Nur ruhig musste man sein, so hatte es ihre Großmutter ihr immer erklärt. Ruhig, aber bestimmt. Die Tiere würden das merken. Ob Bienen überhaupt etwas denken oder fühlen konnten, wagte Agnes zu bezweifeln. Was sie aber sicher wusste war, dass sie es ganz bestimmt merken würde, wenn den Bienen etwas nicht passte. Ihre Großmutter konnte darüber nur lachen, zwang sie jedoch nicht näher als nötig an die Bienenstöcke zu gehen.
Es gehörte zu Agnes’ Lebensinhalt ihrer Großmutter zuzusehen, wie sie die Holzkasten auseinander baute, mit unglaublichen Fingergeschick die kleinen wuselnden Tiere beiseite schob und den wertvollen Honig erntete. Ihr war es unverständlich wie ihre Großmutter ohne auch nur ein Netz vor das Gesicht zu nehmen einen Stock nach dem anderen bearbeiteten.
Ab und zu schielte sie hinüber zu ihrem kleinen Bruder, ein vorlauter Junge, der den lieben langen Tag nichts weiter tat als den Hühnern nachzujagen. Ihn interessierten die Bienen überhaupt nicht. Alles, was für ihn zählte, war das nächste Abenteuer. Agnes hingegen war ständig besorgt, dass ihm etwas zustoßen könnte. Nicht um seinetwillen. Wenn es nach ihr ging, konnte er sich gerne jeden Tag eine blutige Nase beim Nachbarsjungen einfangen. Allerdings würde Vater dann seine Wut an ihr auslassen, sie beschuldigen, weshalb sie nicht besser auf ihn aufgepasst habe, daher war es besser ihren kleinen Bruder nie aus den Augen zu lassen. Denn eine blutige Nase für Felix bedeutete den Gürtel für Agnes.
"Agnes, bring den Eimer bitte zur Schleuder."
Ihr Stichwort. "Ja, Großmutter." Sie wandte sich von Felix ab und erhob sich aus dem Gras. Es war Hochsommer und die trockenen Halme kitzelten ihre Knöchel bei jedem Schritt. Sie beeilt sich den Eimer zu holen und widerstand dem Drang nach einzelnen Bienen zu schlagen, die um den Inhalt des Eimers schwirrten. Um wenigsten ein bisschen nützlich zu sein, begann sie bereits damit die von ihrer Großmutter vorbereiteten Rahmen in die Schleuder zu spannen, die in ihrem offenen Schuppen stand.
“Setz doch auch bitte schon den Kessel auf, Liebes.”
“Ja, Großmutter.”
Nicht, dass es viel aufzusetzen gäbe. Der riesige Kessel war derart schwer, dass er ständig auf der Feuerstelle stand. Alles, was sie machen musste, war das Feuer schüren, damit es richtig heiß wurde.
“Agnes, komm spielen.”
“Geh weg, Felix”, sagte sie grob ohne ihren Bruder anzuschauen. Natürlich wollte sie lieber spielen, aber es wurde von ihr erwartet, ihrer Großmutter zu helfen. Von Felix wurde nichts erwartet.
“Du bist so langweilig.” Ehe sie etwas erwidern konnte, war er schon wieder verschwunden und hat sich einen Stock gesucht, mit dem er nun herumfuchtelte, als wäre er zu großes Schwert.
Agnes wartete, bis die Flammen hoch genug schlugen und setzte dann das Wasser auf. Ihre Großmutter war mittlerweile dazu übergegangen die Schleuder zu bedienen. Trotz ihres Alters und ihrer zierlichen Gestalt, schaffte sie es die schwere Trommel mit ihrem ganzen Körpereinsatz rasend schnell sich drehen zu lassen, sodass die kleinen Zuckerfäden anfingen zu fliegen. Agnes hatte sich in der Vergangenheit an der Schleuder versucht, sie aber noch nicht einmal dazu bekommen, sich zu bewegen.
“Alles eine Frage der Technik”, hatte ihre Großmutter lachend gesagt.
Im Moment war sie zufrieden mit dem Feuer und auch das bisschen Wasser im Kessel hatte schon begonnen kräftig zu sieden. “Fertig, soll ich die Waben reinlegen?”
