Nemo saß auf Dmitrijs Couch, seine Tasche auf dem Schoß und die Arme darum geschlungen, als würde er befürchten, dass Dmitrij sie ihm jeden Moment aus der Hand riss. Der war gerade aufgestanden, um einen besonders dicken Stapel Bücher zu holen und den vor Nemo abzulegen, jedoch nicht, ohne ihm einen besonders skeptischen Blick zuzuwerfen. Der große Hund, der neben ihm auf dem Teppich lag, schaute träge auf.
„Es lässt sich nicht viel zu Lunoire finden, muss ich sagen.” Dmitrij ließ sich Nemo gegenüber wieder in den Sessel fallen. „Zwar weiß jeder, dass es ihn gab, aber unser Land hat damals nicht viel Wert darauf gelegt, die ausländischen Angelegenheiten zu dokumentieren, und von Tribunie kann man keine wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung erwarten. Die haben schon immer so getan, als hätte ihr militärischer Erfolg im Unionskrieg daran gelegen, dass sie krasse Technik hatten und nicht an ein paar Leuten mit krassen Fähigkeiten, denn das hätte sie ja dann nicht von uns unterschieden. Wenn du mehr willst, schreibst du am besten die Nationale Bücherei in Rantastala an, die haben alles, was es in Hostisch gibt.“
Nemo streckte die Finger nach dem ersten Buch aus. Es war eine Sammlung von Berichten der hostischen Einsatzleitung im Unionskrieg; ein dünnes Heft mit vergilbten Seiten. Nach einmal Durchblättern wurde Nemo bewusst, dass er extrem rare Lektüre in den Fingern hielt, denn offensichtlich handelte es sich um militärinterne Logbücher.
„Das… durfte veröffentlicht werden?“ Soweit er wusste, hielt das Militär sich mit Informationen über die eigenen Ränge bedeckt.
Dmitrij feixte. „Nein. Aber die Angelegenheit ist hundertfünfzig Jahre her, es interessiert keinen mehr. Ich war aber trotzdem überrascht, noch eine Ausgabe davon zu finden im Archiv und noch dazu in so gutem Zustand. Nach dem Putsch in meiner Familie damals hat der neue Zar eigentlich alles vernichtet, was ein schlechtes Licht auf ihn hätte werfen können. Oder offen gelegt hätte, dass seine jüngere Schwester besser geeignet wäre für den Thron.“
Nemo hatte das Gefühl, verbotenes Wissen eingetrichtert zu bekommen. Ob Dmitrij da so einfach drüber reden durfte? Auf der einen Seite machte er das gerade, aber Verwunderung machte sich trotzdem in ihm breit - die und das stetige Gefühl des Palastes, hier fehl am Platz zu sein. Um sich davon abzulenken, streckte Nemo die Hand aus, um den großen Hund am Kopf zu streicheln. Dessen viel zu lange Schnauze ließ ihn fast wie ein Pferd aussehen - Lyubochka war ihr Name, so wie alle Hunde von Dmitrijs Großmutter geheißen hatten. Er hatte mal gesagt, selbst sie würde sich wohl nicht erinnern, die wievielte Lyubochka das hier eigentlich war.
„Meinst du, dass Lunoire so eine große Rolle im Unionskrieg gespielt hat?“ Nemo hatte gewusst, dass er für Tribunie gekämpft hatte, nur irgendwie passte das nicht zu dem Bild, das der Geist bisher abgegeben hatte. Auf der anderen Seite wirkte er vielleicht doch wie eine Person, die das Schicksal der Welt bereits zu Lebzeiten maßgeblich beeinflusst hatte
„Er ist ein Drache. Natürlich hat er das.“ Dmitrij klappte das Buch zu und lehnte sich zurück. „Drachen sind Herren des Wassers und Arma besteht hauptsächlich aus Inseln. Da wird es für den nicht so unmöglich gewesen sein, die einfach zu überrollen.“
“Hm.“ Im dünnen Buch stand ein Bericht von einer seiner entfernten Verwandten. Nemo war es immer schwer gefallen, die Suna als tatsächlichen Clan zu betrachten, wie die Yelkin es waren, und nicht als kleine, zerstreute und furchtbar kaputte Familie mit krassen Fähigkeiten, die irgendwie jeder kannte. „Ich weiß nicht. Ich glaube, es fällt mir einfach schwer, so eine… Legende mit einer realen Person zu verknüpfen, mit der ich mich unterhalten kann, weißt du, was ich meine?“
Dmitrij nickte langsam und schien einen unspezifischen Punkt an der Wand hinter Nemo zu mustern. „Ich kann es mir vorstellen. Leute aus dem Geschichtsunterricht sollten auch dort bleiben.“
Nemo seufzte. „Ich bin so dumm…“
“Schon.“
Dmitrijs Worte ließen seine Mundwinkel noch weiter nach unten sitzen und er stützte sich mit hängenden Schultern auf seinen Knien ab. Prompt leckte ihm Lyubochka übers Gesicht.
