Nemo wählte einen Umweg. Es war Mitte Juli und die Sonne hatte die Straßen Avasikuus unangenehm aufgeheizt, und Nemo war sich sicher, dass seine Haut zischen und direkt verbrennen würde, sollte das Licht sie auch nur eine Sekunde länger berühren als nötig. Sein Dachshund Unna schien gleicher Meinung mit ihm zu sein, denn sie drückte sich an den Hauswänden entlang und mied dabei alles, was nicht im Schatten lag.
Obwohl Nemo noch nicht lange in der Hauptstadt war, kannte er den Weg zur Musikschule, durch all die Male, die er seine Cousine vom Chor abgeholt hatte. Dennoch blieb es ungewohnt, selbst nach den vergangenen zwei Monaten. Avasikuu war groß; viele Menschen lebten hier auf engstem Raum und allesamt gingen sie ihrer Dinge nach, ohne groß Notiz voneinander zu nehmen. Nemo mochte die Anonymität. Er mochte es, auf der Straße nicht von jedem erkannt zu werden und dennoch fühlte er sich fremd im eigenen Körper.
Mit beiden Händen in den Hosentaschen – in einer hielt er Unnas Leine – trottete er die Straße entlang. Gelegentlich musste er anhalten, denn der Hund hatte seine Nase an die Granitplatten des Gehwegs geklebt und verlor sich schnell in den Gerüchen der Stadt. Doch da bei jedem Schritt neue Eindrücke auf sie zukamen, ließ sie sich schnell ablenken und so hörte er ihre kleinen Pfoten wieder über den Stein tappen. Ihr Halsband klimperte. Manchmal schaute sie zu ihm auf und lächelte ihr Hundelächeln und Nemo schaffte es nicht, zurück zu lächeln.
Die Nebenstraße floss bald schon auf die große Kreuzung am Hiiviskala-Platz, an dessen gegenüberliegender Seite die Musikschule stand. Nemo musste Unna an die kurze Leine nehmen. Unna gehorchte gut, aber genau wie er war sie das Leben auf dem Land gewohnt und es war eine Umstellung, auf einmal in der größten Stadt des Kontinents zu leben und nicht länger in einer verschneiten Kleinstadt.
Nemo atmete tief durch, als er endlich das weitläufige Eingangsportal des alten Sandsteinbaus durchschritt. In dem alten Gemäuer war es deutlich kälter. Nemo hatte einmal versucht auszurechnen, wie viel Grad südlicher er in Avasikuu war als in seiner alten Heimat, aber er hatte sich die Karte zu lange angeschaut und dann hatte sein Kopf gequalmt, weil Zahlen nicht seine Stärke waren. Unna neben ihm hechelte. Nemo hätte ihr das gern nachgemacht.
Die Musikschule hatte weder ihr Aussehen noch ihre Aura in den letzten zwei Monaten verändert. Der Sandstein wies bis auf zwei Meter Höhe dunkle Verfärbungen von den Brandschäden aus dem Krieg auf und wie bei so ziemlich allen Gebäuden in der Stadt, die danach noch gestanden hatten, war niemand auf die Idee gekommen, es zu sanieren. Zumindest erzählte seine Cousine das.
Schließlich klemmte Nemo sich Unna unter den Arm, denn er nahm die Treppe zu seiner rechten in die dritte Etage und Unnas kurze Dackelbeine waren nicht zum Treppensteigen geschaffen. Sie war trotzdem aufgeregt.
Oben angekommen nahm er auf einem der Stühle im Wartebereich Platz, Unna setzte er sich auf den Schoß. Er befand sich in einer kurzen Abzweigung eines Ganges im neu gebauten Flügel der Schule, denn hier waren die Decken wesentlich niedriger und der Boden aus eklig glänzendem Laminat. Er entdeckte ein paar breit getretene Kaugummis und hütete sich, unter den Stuhl zu fassen. Allein in diesem Raum fehlten mindestens drei der Schaumstoffplatten an den Decken.
Aus dem Zimmer hinter der Tür zu seiner Linken hörte er den Gesang der Chorgruppe. Er kannte das Lied nicht, aber die jungen Frauen sangen in einem Dialekt, den er kaum verstand, da musste es fast ein altes Volkslied sein. Die Melodie trug ihn in die dichten Wälder seiner Heimat zurück, an den See, der den Himmel einfing, die hohen Berge und den Schnee. Nemo strich Unna durch das kurze, glatte Fell, lehnte sich zurück. Wenn er sich auf den Gesang konzentrierte, musste er an nichts anderes denken.
Die Melodie verebbte. Nach fünf Minuten Stille öffnete sich die Tür zum Proberaum und eine ganze Horde junger Frauen strömte heraus.
„Hey Unna, du Wurst!“ Tarja stand sehr plötzlich neben Nemo, die Hände in die Hüften gestemmt. Unna war ganz aufgeregt! Sie hechelte und bellte und sprang auch gleich von Nemos Schoß herunter, um Tarja zu begrüßen und bekam zum Dank die Ohren gekrault. „Na? Na?“
Unna bellte aufgeregt.
„Wer ist der dümmste Hund in Avasikuu? Na?“
„Psht“, machte Nemo zu Unna und nahm sie wieder zu sich. Alle Blicke des Raums lasteten auf ihm.
Tarja lachte. „Hey, ich wollte sie doch nur kurz im Glauben lassen, dass sie es ist und nicht du.“
„Ha, ha“, machte er. Tarja umarmte ihn, dann legte sie die Arme auf seine Schultern. Sie griff hart zu.
„Hast du gut hergefunden?“
“Hm, ja.” Nemo nickte ein paar anderen Mädchen aus Tarjas Gruppe zu und bereute es sofort. Nichts an seinem Lächeln fühlte sich an, als wäre es bereit, vor Leuten benutzt zu werden.
Tarja grinste. “Lass es lieber, es sieht grauenhaft aus. Hast du die Papiere dabei?”
„Ja, ja. Unna hat nichts angefressen.”
„Das will ich doch hoffen.” Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann wuschelte sie Nemo durch die Haare, was ihm ein leises Ächzen entlockte. „Ich muss mal kurz in die Umkleide, besser ich kreuz da schon fertig auf.“
Daraufhin verschwand sie in eine der Umkleiden, die ebenfalls an den Wartebereich grenzten. Nemo trat von einem Fuß auf den anderen, schaute zu Unna - sie half ihm dabei, nicht auseinanderzufallen. Er gehörte nicht an diesen Ort und auch nicht in diese Stadt. Hoffentlich beeilte sich Tarja beim Umziehen.