Konzentriert auf ihre Aufgabe, gab ihre Großmutter ihr nur ein knappes Grunzen zur Antwort, was Agnes als ein Ja verstand. Agnes knotete den unteren Saum ihres Kleides zusammen, sodass es nicht zu sehr bei jeder Bewegung flatterte und beeilte sich, die Waben der gestrigen Ernte zu holen. Diese waren mittlerweile gut durchgeweicht. Ohne sie zu zerteilen, legte sie sie in den Kessel. Dabei war sie sehr vorsichtig, da ihr einmal heiße, halb geschmolzenen Wachsbrocken entgegengeflogen waren.
Plötzlich kam Felix wortlos zu ihnen zurück gerannt und blieb in der Nähe ihrer Großmutter stehen. Diese bekam kaum etwas mit, doch Agnes beobachtete ihren Bruder skeptisch. Als eine Gestalt hinter der dunklen Holzwand ihres Schuppen erschien, verzog sie ahnen das Gesicht.
“Ich soll Honig holen”, posaunte Thomas, der Nachbarsjunge, mit gebrochener Stimme. Er war drei Jahre älter als Agnes, und mindestens zwei Köpfe größer, doch sein Stimmbruch und das gelegentliche Krakelen, das er nicht kontrollieren konnte, nahm ihm etwas von seiner bedrohlichen Erscheinung.
“Noch nicht fertig.” Agnes deutete knapp zu ihrer Großmutter, die noch immer die Trommel bediente.
Thomas zuckte mit den Schultern. “Dann warte ich eben.” Er schielte zu Felix, der völlig stumm neben seiner Großmutter stand. “Hey, Knirps.” Sein schelmisches Lächeln ließ Agnes nur skeptisch die Augen heben.
“Dann benimm dich.”
“Wann benehme ich mich denn nicht?” Mit wenigen Schritten war er am Kessel, den er weit überragte, und spickte hinein. “Das sieht widerlich aus.”
“Geschmolzenes Wachs sieht nunmal so aus.”
“Das will doch keiner haben.”
“Du hast erst letzte Woche Kerzen abgeholt, oder? Da war dir das Wachs recht.”
“Das sah auch anders aus.”
“Das wird ja auch noch gesäubert!”, gab Felix plötzlich bei, glücklich darüber etwas zu wissen, und erntete prompt einen Seitenblick von Thomas.
“Mir gefällt dein Ton nicht, Knirps.”
“Mir gefällt deine Arroganz nicht. Sei still oder komm später wieder.”
Er machte eine weit ausholdene Bewegung, die Felix zusammen zucken ließ. Doch letztendlich machte er eine spielerisch übertriebene Verbeugung. “Sehr wohl, werte Dame.” Mit einem letzten Blick auf Felix, verschwand er.
Zusammen mit ihrer Mutter saß Agnes in der Waschküche. Dort hatten sie sich hineingeflüchtet, als ein stürmisches Gewitter aufgezogen war. In den Bergen war das Wetter stets unberechenbar. Gerade noch hatten sie unter strahlendem Sonnenschein ihre Kerzen gedreht, als der Wind aufkam und ihnen die kleinen Bröckchen geradezu aus den Händen flogen.
“Hoffentlich geht es Felix gut”, meinte ihre Mutter mit Blick aus dem Fenster, wo das Wasser in kleinen Fluten entlang glitt.
“Der kommt schon heil nach Hause.” Agnes ließ sich nicht aus der Konzentration bringen und fügte Stück für Stück Wachs an den Doch in ihrer Hand. “Das bisschen Wasser.”
Ihre Mutter hatte derweil ihre Arbeit niedergelegt und starrte weiterhin aus dem Fenster. “Agnes, meinst du, wir sollten ihn suchen gehen?”
“Bei dem Wetter geh ich nicht raus.”
“Eben meintest du noch, es sei nur Wasser?”
Agnes legte schwer seufzend ihre halb fertige Kerze nieder. “Es ist nicht meine Aufgabe ständig nach Felix zu sehen.”
Sie sah ihrer Mutter an, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, doch ehe Agnes die Konsequenzen zu spüren bekam, schlug ihnen strenger Wind und feiner Sprühregen durch die offene Tür entgegen.
“Felix!”, rief ihre Mutter bestürzt und rannte zur Tür, wo Felix, gerade noch gehoben vom Nachbarsjungen Thomas, regelrecht in den Raum hinein fiel. Auch Agnes sah die beiden erschrocken an.