„Aber daran lässt sich nichts ändern.“ Dmitrij stand auf und schaute aus einem der vielen Fenster in dem privaten Salon, in dem sie sich befanden. Sie waren riesig und füllten die Außenwände fast bis zur Decke, gaben den Blick frei auf Avasikuus Osttal inklusive Hafen. Es wäre ein atemberaubender Anblick, aber Nemo fühlte seine Beine zu wenig, um jetzt aufzustehen, dafür aber sein eigenes Leid und die Scham zu intensiv, um etwas so banales wie die Aussicht genießen zu können.
“Straff dich, Nemo. Viele Leute hätten in deiner Situation das gleiche getan, ich vermutlich auch. Sich hängen zu lassen löst keine Probleme.“
Nemo wich Dmitrijs stechendem Blick aus, seufzte. Gerade stehen war anstrengend, wenn der ganze Körper behangen war mit Gewichten aus Blei, die ihn stetig gen Boden zogen. „Ich hab Tarja erzählt, was vorgefallen ist.“
Dmitrij hielt in seinen Bewegungen für einen Moment inne. Er atmete tief durch, dann schritt er zu einer voluminösen Vitrine an der Seite, um sich etwas zu trinken einzuschenken. Nemo achtete nicht darauf, was es war, konnte sich aber denken, dass es sich um etwas Alkoholisches handelte. Er hätte gern geraucht - seine Finger brauchten Beschäftigung - und aus Angst, das dünne Buch in seinen Händen zu zerfleddern, legte er es zurück auf den Tisch. Die Vitrinentüren quietschen, als Dmitrij sie wieder schloss. Das Holz und die Scharniere waren alt und vermutlich war das Möbelstück genau so antik wie ein Großteil des Palastes.
“Je weniger Leute davon wissen, desto besser“, sagte Dmitrij schließlich.
„Sie ist meine Cousine!“ Nemo wollte nicht so jammerig klingen, konnte aber nichts dagegen machen. „Ich kann sie nicht belügen, sie ist… Du kennst sie doch.“
Dmitrij feixe. „Etwas. Lügen ist immer schlecht, aber man kann die Wahrheit sagen, ohne sie detailgetreu zu berichten, das ist dir schon bewusst, oder?“
„Ja, ja, was weiß ich, sie hat gesagt, sie kann ohnehin nichts machen und… Ich weiß nicht, ich glaube, es war das Richtige, sie hat das Recht dazu und…“
„Ist ja gut.“ Dmitrij winkte ab. „Ich versteh das. Bin nicht begeistert, aber da habe ich wohl kein Mitspracherecht.“ Er trank einen Schluck. „Und am Ende ändert es nichts an irgendetwas. Du hast einen Geist am Hals, der dich in zwölf Jahren vermutlich heimsuchen wird, wenn du seiner Bedingung nicht nachgehst. Erinnerst du dich eigentlich an seine genau Formulierung?“
Nemo schaute auf, ließ die Finger aber in Lyubochkas langem Fell vergraben. Es war die einzige beruhigende Ablenkung, die er hatte. „In wie fern?“
“Kannst du die Bedingungen überhaupt noch erfüllen, selbst wenn du Shadrach zurück holst, ganz unabhängig von den politischen und logistischen Problemen, die das mit sich bringen würde? Oder bist du in dem Moment gescheitert, in dem er Hostrimaa verlassen hat, und sitzt jetzt so oder so auf dem Trockenen?“
Nemo kaute sich nachdenklich auf der Unterlippe herum. Ihm wurde unangenehm warm. „Ich… Ich weiß es nicht.“
Dmitrij goss sich mehr Getränk nach und Nemo konnte das gut nachvollziehen. „Dann bleibt dir wohl wirklich nur eine Sache übrig, um dein Problem zu lösen. Und die wäre, den Geist…“
Es klopfte.