Irland 1853
«Mary!» Der Ruf ihrer Tante liess keine Widerrede zu. Müde erhob sich die junge Frau von der Decke in der Ecke der Küche, auf der sie die bitterkalten Nächte Irlands verbrachte.
«Ja Tante, was ist?» In diesem Moment betrat die rüstige Frau selbst die Küche und schaute ihre Nichte vorwurfsvoll an. «Du willst mir ja wohl nicht sagen, dass du bis jetzt geschlafen hast, oder?»
Mary öffnete den Mund um zu antworten, aber ihre Tante sprach weiter, ehe sie etwas erwidern konnte. «Ist das der Dank dafür, dass wir dich bei uns aufgenommen haben und das Risiko eingingen zu verhungern um dein Leben zu retten? Du schläfst?!» Die Stimme ihrer Tante klang schon beinahe hysterisch und überschlug sich.
«Ich…»
«Schweig!» Die Frau holte aus und schlug Mary grob ins Gesicht. «Wag es nicht dein dreckiges Maul nochmals zu öffnen. Wenn Oliver davon erfährt.» Fassungslos schüttelte Tante Helen den Kopf und ihr dicker Zopf flog wild umher.
Mary hatte die Hände schützend vors Gesicht gehalten und hielt den Blick gesenkt. Sie traute sich nicht etwas zu sagen, also stand sie einfach nur da und wünschte sich, sie wäre unsichtbar.
Mary wünschte sich oft sie wäre unsichtbar. Oder tot. Tot wie ihre Mutter, ihr Vater und ihr Bruder. Niemand ausser ihr hatte überlebt. Sie fraget sich oft, wenn sie nachts nicht schlafen konnte, weil der Boden zu hart und die Decke zu dünn war, ob Gott sie damit hatte bestrafen oder belohnen wollen, dass er ihr zwar das Leben geschenkt hatte, sie aber an einen so schrecklichen Ort verbannte, wo sie ohne jegliche Liebe und Zuneigung aufwuchs.
«Was stehst du noch so rum?», nörgelte Helen weiter. «Geh und hol’ Gemüse aus dem Schopf und dann beeil dich gefälligst mit dem Abendessen. Die Suppe muss gut ziehen.»
«Ja Tante.» Mit gesenktem Blick nahm Mary einen Korb von der Anrichte, legte sich den fadenscheinigen Mantel um die Schultern und verliess das kleine Steinhaus. Ihre Wange brannte noch immer, aber sie verbot sie die schmerzende Stelle anzufassen.
Draussen wehte ein kühler Wind und die Wolken am Himmel versprachen Regen. Die junge Frau hob missmutig den Kopf und beobachtete die aufziehende Düsternis. Es würde bestimmt ein Gewitter geben. Mary liebte Gewitter, wenn Gott seinem Zorn freien Lauf liess und die Menschen für ihre Strafen büssen liess.
Den Korb fest in der Hand stapfte das Mädchen durch den kleinen Garten, in dem in dieser Jahreszeit nicht viel mehr als ein paar erste grüne Halme und ab und zu ein weisser Kopf eines Frühblühers in dem braunen Nichts zu entdecken war.
Das Mädchen betrachtete die Pflanzen und dachte an ihre Mutter.
«Schau Mary, das hier ist eine Kartoffelpflanze. Die Blüten und Blätter kannst du nicht essen, aber wenn du die Wurzel aus der Erde ziehst, dann sind dort unten Knollen, aus denen man wunderbare Sachen machen kann.»
Das war vor der Kartoffelfäule und der grossen Hungersnot. Bevor sie zu ihrem Onkel und ihrer Tante gezogen war. Als ihre Welt noch in Ordnung war.
Marys Blick fiel auf eine grüne Pflanze mit spitz zulaufenden Blättern, jedoch ohne Blütenkelch. Sofort hatte sie wieder die Stimme ihrer Mutter im Ohr: «Das ist eine Herbstzeitlose, Mary. Vor der musst du dich in Acht nehmen. Sie ist dem Bärlauch sehr ähnlich, doch ist die Dosis genug hoch, ist selbst ein Pferd machtlos gegen das Gift.»
«Wie weiss ich denn, dass es eine Herbstzeitlose ist?», wollte die kleine Mary wissen.
«Merke dir immer,», sagte ihre Mutter. «bei einer Herbstzeitlosen siehst du stets nur das eine. Sind Blätter und Blüten sichtbar, ist es keine.»
«Bei einer Herbstzeitlosen siehst du stets nur das eine. Sind Blätter und Blüten sichtbar, ist es keine,» murmelte Mary vor sich hin und beugte sich über die zarte Pflanze.
Ohne noch länger darüber nachzudenken, was sie hier eigentlich gerade tat, rupfte sie die Stängel aus der Erde und stopfte sie in ihren Korb, bevor sie eilig zum Schuppen hinüber rannte und die Blätter der Herbstzeitlosen mit Gemüse überdeckte. Dann ging sie zurück ins Haus, feuerte den Ofen ein und begann eine Suppe fürs Abendessen zu kochen, gerade so, als wäre nichts.
Die ganze Familie sass um den Tisch versammelt. Onkel Oliver, Tante Helen, Grossmutter Maria und die vier Kinder der Familie. Beim Gedanken an ihre Grossmutter wurde Mary schlecht. Sie war ein herzensguter Mensch gewesen. «Aber wenn sie sich nichts hat zuschulden kommen lassen,», dachte Mary, «wird Gott Gnade walten lassen.»
Die junge Frau stellte die dampfende Suppe auf den Tisch und begann dann allen zu schöpfen.
«Hast du den Schuppen auch wieder ordentlich verschlossen?», knurrte ihr Onkel schlechtgelaunt.
«Natürlich hat sie das», warf Grossmutter ein. «Sie ist schliesslich ein kluges Kind. Du hast den Schuppen doch zugemacht, oder Mary?»
Das Mädchen zögerte. «Ich … ich fürchte, das habe ich vergessen, Grossmutter.»
Onkel Oliver schlug mit der Faust auf den Tisch. «Unnützes Ding! Du bist genau wie dein Vater. Ich habe Grace von Anfang an gesagt, sie soll diesen Taugenichts nicht heiraten, aber sie wollte ja nicht auf mich hören.»
«Na los, worauf wartest du?» Tante Helen kniff die Augen zusammen. «Mach gefälligst, dass du raus kommst und den Schuppen schliesst.»
Eilig sprang Mary auf und rannte zur Türe hinaus. Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen und grelle Blitze zuckten über den Himmel. Hinter sich im Haus hörte sie ihre Grossmutter mit Oliver streiten, aber das wir ihr egal.
Lachend trat sie in den Regen hinaus und ging durch den Garten. Doch statt zum Schopf zu gehen, verliess sie den Garten und stieg einen nahegelegenen Hügel hinauf. Glücklich schloss sie die Augen und streckte ihr Gesicht dem Himmel entgegen.
Endlich konnte Gott sie erlösen.