„Es könnte auch wesentlich schlimmer sein“, sagte Krschik. Niemand gab eine Antwort, außer der Borgo, der dumpf seufzte.
Das war natürlich eine abenteuerliche Lüge. Es hätte nur dann wesentlich schlimmer sein können, wenn der Schneesturm noch heftiger geworden wäre. Das wurde er gerade. Im Laufe des Nachmittags hatte sich die dicken, ekelhaft märchenhaften Flocken zu winzigen weißen Eissplittern verwandelt. Jetzt peitschten sie den zwei Wanderern immer heftiger ins Gesicht. Über ihnen schien sich ein ungeheures Unwetter zu ballen. Immer wieder zuckten Blitze aus den großen, schieferfarbenen Wolken am Himmel.
Dem dunklen Meister hätte so bösartiges Wetter sicher gefallen, aber nun war er leider tot. Er hatte unklugerweise nicht nachgeprüft, ob sein größter Widersacher den Boden der Speergrube tatsächlich auf die vorgesehene Art erreicht hatte. Dann hatte er sich dummerweise auch noch im falschen Moment umgedreht. Es stellte sich heraus, dass böse Zauberer gewisse Probleme mit Schwertern hatten. Zum Beispiel das nicht unerhebliche Problem, dass sie davon durchbohrt werden konnten.
Auf der anderen Seite war er sowieso nicht der ausgekochte Stratege gewesen, für den er sich gehalten hatte. Aber wer konnte schon unter Zeitdruck eine gewaltige Armee der Finsternis aufstellen, ein mächtiges Artefakt finden, einen lästigen Helden bei Laune halten und gleichzeitig die Hochzeit mit einer entführten Prinzessin planen? Bei so viel Stress blieb meistens die eigene Gesundheit auf der Strecke.
Nun, im Fall des dunklen Meisters ganz besonders, dachte Krschik und schnäuzte sich die lange, laufende Nase im Fellärmel. Ein durchbohrtes Herz und ein abgetrennter Kopf waren an mangelnden Gesundheitsaspekten schwerlich zu überbieten.
„Was hältst du von alledem, Borgo?“
Krschik rechnete nicht mit einer Antwort. Borgos waren nicht sehr redegewandt, selbst nach Goblinstandards. Wenn es um einfache Aufgaben ging, beispielsweise einen Menschen mit der bloßen Faust zu einem sehr flachen Schnitzel zu zerklopfen, konnte man sich auf Borgos verlassen. Sie waren große, massige Sumpfbiester mit schuppiger Haut, breiten Kiefern und kleinen Äuglein, die immer ein wenig verwundert blickten. Es hieß, dass sie sich in ihrer Heimat von Alligatoren und Sumpfschlamm ernährten. Sie sprachen wenig, und wenn, dann sagten sie selten mehr als ein paar Worte. Die meisten seufzten nur dumpf. Borgos schwiegen sich selbst über ihre Namen aus, und deshalb gab sich auch niemand die Mühe, sie herauszufinden. Alle waren Borgo und alle hießen Borgo.
Krschik stolperte im Schnee über eine Wurzel und fluchte. Verdammtes Unwetter! Verdammte Helden! Verdammte Flucht aus dem dunklen Palast! Krschik war begnadigt worden, eine absolute Unverschämtheit! Man begnadigte nicht die rechte Hand des gefürchteten Widersachers! Und jetzt stapften sie zu zweit durch die winterlich verschneiten Ebenen der Schrecken, auf dem Heimweg ins Land der Goblins. Warum der Borgo mitgekommen war, blieb rätselhaft. Krschik hatte ihm einige Stöße gegeben und ihm befohlen zu verschwinden, aber Borgo hörte nicht darauf.