“Hallo Frau Gruber”, meinte Thomas leicht außer Atem. Agnes’ Mutter reagierte nicht auf Thomas, sondern begutachtete ihren halb bewusstlosen und völlig vom Regen durchtränkten Sohn. Thomas sah nur wenig besser aus.
Agnes hätte ebenfalls besorgt sein sollen, doch sie spürte nichts beim Anblick ihres Bruders. Stattdessen drehte sie ihre Kerze in der Hand, um sie weiter zu formen, und hielt Thomas’ Blick. “Zu viel getrunken?”
“Der da schon”, sagte er mit kurzem Kopfnicken Richtung Felix, der nun vor sich hin blabberte. Agnes schüttelte verständnislos den Kopf.
“Taugenichts.” Ihr Bruder war ein gern gesehener Gast in der nahegelegenen Kneipe geworden. Dank seiner Hitzköpfigkeit konnte kaum ein Arbeitgeber lange mit ihm aushalten. Dank seiner vorlauten Schnauze hätte ihm der Hufschmied beinahe den Kopf mit dem Hammer eingeschlagen. Seine Langeweile wandelte er nun in Alkohol um.
Thomas schüttelte seine nassen Haare aus, was Agnes nur angewidert die Hand heben ließ. “Dieses Mal hatte er einen guten Grund zum Trinken”, meinte er schwach lächelnd. “Wir werden eingezogen.”
Stille machte sich in der Küche breit. Sogar der draußen tobende Sturm schien dumpfer zu sein, als noch vor wenigen Minuten.
Ihre Mutter war die erste, die die Stille mit einem verzweifelten Schrei durchbrach. “Nein! Nicht mein Junge, nicht mein Junge!”
Agnes schluckte schwer und starrte unentwegt auf Thomas, der weiterhin seine Kleidung ungeniert in ihrer Küche auswrang. Der Krieg tobte seit einem Jahr und fraß sich schneller durch die Bevölkerung, als jede Krankheit. Wer eingezogen wurde, kam nicht wieder. Agnes versuchte sich einen Hof ohne Felix vorzustellen und musste sich eingestehen, wenn auch mit schlechtem Gewissen, dass es für sie keinen Unterschied machte, ob Felix da war, oder nicht.
“Wirst du mich verabschieden?”, fragte Thomas plötzlich. Seine Mutter hielt Felix wie ein wiegendes Kind. Sie war alleine mit ihrer Trauer.
“Verabschieden? Wieso sollte ich?”
Thomas starrte sie lange an und wandte sich dann an Agnes’ Mutter. “Tut mir leid, Frau Gruber. Ich verabschiede mich. Die Kerzen werde ich nächste Woche nicht mehr abholen kommen.”
Ohne einen letzten Blick auf Agnes zu werfen, verschwand er wieder im Sturm. Agnes warf frustriert die halb fertige Kerze von sich, die auf der Holzplatte vor ihr in ihre Einzelteile zerbrach, und verließ dann das Zimmer.
Viele Menschen hatten sich nicht auf dem Marktplatz versammelt. Ihr Dorf war klein, kaum 3000 Seelen lebten hier. Die meisten waren alt, die Männer waren schon in den Krieg gezogen, so wie Agnes Vater. Er war einer der ersten, den man geholt hatte. Landarbeiter waren stark und begehrt für das Militär. Er war auch einer der ersten, der gefallen war. Irgendwo hinter der Grenze Belgiens, Agnes konnte sich kaum daran erinnern. Als ob es wichtig war, wo genau sie ihren Vater verloren hatte. Er war weg, von heute auf morgen. Damals hatte sie tagelang geweint, bis ihre Großmutter ihr eine Ohrfeige gegeben hatte.
“Das bringt ihn nicht zurück!”, hatte sie geschrien. Natürlich hatte sie recht gehabt, doch trotzdem war Agnes von da an wütend auf jeden gewesen.
Ihr Bruder sollte nun also der nächste sein. Eigentlich hatte sie nicht zur Verabschiedung gehen wollen. Man wusste, man ließ einen Menschen nun für immer gehen, und trotzdem sagte man sich gegenseitig auf Wiedersehen, mach es gut. Komm heil wieder. Wen genau diese Worte aufmuntern sollten, die Zurückgebliebenen oder die, die Auszogen, war wohl niemandem klar.
