennen konnte, an dem sich alles änderte. Vielleicht änderte sich auch gar nichts. Er spürte nur tiefe Vertrautheit. Es gab keine Fragen, keine Unsicherheit, sie waren nur nah beieinander. Freunde.
Aber es gab noch mehr als das, ein Hauch von dem, was Valion gespürt hatte, als sie sich im Wald umarmt hatten. Das, was Jan so eifersüchtig gemacht hatte, obwohl es im Grunde fundamental anders war. Hätte Valion es beschreiben müssen, er hätte nicht von Liebe gesprochen. Gab es Freundschaft, die ihre Wurzeln tiefer streckte als nur bis unter die Haut? Die das Herz nicht traf, sondern nur umschloss? Weil es das war, was Valion fühlte. So nah bei Marceus, allein, unbeobachtet, ließ er das Gefühl zu, gab ihm Raum, und es kribbelte in seinen Fingerspitzen. Und er spürte es nicht allein. Sie konnten es im Gesicht des jeweils anderen lesen.
„Was denkst du?”, fragte Valion. Er wusste nicht, was er hoffen oder sich wünschen sollte. Dass seine Gefühle verschwanden, wenn er nicht daran dachte? Oder dass sie blieben und er erfuhr, was sie bedeuteten? „Ich weiß nicht”, sagte Marceus. Er schien genau so unentschlossen wie er, und wie immer sagte er nichts, das er nicht durchdacht hatte. „Ich bin gern bei dir. Ich bin gern dein Freund. Aber… das ist nicht alles, oder?”, fragte er schließlich.
Es war als würden sie sich ihre Gedanken teilen, und gleichzeitig scheuten sie beide davor zurück, sie auszusprechen. „Nein”, antwortete Valion, und Marceus atmete seufzend aus. „Was machen wir daraus?”, fragte er, und Valion konnte nur mit den Schultern zucken. „Vielleicht geht es vorbei?”, schlug er stattdessen vor, und Marceus konnte nur mit dem Kopf schütteln. „Ich fürchte es hat noch nicht mal richtig angefangen.”
Er küsste Valion.
Es war ganz anders als mit Jan, nicht stürmisch oder aufpeitschend, sondern beruhigend, vertraut. Keine Fragen wohin, wo es anfing und ob es enden würde. Es dauerte an, so lange es dauerte. Keine Liebe, nur Freundschaft. Richtig und doch falsch.
„Valion, ich muss mit dir-”
Sie fuhren auseinander wie zwei ertappte Verbrecher. Anya, die ohne Bedenken oder Taktgefühl herein gestürmt gekommen war und übergangslos mit ihrem Satz begonnen hatte, starrte sie an, und sie starrten wie gelähmt zurück. Sie erfasste die Situation, oder das, was sie für die Situation hielt schneller als sie, und ihr Mundwinkel zuckte verräterisch nach oben.
Das wird sogar einfacher als gedacht.