„Warum bist du mir eigentlich gefolgt, hä?“
Keine Antwort. Krschik verlor die Geduld. „Es ist hoffnungslos, oder? Ich kann dir Fragen stellen, bis mir Eiszapfen an der Nase wachsen... oh warte...“ Es entstand ein leise klirrendes Geräusch, das implizierte, dass ein Eiszapfen von einer sehr kalten Nase abbrach. „...du verstehst mich ja sowieso nicht! Ich könnte auch mit einer Portion Hüttenkäse diskutieren!“
Für einen Moment herrschte Stille, nur erfüllt vom immer lauter werdenden Geheul des Windes und dem Prasseln des Schnees.
Dann fragte Borgo: „Käse in Hütte?“
Krschik keuchte überrascht und hätte sich beinahe an einer besonders großen Schneeflocke verschluckt.
„Du redest ja doch!“
Es gab eine lange Pause.
„Ja“, sagte Borgo. Wieder Pause. „Borgo weit in qoarorouam nachdenkt.“
„Was zum Teufel ist ein qua- ... ein quoaru- ... was auch immer?!“
„Ist... vorwärts?“
Krschik überlegte einen Moment und fragte dann: „Das heißt, du brauchst einfach lange zum Antworten?“
Mindestens zehn Sekunden verstrichen. „Ja.“
Krschik nickte - das erklärte einiges. Wenn ein Gesprächspartner, statt eine Antwort abzuwarten und gedanklich bis zehn zu zählen, einem Borgo einfach ins Wort fiel, war es wohl schwer, eine Unterhaltung aufrecht zu erhalten.
Ein fliegender, vereister Ast traf Krschiks Ohr und machte weitere Forschung über die Kommunikationsfähigkeit der Borgos schlagartig unattraktiv. Über ihnen braute sich ein immer stärker werdender Wintersturm zusammen, und es war weit und breit kein Unterschlupf in Sicht.
„Ich würde gerne hier stehen und mich weiter unterhalten, aber wir müssen einen Ort finden, an dem wir vor diesem schrecklichen Sturm sicher sind.“
Borgo nickte langsam, ein Vorgang, der nur mit einem Kontinentaldrift verglichen werden konnte. „Höhle.“
„Ja, eine Höhle wäre jetzt nett.“
Borgo hob seinen kurzen, dicken Arm, der vage an einen Baumstamm erinnerte, und wies in eine Richtung.
„Heißt das, du weißt, wo hier eine ist?“
Krschik wartete, starrte geduldig in das wirbelnde Chaos aus Flocken und meinte, irgendwo in den Sturmböen ein Eichhörnchen vorbei fliegen zu sehen, das ganz bestimmt kein Flughörnchen war. Zur Belohnung gab es eine Antwort.
„Ja.“
Die Höhle gab es wirklich, doch leider war es nicht die Art von trockener Höhle, die von freundlichen, leuchtenden Schimmerpilzen bewachsen wurde. Stattdessen war es eine große, dunkle Grotte, ein feuchtes Loch, in dem man schon nach ein paar Metern jegliche Orientierung verlor. Dafür gab es Schimmelpilze. Es war ja nur ein Buchstabe.
Borgo und Krschik, inzwischen völlig mit Eis und Schnee bedeckt und damit einem Eismonster ähnlicher als einem Goblin und einem Borgo, schüttelten sich beide erst einmal kräftig. Dann machten sie Feuer. Dazu verwendeten sie die Äste, die Krschik auf dem Weg mitgenommen hatte, und einen Baumstamm, den Borgo umgeworfen und dann, als wäre es nur ein Zahnstocher, in vier Teile zerbrochen hatte. Draußen heulte und tobte der winterliche Sturm und färbte die ganze Welt weiß, während die zwei ungleichen Gefährten drinnen, im Schutz der tropfenden Wände, langsam auftauten.
„Nicht so Wetter in Brqouamoman“, brummte Borgo, der immer redseliger zu werden schien.
„Was ist Br- … Brquo- … verflixt, ich hatte es fast! Brqouamoman?“, fragte Krschik irritiert.
„Brqouamoman ist ... wo Existenz wir erblühen?“
„Sehr poetisch. Du meinst, ihr wurdet da geboren? Ich hörte, ihr lebt in Sümpfen.“
Borgo nickte vage.