“Du bist ja doch hier.” Thomas kam mit einem unangebrachten Grinsen auf sie zu. Er hatte bereits die Kriegsuniform angelegt. Ein unförmiger Stück viel zu großen Stoffs, der mit einem schlichten Gürtel an seiner Taille zusammengebunden war. Sein Helm hing baumelnd daran herab, ebenso wie einige Trinkflaschen und ein noch leeres Waffenmagazin.
“Für Felix”, gab sie schlicht zurück. “Und deshalb.” Sie hob den kleinen Korb, gefüllt mit Kerzen und präsentierte sie Thomas. Es war Brauch geworden, dass die wartenden Menschen eine Kerze anzündeten, sobald die Kutsche mit den Männern außer Sicht war. Thomas grinste und nickte.
“Dir liegt ja auch so viel an deinem Bruder.”
“Er ist mein Bruder.”
“Wirst du auf mich warten.”
Der plötzliche Themenwechsel, noch dazu derart brüsk, verschlug Agnes die Sprache. “Was?”
“Wirst du auf mich warten, Agnes?”
Es gab vieles, was sie nun gerne gesagt hätte. Du glaubst, du kommst wieder? Wieso sollte ich warten? Worauf warten? Doch Thomas kam ihr zuvor. Ungeniert kam er näher und drückte ihr einen festen Kuss auf den Mund. EMotionslos und trocken. Agnes war zu schockiert, um ihn fort zu stoßen. So eilig, wie Thomas sich den Kuss stahl, so schnell löste er sich auch wieder von ihr.
“Das wollte ich wenigstens einmal machen.” Noch immer grinste er, doch auch das wirkte fahl. Er schien jede Emotion ausgeschaltet zu haben. Agnes konnte es ihm nicht verübeln.
“Mach’s gut, Agnes.” Er holte weit mit dem Arm aus und verbeugte sich vor ihr. Bevor er sich jedoch umwenden konnte, überraschte AGnes ihn und sich selbst mit ihren Worten.
“Thomas”, sie griff in den Korb und reichte ihm eine Kerze. “Damit du den Weg nach Hause findest.”
Thomas schwieg und hielt die schlichte Bienenwachskerze in den Händen, während er Agnes und die Kerze im Wechsel verwirrt betrachtete.
“Bring sie wieder, ja?”, meint Agnes nachdrücklich und machte dann auf dem Absatz kehrt.
Die nachfolgenden Monaten waren geprägt von einer Schreckensbotschaft nach der anderen. Beinahe jedes Land stand mittlerweile im Krieg miteinander. Agnes versuchte so viel wie möglich zu ignorieren. Sie wusste, in den Städten war es noch schlimmer als hier auf dem Land. Die zurückgebliebenen Frauen pflegten Hof und Land so gut es ihnen möglich war, doch die Männer fehlten überall. Agnes vermied es auch auf den Markt zu gehen. Der Krieg war das einzige Gesprächsthema.
Die Frauen sahen sich gegenseitig mitleidend an, falls wieder die Nachricht einen gefallenen Angehörigen per Post kam. Oder sie bemitleideten sich dem Mitleid wegen. Agnes’ Wut brannte, wenn sie daran dachte. Natürlich war ihr Leben hart geworden, doch wie konnten sie es wagen sich mit den Männern zu vergleichen, die irgendwo auf fremden Feldern unter Artilleriefeuer fielen?
Seit Agnes ihre Gedanken einmal auf dem Markplatz laut hinausposaunt hatte, ging sie einfach gar nicht mehr hin. Sie hatte sich darauf konzentriert in der Scheune die Kerzen zu machen. Ihre Großmutter konnte mittlerweile die Trommel nicht mehr bedienen, auch das übernahm Agnes nun. Es war alles schließlich nur eine Frage der Technik.
Wieder vergingen Monate, die mehr Neuigkeiten brachten. Felix war nun offiziell verschollen. Eine kleine Hoffnung, an die sich ihre Mutter von einem Tag in den nächsten schleppte. Verschollen hieß nicht gefallen. Er konnte noch leben. Agnes ließ sie in dem Glauben. Ihre Mutter war in den letzten zwei Jahren alt geworden. Die Sorge um ihren Sohn und der Verlust des Ehemanns hatten ihr Jahre ihres Lebens geraubt.
