Der Fjord von Avasikuu zog sich noch viele Kilometer in den Süden, ehe er in die Kaedun-See im Zentrum von Miskra mündete. Nemo war öfter hier, wenn er Einsamkeit, Stille und Wald brauchte, nichts außer rauschendem Wind und dem Geruch der See. Die Klippen und Hänge waren nicht zur Bebauung geeignet und alles, was einmal gestanden hatte, war im Krieg grenzenlos zerschossen worden. Nemo war das Recht. Er hatte nicht nachgedacht, stürzte durch den Wald, einen steilen Hang hinab, bis er einen großen Stein fand, auf dem er gut stehen konnte. Eine alte Fichte hatte sich wie in einer Umarmung um ihn geschlungen und Nemo stützte sich an ihr ab, atmete tief und hektisch gleichzeitig und jedes Mal beim Ausatmen quälten sich verzweifelte Schluchzer aus seinem Hals.
Als Nemo nicht mehr stehen konnte, ging er in die Knie. Dann setzte er sich, lehnte sich an den Baum. Immer, wenn seine Gedanken wieder anfingen, sich zu bewegen, schluchzte er erneut, heiser und rau. Mit angewinkelten Beinen vergrub er das Gesicht in der trockenen Rinde der Fichte und wollte einfach...
Er wusste es nicht. Vielleicht wollte er weg. Nicht nur von hier, sondern komplett. Aus diesem Leben und dieser Existenz heraus, denn was sollte es schon bringen, hier zu bleiben? Er war ein jämmerliches Stück Scheiße, dem es offenbar nicht ausreichte, sein eigenes Leben zu ruinieren. Er hatte kein Recht zu sein. Wenn er ging, dann kam er in die Ewigkeit der Infeania, bis er seine Tür zur Erlösung fand. Vielleicht traf er Finnya auf dem Weg. Dann konnte er sich entschuldigen und sie würde ihm sagen, dass alles in Ordnung war. "Es ist nicht deine Schuld", würde sie sagen und das erste Mal würde er das auch fühlen, denn es wäre egal. Alles wäre egal.
Nemo holte ein Taschentuch hervor, um zu schnäuzen und sich das Gesicht ein wenig trocken zu wischen. Es brachte nicht viel; seine Tränen hatten noch nicht aufgehört zu fließen und trotz des kurzen Moments klaren Denkens schluchzte er erneut auf, als ihm wieder einfiel, warum er hier war.
Nemo erhob sich, versuchte sich zu beruhigen, kurz zu konzentrieren. Dann teleportierte er sich den Hang wieder hinauf. Ihm war schlecht und schwindelig, aber es hinderte ihn nicht daran, sich nach und nach noch weiter in den Süden zu teleportieren, bis er das offene Meer erreichte. Die See war lauter hier, übertönte beinahe die vielen Seevögel, die über den hohen Steilklippen schwebten.
Die Ruinen der Eistore von Avasikuu lagen abgesperrt da, als hätte sie in den letzten 21 Jahren niemand mehr angerührt, seit sie unter schwerem Beschuss der Union ihren Dienst versagt hatten. Die Absperrungen des Militärs waren gut gesichert und schwer zu überklettern, da die alten Gemäuer sonst wohl der Tod vieler Jugendlicher gewesen wären. Aber für Nemo spielten Absperrungen keine Rolle, solange er sehen konnte, was auf der anderen Seite lag. Er teleportierte sich einfach ein weiteres Mal.
Der Kontrollraum war beinahe komplett weggebrochen, ob damals oder erst nach dem Krieg wusste Nemo nicht. Die Rohre an den Seiten des Fjordeingangs lagen schwer beschädigt da und waren mittlerweile sehr rostig. Nemo kannte die Erzählungen, wie Wasser hoch gepumpt wurde, um aus Eis einen starken Schutzschild zu bilden. Aber sie würden wohl nie wieder in Benutzung genommen werden. Im Winterkrieg hatte sich gezeigt, dass sie im Ernstfall nur wenig Zeit schinden konnten. Es hatte sich einfach nicht gelohnt.
Nemo suchte sich einen Punkt am Rande weg gebrochener Mauern. Schiffe verließen den Fjord und fuhren in ihn ein, aber sie waren so klein unter Nemo, dass er kaum Menschen ausmachen konnte, und diese von unten ihn definitiv nicht erkennen würden, selbst wenn sie zu ihm aufschauen sollten. Und es ging weit in die Tiefe. Die Schiffe waren klein wie Spielzeug oder Federn auf dem Wasser. Sich jetzt von allem zu verabschieden, wäre ein Kinderspiel.
Nemo schluchzte nicht mehr. Seine Tränen waren versiegt und hatten Leere hinterlassen. Er setzte sich an den Abgrund, holte eine Zigarette hervor. Beim dritten Versuch konnte er sie des Windes zum Trotz entzünden. Anstatt weiter in den Abgrund zu schauen, ließ er sich nach hinten fallen. Der Himmel wurde verdeckt von einer instabilen Decke, deren Farbe so weit abgeblättert und ausgeblichen war, dass sich nicht mehr erkennen ließ, wie sie einst ausgesehen hatte.
Finnya hatte nie über den Tag gesprochen, an dem Avasikuu gefallen war. Nicht ein einziges Mal, aber er und Shadrach auch hatten irgendwann begriffen, dass sie zu dem Zeitpunkt in der Stadt gewesen war. Und jetzt war es egal. Keiner von ihnen würde diese Geschichte jemals zu hören bekommen. Dafür, dass der Krieg zwanzig Jahre her war und seine Spuren allgegenwärtig, wurde wenig darüber geredet. Alle schwiegen. Weder Finnya noch sein Vater hatten viele Worte darüber verloren, genauso wenig wie Tarjas Mutter oder der Freund seines Vaters, die paar Male, die sie ihn zu Gesicht bekommen hatten. Nemo verstand das. Hätte er damals gelebt, er hätte auch nicht gern darüber gesprochen.
Er pustete kraftlos Rauch in die Luft. Vielleicht brach der Boden unter ihm gleich weg und stürzte in die tosende Gischt der Kaedun-See. Das würde ihm die Entscheidung abnehmen, es selbst zu tun - er wäre dankbar dafür. Dann sah es aus wie ein Unfall und keiner musste sich etwas vorwerfen. Das wäre der beste Weg.
"Rauchen erst ab sechzehn, junger Suna."
Nemo zuckte so intensiv zusammen, dass sein Wunsch sich beinahe von selbst erfüllte, wäre er nicht in diesem Moment noch am Kragen gepackt und zurückgezogen worden. Anstatt etwas zu sagen, röchelte er nur, als er in das zahnreich grinsende Gesicht des Geistes der Eitelkeit schaute.
"Ganz schön weit draußen haben Sie sich versteckt", merkte der mit seinem breiten tribunischen Akzent an. "Aber völlig umsonst, Milius. Ich finde Sie überall."