Als Nemo seine Erzählung beendete, erhob sich Tarja wortlos, schritt zur Tür. Dort blieb sie stehen und sie seufzte tief, ehe sie sich wieder zurück setzte und das Gesicht in den Händen vergrub. Nemo konnte nicht bereuen, ihr alles erzählt zu haben. Ein schweres Gewicht war von ihm gefallen und alles, was es hinterließ, war eine unangemessene Form von Schwerelosigkeit.
Schließlich richtete Tarja sich wieder auf, den Blick an die Decke. "Ich kann dir nicht helfen", sagte sie dann.
Nemo fiel das Schlucken schwer. "Aha?" Vielleicht war diese Reaktion unangebracht, aber in der weiten Leere in sich konnte er nur schwerlich finden, wie er sich im Moment fühlen sollte.
Tarja schüttelte den Kopf, lehnte sich vor, um sich mit den Unterarmen auf der Tischplatte aufzustützen. "Mein erster Reflex war, einfach direkt nach Rubrica oder sonst wohin zu gehen, Shadrach an den Haaren zurück zu schleifen und ihm dann eine ordentliche Ohrfeige zu geben." Sie blickte ihn eindringlich an und ihre dunklen, buschigen Haare rahmten ihr Gesicht dabei ein, sodass ihr Blick umso stechender wirkte. „Aber…“
“Der Geist wird mich umbringen“, vervollständigte Nemo schlapp.
„Das steht außer Frage!“ Tarja schlug mit der Faust auf den Tisch. „Um den kümmern wir uns - aber später. Jetzt müssen wir uns erstmal um das unmittelbare Problem kümmern, und das sind dein Bruder und du.“ Sie griff nach dem Drehzeug und begann, eine Zigarette zu bauen. Zu seiner Überraschung warf sie Nemo eine zu und es fühlte sich wie eine Falle an, als sie ihn dabei beobachtete, wie er sie ansteckte.
“Ich hab richtig Scheiße gebaut.“ Nemo wollte aufstehen und das Küchenfenster öffnen, stellte aber fest, dass es bereits gekippt war.
"Ja. Aber das lässt sich nicht rückgängig machen und es ist nicht deine Schuld oder wie du es nennen würdest. Wer hier Schuld ist, das ist ohnehin egal. Es geht darum, das Problem zu lösen, nicht irgendwen anzuzeigen." Sie blies Rauch aus. "Wir regeln das. Das mit dir und den Vorwürfen der Militärpolizei, dabei kann ich dir helfen. Für Shadrach... Ich weiß nicht. Vielleicht ist da wirklich der verfluchte Kronprinz deine beste Wahl."
Nemo musste unwillkürlich schmunzeln. "Du magst ihn nicht?"
"Muss ich das elaborieren?"
Er schüttelte den Kopf; er hatte die Reibungen zwischen ihr und Dmitrij jetzt sehen dürfen und brauchte da keine zusätzlichen Informationen, auch wenn er es schade fand. Ihre Charaktere passten einfach nicht. Tarja hatte Arroganz noch nie toleriert und Dmitrij hatte eine dicke Mauer um sich herum aufgebaut, auf der er sich gern niederließ, um von oben hinab zu anderen zu sprechen. Nemo konnte ihm das nicht übel nehmen, wusste aber, dass Tarja das anders sah.
Tarja zog an ihrer Zigarette. "Ich bin aktives Militärmitglied und ich bin fertig mit der Grundausbildung. Ich kann nicht einfach auf Unionsboden und... Dinge machen, erst Recht nicht mit Magie, ohne dass das ganze Land die Suppe auslöffeln muss."
"Das ganze Land?", fragte Nemo nach.
Sie nickte. "Vertrag von Kalinowo. Hast du dann in der Ausbildung." Sie ächzte, als sie sich zurücklehnte. "Unautorisierte militärische Aktionen auf Boden der Union führen zum automatischen Bruch des Waffenstillstands zwischen der Union und Hostrimaa. Es ist eine sehr lange, sehr eklige Geschichte, und was soll ich sagen, mein Vater hat nicht unbedingt dafür gesorgt, dass die Suna gut toleriert werden drüben."
"In wie fern?", wollte er wissen, doch sie winkte ab.
"Erklär ich dir später. Oder frag Dmitrij, der weiß sicher genug darüber." Sie drückte ihre Zigarette aus, dann richtete sie den Zeigefinger auf ihn. "Jetzt müssen wir uns aber erstmal um dich kümmern, dass du aus der Angelegenheit offiziell rausgezogen wirst. Und ich sollte meinem Bruder schreiben. Wenn Shadrach in Rubrica ist oder kurz Zwischenhalt macht, dann kann Cameron vielleicht die Augen nach ihm offen halten."
Nemo kratzte sich an der Wange. An Cameron hatte er gar nicht gedacht - Tarjas älterer Halbbruder war nicht mit ihm, Shadrach und Tarja aufgewachsen, sondern bei seinem Onkel in Rubrica. Es war Jahre her, dass Nemo ihn zuletzt gesehen hatte, doch da Tarja ihn gelegentlich erwähnte, schloss er darauf, dass die beiden zumindest schriftlich in regelmäßigem Kontakt standen.
"Und wenn die Akademie ihn zuerst findet?" Er konnte Cameron nicht einschätzen, dafür kannte er ihn zu wenig. Aber Cameron befand sich in der Ausbildung dort. Er fühlte sich nicht behaglich dabei, seinem Cousin diese Bürde aufzulasten und sich selbst strafbar zu machen, indem er ihnen half.
Tarja schaute nachdenklich an Nemo vorbei. Ihr Gesichtsausdruck wurde noch etwas düsterer. "Dann liegt es wirklich nicht mehr in unseren Händen. Wenn die Regierung der Union ihn hat, dann wird sie ihn nicht mehr gehen lassen, egal, was er hier verbrochen hat."
Nemo musste den Kopf heftig schütteln. Was er verbrochen hatte... Er hatte sicherlich nichts verbrochen. Nur den Geist beschworen, aber das war ohnehin schwachsinnig, Hostrimaa würde darüber hinwegsehen, schließlich war er noch minderjährig. Das andere war nichts weiter als ein Unfall gewesen. Ein hässlicher, grausamer Unfall, aber Shadrach konnte sicherlich nichts dafür. Ganz bestimmt. Nemo atmete tief durch, sein Kiefer zitterte.
Tarja setzte sich neben ihn und zog ihn in eine tiefe Umarmung. Anders als vorhin nicht fest, doch dafür mit umso mehr Halt. Nemo lehnte seinen Kopf an ihren.
"Zusammen schaffen wir das, du kleiner Esel."
Nemo machte ein komisches Geräusch, vielleicht sollte es ein Lachen darstellen. Er wusste es selbst nicht und es war ihm unangenehm.
Tarja schaute zu ihm auf. "Ich meine das Ernst."
"Ja. Ja. Ich weiß." Er nahm ihre Hand und lächelte. Tarja versuchte das auch, aber er konnte ihr ansehen, dass es ihr schwerfiel.
"Und jetzt legst du dich erstmal schlafen." Sie löste sich mit ernstem Blick. "Und keine Widerrede. Ich ruf bei deiner Schule an, aber wenn du nicht mindestens bis um zwölf schläfst, geh ich dich in Lakejew aussetzen."
"Ich muss noch mit Unna raus." Seine Stimme klang sehr lasch.
"Keine Widerrede, habe ich gesagt."
Nemo nickte. Er würde ihr keine Widerrede leisten.