Von allen Leuten, die Nemo gerade nicht sehen wollte, war Louis Lunoire der, auf den er am meisten hätte verzichten können. Immerhin hatte der Geist ihm die ganze Sache überhaupt erst eingebrockt - Nemo hielt jedoch inne, bevor er ihm das vorwerfen konnte. Die endlose Leere in ihm machte es ihm schwer, Wut zu verspüren, und anderseits... Eigentlich konnte er ihm nichts vorwerfen. Herr Louis hatte ihn nicht gezwungen. Es war allein seine eigene Dummheit, die ihn an diesen Punkt gebracht hatte.
"Sie scheinen mir einen schlechten Tag zu haben. Das Treffen mit ihrem Bruder ist wohl nicht so gelaufen, wie Sie es sich vorgestellt haben, hm?"
Nemo riss sich los und beschloss, ihn nicht weiter anzusehen. Sein Gesicht war gruselig. "Sie wissen es doch, also fragen Sie nicht.” Seine Stimme war peinlich leise und heiser.
Herr Louis gluckste und setzte sich zu ihm, schien interessiert die Wellen unter sich zu beobachten. Nemos Blick folgte dem seinen und kam es ihm nur so vor oder war das Wasser auf einmal wesentlich ruhiger? Mit Bauchschmerzen wurde ihm bewusst, dass er sich vermutlich gar nicht vorstellen konnte, wie mächtig dieser Geist war. Schon gewöhnliche Geister glänzten mit wesentlich mehr Energie, als jeder sterbliche Mensch gehabt hätte. Aber so ein Geisterdrache? Ein Herrscher des Wassers?
"Ist es für Sie als Wesen des Wassers nicht widersprüchlich zu rauchen?", fragte Nemo, als Herr Louis sich eine Zigarette anzündete.
Der Geist musterte ihn einen Moment und anstatt etwas zu sagen, blies er ihm beiläufig Rauch in die Augen. Nemo winselte und presste sich die Hände auf die Augen im Versuch, den brennenden Schmerz zu vertreiben.
"Was machen Sie überhaupt hier?" Eigentlich wollte er nicht mit ihm reden. Er hätte den Mund halten sollen, aber das war anscheinend ein Ding der Unmöglichkeit. Nemo war nicht fähig, schlaue Entscheidungen zu treffen.
"Oh, ich will nur ein wenig nach Ihnen schauen, Milius." Er konnte das Amüsement in der Stimme hören.
"Nemo", korrigierte er darauf nur, fügte aber noch ein "Bitte" an, das er im nächsten Augenblick schon unnötig fand. Als ob sich ein Geist von einer Bitte beeinflussen ließe.
"Na hoppla, Sie stellen Ansprüche? Ich bin erstaunt." Herr Louis gluckste. "Wie auch immer, Nemo. Meine immensen Erfahrungen im Bereich der menschlichen Gefühlswelt haben mich hierher gerufen, wie Sie es sich sicherlich bereits denken konnten."
Nemo hätte es nicht so ausgedrückt, aber ja. Er hätte sich das denken können. Er drückte seine Zigarette aus, behielt sie aber in der Hand. Sie hier liegen zu lassen, würde sich falsch anfühlen.
"Was wollen Sie denn noch?", fragte er schließlich. Der See zuzuschauen erwies sich als beruhigender, als den Geist neben sich. "Sie haben doch schon gewonnen..."
Herr Louis zog besonders geräuschintensiv an seiner Zigarette. "Ihr Zynismus verletzt mich, Nemo. Falls Sie sich erinnern, meinte ich, Sie sollen die Ausreise Ihres Bruders verhindern, nicht den Tod wählen."
"Warum haben Sie dann diese Forderung gestellt?!", schnappte Nemo und bereute es sogleich. Er durfte nicht wütend werden, das Gefühl hatte er nicht verdient, kein Recht dazu. "Warum... Sie... Sie müssen doch gewusst haben, was passieren wird..."
