Zu Nemos Verwunderung begleitete ihn der Geist zurück in die Stadt. Nemo sagte nicht viel, zum Teil weil er nicht wusste, was er auf die Anekdoten von Herrn Louis erwidern sollte. Angeblich hatte er vor dem Krieg eine Kneipe in Avasikuus Hafen geführt, sowie eine Radiosendung moderiert, wenn Nemo das richtig verstanden hatte? Er wusste nicht, warum er ihm das erzählte, aber es hinderte Nemo zumindest daran, wieder in kreisende Gedanken zu fallen oder direkt einzuschlafen. Der Regionalzug vom Fjordausgang zurück nach Avasikuu war fast leer. Herr Louis hatte vorgeschlagen, den zu nehmen, anstatt sich zu teleportieren, und Nemo hatte nicht widersprochen. Jetzt saß er hier, hörte ihm zu. Seine Stirn schlug beständig gegen die Fensterscheibe, an die er sie gelehnt hatte.
Irgendwann schwieg selbst der Geist. Nemo musterte ihn einen Moment lang aus dem Augenwinkel. Erst dachte er, Herr Louis würde nicht blinzeln, aber dann fiel ihm zum eigenen Entsetzen auf, dass er stattdessen wie Katzen oder Krokodile noch ein zweites Paar durchsichtige Augenlider besaß. Nemo musste den Blick schnell abwenden. Herr Louis schmunzelte.
Nemo räusperte sich. "Was... Was soll ich Tarja gleich sagen?" Er wusste nicht, ob es richtig oder gut war, den Geist das zu fragen. Aber Stille gab seinen Gedanken zu viel Raum zu wandern.
Herr Louis wirkte amüsiert. "Wie wäre es mit der Wahrheit?"
Nemo wollte keine Grimasse ziehen, tat es aber trotzdem. Tarja würde wahnsinnig wütend werden und schlimmstenfalls direkt nach Tribunie gehen, um Shadrach an den Haaren zurück zu schleifen. Oder auch nicht, da sie wusste, dass das für ihn, nun mit Geisterpakt, keine gute Idee wäre. Vielleicht würde sie ihm nicht glauben. Die fehlende Gewissheit sorgte dafür, dass Nemos ganzer Körper unangenehm zu jucken begann.
"Ich hab Scheiße gebaut, ich weiß." Allen voran, weil er auf einen Geist gehört und mit dem einen Deal eingegangen war. Herr Louis schien aus dem Fenster zu schauen und Nemo verstand nicht, warum er noch hier war. Hatte das Schicksal es ihm so befohlen? Andernfalls machte es keinen Sinn - wenn entweder Shadrach oder Nemo sterben sollten, warum half er ihm dann, wenn er das Problem doch so einfach beheben könnte? So gern Nemo mit seinem Bruder auch reden wollte, wenn das bedeutete, dass er ihm Lebensgefahr aussetzte, dann konnte er darauf verzichten.
"Und du denkst, deshalb wäre es jetzt angebracht, sich zu isolieren und aus Selbstmitleid alles noch schlimmer zu machen, hm?" Herr Louis musterte ihn mit gehobenen Augenbrauen. Nemo gefiel sein Blick nicht.
"Das hab ich nicht gesagt", nuschelte er, sah wieder aus dem Fenster. Dann wurde zum Glück die Haltestelle angesagt, an der er aussteigen musste, sodass er eine Ausrede hatte, um aufzustehen. Der Geist blieb sitzen.
"Du kennst meine Meinung. Ob du danach handeln willst oder nicht, das ist dir überlassen." Herr Louis lehnte seine Wange an seine Hand, lächelte ein wenig füchsisch.
Nemo überlegte noch etwas zu sagen, doch ihm fiel nichts Passendes ein. Er ging einfach und bereute es im nächsten Augenblick, weil er sich selbst so peinlich fand. Als der Zug weiterfuhr, hatte er immer noch Herrn Louis Blick im Nacken. Furchtbar.
Er atmete tief durch. Ein letztes Mal wischte er sich mit der Hand über die Augen, um sicherzugehen, dass die letzten getrockneten Tränen verschwunden waren, dann teleportierte er sich nach Hause.
Als er im Wohnungsflur stand, hörte er sofort einen Stuhl über den Küchenboden schaben, allerdings war Nemo es, der zuerst an der Küchentür war, um diese zu öffnen. Tarja hatte Ringe unter den seltsam geröteten Augen - Nemo hatte sie noch nie weinen sehen und war sich sicher, dass er das erste Mal in seinem Leben einen Hinweis darauf sah. Die Luft in seinen Lungen stand merkwürdig still und obwohl er etwas sagen wollte, kam ihm kein Wort über die Lippen.
Tarja umarmte ihn. Nemo umarmte zurück. Ihre Wärme tat gut.
"Noch zehn Minuten", sagte sie. "Noch zehn MInuten, und ich wäre dich suchen gegangen." Sie löste sich, schaute zu ihm auf. "Geht es dir ein wenig besser?"
Nemo nickte unbeholfen.
"Das ist gut, das ist gut." Ihre Stimme klang belegt. Auch Tarja nickte, dann lachte sie schief auf und strich ihm durch die Haare. Nemo schloss die Augen dabei. "Komm, ich... Setzt dich dich zu mir? Ich... Ich will nicht, dass du dich noch schlechter fühlst, wirklich nicht. Ich mache mir nur Sorgen und, ich meine. Wenn ich mich nicht sorge, wer macht es dann?"
Sie hatte Recht, das wusste er. Und er wusste auch, dass es gerade jetzt feige wäre, wieder davon zu laufen, alles von sich zu schieben. Er wollte dem Geist nicht Recht geben, aber irgendwie hatte er eben Recht.
Nemo setzte sich an den Tisch, stellte zu seiner Verblüffung fest, dass wohl auch Tarja geraucht hatte.
Sie machte ein komisches Geräusch, als sie seinen Blick bemerkte. "Ausnahmsweise. Ausnahmsweise darfst du, wenn ich dabei bin."
Er lächelte knapp, traute sich aber nicht. Stattdessen blickte er vage an Tarja vorbei. "Es... tut mir Leid", sagte er dann und räusperte sich. Tarja erwiderte nichts. Sie goss Tee in zwei voluminöse Tassen, verrührte je zwei Löffel Zucker. "Ich hätte sofort mit dir reden sollen, aber ich dachte... Ich dachte, du hast nichts damit zu tun und ich wollte dich nicht stressen, ich weiß, dass es alles nur noch schlimmer gemacht hat und ich wollte das einfach nicht, ich weiß dass es super dumm war und..."
Nemo brach ab, schaute weg. Dann atmete er tief durch und erzählte Tarja, was vorgefallen war und ließ nichts aus. Nicht den Geist, nicht wie er Shadrach hängen gelassen hatte, nicht die Bilder, die ihm Major Maliina vorgelegt hatte, und auch nicht das Gespräch, das er gerade eben mit Herrn Louis gehabt hatte. Es sprudelte einfach aus ihm heraus.