Der Krieg hingegen, näherte sich dem Ende, das konnte jeder spüren. Sogar die ersten Männer kehrten zurück, abgezogen von der Front, da sie zu schwer verletzt waren um zu kämpfen. Die meisten wurden zurück geschickt, um zu sterben. Die Alternative war, zu bleiben und zu sterben. Dumm waren die, die sich für die zweite Variante entschieden. Die Rückkehr, was anfangs noch ein Grund zur Freude war, wandelte sich schnell in ein Symbol des Krieges. DIe Männer kehrten nicht wirklich zurück.
Agnes war geschockt gewesen, als sie die ersten Heimkehrer gesehen hatte. Jeder war verwundet, verbunden und gleichten mehr einer Mumie als einem Menschen. Ihnen fehlten Arme, Beine, die Hälfte ihrer Gesichter. Zuhause hatte sie sich übergeben, als sie daran dachte, dass Felix womöglich auch so aussah. Beinahe tröstender fand sie das Bild eines Felix, der friedlich irgendwo die Augen geschlossen hatte und unter der Erde lag. Sie konnte sich kaum vorstellen wie es war, derart entstellt weiter leben zu müssen.
Nach und nach kamen mehr Heimkehrer, auch in den benachbarten Dörfern und Städten, und ihre Mutter wartete jeden Tag Felix unter den wenigen zu entdecken. Sie verließ den Marktplatz nur zum Schlafen. Allein Agnes hielt den Betrieb nun am Laufen.
Morgens setzte sie bereits das Essen für den Mittag an, gerade so viel, dass es für zwei Personen reichte. Dann produzierte sie Kerzen. Die Nachfrage war gewaltig und sie alleine kam nicht nach. Sie drehte, tropfte und zog Kerzen aus dem Wachs, das sie sogar schon wiederverwertete.
Sie saß erneut in der Scheune, umringt von glänzen Kerzen. Sie hatte sie zum Trocknen an den Balken aufgehängt. Dutzende waren dort aufgereiht und drehten sich im Wind. Ihr wehte der Duft von Kräutern und Wachs entgegen, der ihr mittlerweile so vertraut war, wie das Atmen selbst.
Innerlich zähle sie die Kerzen, die sich aus dem groben Block Wachs noch herstellen konnte und realisierte, dass sie noch den ganzen Tag hier sitzen würde, doch sie beklagte sich nicht. Die Arbeit gab ihr Frieden.
Aus den Augen sah sie eine Bewegung, auf die sie gar nicht reagiert hätte, wenn nicht das Geräusch tretender Sohlen auf Boden sie aufschrecken ließen. Eine abgemagerte Gestalt stand dort und beobachtete sie. Agnes benötigte einige Sekunden, um zu realisieren, wen sie sah.
Das Gesicht war kantiger und um seine Augen waren rote Narben zu sehen, die an eine frische Verbrennungen erinnerten; doch er atmete. Agnes stand auf und stieß in ihrer Euphorie den Holztisch mit Kerzenwachs um, das achtlos in den Sand fiel. Doch sie blieb dann reglos stehen, nicht wissend, wie sie sich nun verhalten sollte. Thomas war anders, das sah sie an seinen Augen. Ihnen fehlte der vertraute Schelm.
Auch er wirkte unentschlossen. Irgendwann griff er stumm in seine Uniform, die im loße am Leib herab hing. Der Gürtel und alles, was einmal dort gehangen hatte, war nicht mehr da, und auch die Farbe seiner Uniform ähnelte nun mehr schmutziger Erde. Agnes bemerkte, dass sein rechter Arm besonders schlapp hin und schluckte schwer.
Um ihn nicht anzustarren, konzentriere sie sich darauf, was er scheinbar mit seiner linken Hand versuchte zu finden. Überrascht schlug sie dann die Hand vor den Mund, um nicht zu schluchzen.
“Sie ist leider kaputt”, sagte er schließlich und zeigte dann einen Anflug seines alten Lächelns. Agnes schüttelte nur den Kopf und konnte nicht anders, als nach der Kerze in seiner Hand zu greifen. Sie war an mehreren Stellen gebrochen und ganze Stücke waren herausgeschlagen. Die Farbe war kaum noch zu erkennen.
“Ich kann sie reparieren”, sagte sie und griff nun nach Thomas Hand, dessen Haut warm auf ihrer lag. Die Kerze eng an ihre Brust gepresst. “Sie wird nicht perfekt sein, aber ich kann sie reparieren.”