Herr Louis seufzte. "Natürlich. Sie können hier sitzen und den eigenen Tod in fernen zwölf Jahren akzeptieren. Das können Sie machen. Ich werde Sie nicht daran hindern, nur etwas enttäuscht drein schauen."
Nemo machte den Fehler, zu ihm zu sehen. Er hatte nicht gedacht, dass der Geist irgendein Gefühl, außer Anspannung und latente Wut, vielleicht ein wenig Angst in ihm auslösen konnte. Aber tatsächlich war sein Gesichtsausdruck in jenem Moment vergleichbar mit dem von Finnya, als Shadrach ihr stolz erzählt hatte, auf dem Schulweg mit dem Schlitten fünf Leute überfahren zu haben. Nemo schaute schnell zur Seite. Schuld funktionierte zu gut bei ihm; er zog die Schultern an.
"Also... nehmen Sie den Handel zurück?", fragte er leise und bereute es sogleich, als der Geist sehr trocken auflachte.
"Na, na. Nicht frech werden, Mi - Nemo."
Nemo fand es nicht frech. Jetzt zu diskutieren würde aber sicher kein Ergebnis erzielen, mit dem er zufrieden sein konnte. Zufrieden... Ja, das würde er vermutlich noch eine lange Zeit nicht sein. Wahrscheinlich konnte er das gar nicht, zufrieden sein.
"Die Vergangenheit lässt sich nicht rückgängig machen. Das ist unfair, aber das müssen Sie akzeptieren." Herr Louis drückte seine Zigarette aus und zog etwas aus der Tasche, das auf den ersten Blick wie ein kleiner Mülleimer aussah, tatsächlich aber ein Taschenaschenbecher war. Als er ihn Nemo hin hielt, steckte auch dieser seine ausgedrückte Zigarette hinein. "Aber ich kann Ihnen eins sagen: Wenn Sie einfach aufgeben, werden Sie in Ihrem Leben nie wieder glücklich werden. Und sterben ist nicht unbedingt eine Garantie, dass man auch tot ist, lass Ihnen das von mir als Toten gesagt sein."
In Nemos Bauch bahnte sich ein trauriger Lacher an. Tatsächlich stieß er aber nur kraftlos Luft durch die Nase aus. "Sie brauchen mich nicht zu siezen. Ich darf noch nicht einmal wählen gehen."
Herr Louis feixte. "Schön, dass wir das geklärt haben." Dann erhob er sich, streckte sich, klopfte Dreck aus den Kleidern. Als Nemo es ihm nachtat, schüttelte er den Kopf. "Du denkst vielleicht, dass du allein bist und nichts jemals wieder gut wird - keine Angst, ich kenne das Gefühl." Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und Nemo verzog das Gesicht leicht. "Ich war auch einmal Fünfzehn."
Nemo schnaubte und schob seine Hand von der Schulter, woraufhin der Geist erneut nur lachte.
"Ich denke, der Kronprinz kann dich gut leiden. Oder zumindest hat er genug Mitleid. Aber deine Cousine? Ich wette, sie vergisst gerade vor Sorge, sauer auf dich zu sein."
Nemo schmeckte Magensäure und fasste sich an den Hals. Er hustete ein paar Mal und ließ sich kraftlos wieder zu Boden sinken. Mit einem Mal spürte er, wie ausgezehrt sein Körper tatsächlich war.
"Na, na. Keine Müdigkeit vortäuschen. Erstmal müssen wir dich noch nach Hause bringen."
Als Nemo aufschaute, sah er die Hand des Geistes vor sich. Wie bei ihrem ersten Treffen auch schon, trug er Handschuhe und Nemo fragte sich warum, immerhin war es derzeit selbst für Jacken zu warm. Außerdem störten sie beim Zigaretten drehen. Andererseits funktionierte das Hitzeempfinden von Drachen möglicherweise anders als bei Menschen, er wusste es nicht. Nach einem schweren Seufzer nahm er die Hand an, ließ sich aufhelfen. Herr Louis hatte Recht. Er musste zurück zu Tarja.