„Geboren“, wiederholte er, als wollte er sich das Wort einprägen. Anscheinend hatten die Borgos nicht nur ein Problem mit dem langsamen Denken, sondern auch mit der allgemeinen dunklen Sprache. Das konnte man ihnen allerdings nicht verübeln, denn die dunkle Sprache litt an schwerem Konsonantendurchfall.
„Und warum habt ihr euch dem Meister angeschlossen? Ihr seid ja bestimmt nicht eines Morgens aufgewacht und dachtet: He, ein Krieg gegen die Menschen! Das wär‘s!“
„Nein. Menschen ... nehmen ...“
„Nehmen was?“
„Nehmen Brqouamoman. In Glut der Flammen.“
„Oh.“ Krschik fröstelte. Das war so typisch für die Menschen. Sie sahen ein großes, grünes Schuppenbiest, und die erste Idee, die in ihrem bedauerlich kleinen Schädel auftauchte, war: Lasst es uns mit Feuer zu töten!
Und überlasse es den Goblins, in jedes Fettnäpfchen zu treten! Es hatte etwas mit der langen Nase und den tapsigen Füßen zu tun, mutmaßte Krschik und versuchte, nicht in peinliches Schweigen zu verfallen.
„Ich, ich dachte immer- der dunkle Meister- ich meine, er hat gesagt- Weißt du was, wir sollten etwas schlafen. Legen wir uns hin.“
Sie versuchten, so gut es ging, zu schlafen. Aber der Sturm wütete und lärmte und ließ ihnen keine Ruhe. Irgendwann gab Krschik auf, öffnete die gelben Kulleraugen wieder und sagte leise zu Borgo: „Es tut mir Leid wegen deinem... Brq-... Brqouamu-... ich meine, deine Heimat.“
Borgo, der die krustigen Augenlider jetzt ebenfalls wieder aufschlug, nickte ernst.
„Mir Leid, dass Meister gegangen in ... Brimaroruam. Fernes Fern-... sein.“
Krschik setzte sich ein wenig auf.
„Dass er ermordet wurde? Na ja, ist gefährlich, ein dunkler Meister zu sein, nicht wahr? Wir wussten ja, dass das passieren könnte. Mal gewinnt man, mal verliert man.“
Die Pause, die Borgo jetzt einlegte, war selbst für einen Borgo ungewöhnlich lang.
Dann sagte er langsam: „Du ihn ... gehabt in ... Kammer von Herz. Ich gehe bei dir ... helfen muorum.“
Krschik hätte es vorgezogen, wenn Borgo ihr einfach eine Pranke auf den Schädel gehauen hätte. Es hätte weniger weh getan als das. Tränen sammelten sich in ihren Augen, und sie schnaubte wütend. Goblins sahen nicht so hübsch aus wie Menschen, wenn sie weinten, dafür lief die Nase einfach zu sehr.
„Dummer Borgo!“, fluchte sie und trat Glut nach ihm, „Was weiß ein dummer Borgo schon?! Red nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst!“
„Aber ... du ist muorum“, wandte Borgo sanft ein, unbeeindruckt von ihrer Wut.
„Ja, aber du weißt gar nicht, wieso! Er war mein Bruder, verstanden?! Wir, wir haben das alles zusammen geplant, uns die ganze Mühe gemacht, alles umsonst! Weil die Menschen uns quälen und von uns stehlen und immer wieder bei uns auftauchen und alles kaputt schlagen, aus Langeweile! Weißt du, wie er zu uns kam?! Sie haben ihn als Waisenkind zu uns geschickt, damit wir ihn fressen! Fressen! Als würde ich meinen Bruder fressen, oder den langen Trostakrek oder Kramkrik! Alle, die sie loswerden wollten, die haben sie bei uns abgeladen! Und dann sehen sie die Menschen unter den ganzen Leichen und sagen: Oh, den haben sie bestimmt gefoltert! So was denken sie von uns!“
Borgo nickte langsam und fragte dann: „Ihr muorum mit Wasser?“
Krschik schniefte und beruhigte sich ein wenig.
„Bedeutet muorum Kummer? … Ja, so machen wir das. Weint ihr denn nicht?“
Borgo schüttelte den Kopf. „Borgramarumo ... ihr sagen Borgo, aber ist geschrieben von Hand von Herrlichkeit, wir Borgramarumo. Wir tief Hauch... Luft … atmen. So.“ Er ließ ein langes, dumpfes Seufzen ertönen.
Krschik sah ihn ungläubig an. „Aber Borgos seufzen die ganze Zeit über, ich kenne keinen Borgo der nicht... der nicht...!“
Das war wirklich nicht fair. Eine Menschenfrau hätte jetzt bezaubernd kristallklare Tränen geweint, und bestimmt wäre ein Einhorn zum Trost aufgetaucht, oder ein verdammter Schwarm Tauben. Das wäre tragisch und herzzerreißend gewesen. Ganz anders als eine kleine Goblinfrau mit zu großen Füßen, die wie ein Schlosshund heulte, weil es so traurig war. Weil niemand wusste, dass die Borgramarumo einen richtigen Namen hatten. Oder dass sie so oft Kummer spürten und niemand sie je gefragt hatte, was sie bedrückte.
Borgo legte seine große Pranke, unbeeindruckt vom Feuer, das zwischen ihnen prasselte, auf Krschiks dürre Schulter und sagte freundlich: „Ich muorum kennt. Folge Krschik. Braucht Freund. Menschen werden Urgramoturu wenn Krschik List und Borgo platt klopfen alle.“
Krschik nickte und schniefte.
„Das ist ein guter Plan Borgo. Sie werden so Urgramoturu, dass es ihnen aus den Ohren wieder raus kommt.“ Bei diesem Gedanken musste sie ein bisschen lächeln. Wenn Goblins lächelten, sahen sie angeblich gemein und verschlagen aus. Aber man konnte davon ausgehen, dass das die Art von Gerücht war, die nur von Menschen gestreut wurde.
Über einige Stunden hinweg flaute schließlich der Sturm zu einigen übellaunigen Windstößen ab. Krschik hatte Borgo viel erzählt vom dunklen Meister. Zum Beispiel, wie er zu seiner magischen Macht gekommen war, was er gern gegessen hatte und wie er einmal mit sechs Jahren rittlings in eine Pfütze gefallen war. Borgo hörte allem mit der gleichen Ruhe und Faszination zu. Doch nun sah es so aus, als könnten sie endlich weiterziehen. Bis zum Sonnenuntergang blieb ihnen noch die eine oder andere Stunde, die sie nutzen konnten, um dem Land der Goblins etwas näher zu kommen.
„Es ist noch ein gutes Stück bis nach Hause“, erklärte Krschik und trat die Feuerstelle auseinander. „Aber wenn wir Glück haben, kommen wir heute noch in das Krabbukaraktal. Da wohnt meine Tante.“
Borgo nickte.
„Gehen Goblin Heimat. Noch muorum?“
Krschik seufzte und schüttelte den Kopf.
„Schon gut, ich bin nicht traurig. Oder nur ein bisschen. Aber es wird schon gehen. Vielleicht treffen wir auf dem Weg ein paar Bekannte. Einige konnten bestimmt fliehen. Und dann? Mal sehen. Vielleicht lassen uns die Menschen im Moment sogar in Ruhe. So sind sie, weißt du? Wenn sie einen Sieg über »Das Böse« errungen haben, dann feiern sie und saufen ein paar Monate aus Freude, bis ihnen langweilig wird. Und dann kommen sie wieder.“
„Wir machen Urgramoturu", erklärte Borgo ruhig und reichte Krschik die Pranke. Zusammen traten sie aus den schützenden Schatten der Höhle zurück in die Eiseskälte des stürmischen Winters. Jetzt, wo sie zu zweit waren, wer wusste da schon, ob man nicht mit etwas List und etwas platt klopfen das eine oder andere bewerkstelligen konnte.
Nach einer Weile fragte Borgo: „Aber... wieso Käse in Hütte?“