„Ich habe nichts“, sagte Nemo. „Ich... Ich kann Ihnen Blut geben oder sowas, aber meine Seele werde ich nicht verkaufen und einen Pakt werde ich definitiv nicht...“
„Blah, blah, blah.” Herr Louis machte passende Handbewegungen dazu. „Was will ich denn mit einem Pakt? Der zieht mir nur unnötig Energie und wenn die Regierung davon mitkriegt, sitzen Sie unnütz im Todestrakt herum, bis sie Sie endlich hinrichten, nein, nein. Das einzige, was ich will, ist, dass dein lieber Bruder für die nächsten zwölf Jahre das Land nicht verlässt. Das ist alles.“
„Das ist – was?“
„Es spricht natürlich nichts gegen einen Strandurlaub in Comezia – obwohl. Ihr Suna macht das doch nicht, ihr seid doch viel zu weiß dafür und verbrennt in der Sonne wie ein Vampir.“ Er gluckste. „Oder Besuch von Freunden in Was-weiß-ich-wo, selbstverständlich habe ich da nichts dagegen. Aber alles in allem muss er in Hostrimaa bleiben. Hier weiter zur Schule gehen und so weiter und sofort. Das ist doch ganz und gar simpel, oder?“
Nemo nickte langsam.
„Ich wette, das kommt Ihnen ganz gelegen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie noch ein paar wichtige Sachen mit ihm zu besprechen haben und das wird wohl nicht gehen, wenn er sich – wie er es gerade plant – nach Tribunie aufmacht und verschwindet. Ich denke, zwölf Jahre sollten genug Zeit sein, um alles zu klären.“
Nemos Zunge schmerzte, je länger er auf sie biss. Er wollte nicht denken, nicht nachdenken, nicht erinnern. Nicht jetzt, nie wieder, auch wenn diese Gedanken wie ein leiser Tinnitus ihm immer in den Ohren lagen.
„Warum interessiert Sie das?“, fragte er mit dünner Stimme und eigentlich hoffte er, dass der Geist es nicht gehört hatte.
„Sagen wir, ich hatte in der Vergangenheit das ein oder andere Mal mit Ihrem Clan zu tun und...“ Er lachte leise. „Wie Sie wissen, seid ihr gerade nur noch zu dritt. Ich würde behaupten das wäre Schade, immerhin ist Ihre Familie so hoch gelobt für Taten und Fähigkeiten, so besungen, so gefürchtet...“ Ein gespieltes Seufzen folgte. „Und niemand wird mir widersprechen bei all meinen Behauptungen. Der einzige Clan in Miskra mit zwei unterschiedlichen Fähigkeiten... Auch wenn Sie und Ihre Cousine da bei Weitem die praktischeren erwischt haben, nicht wahr?“
Nemo nickte. Ihm war kalt.
„Ich bin eigentlich sehr zufrieden mit meiner Magie und trotzdem habe ich mir manchmal gewünscht, mich einfach teleportieren zu können. Einfach verschwinden und irgendwo wieder auftauchen. Zack!“ Mit zufriedenem Gesichtsausdruck zündete er sich die nächste Zigarette an. „Ihr Bruder wiederum – wie war nochmal sein Name? Schorsch?“
„Shadrach“, sagte Nemo, dessen Stimme mehr ein raues Kratzen als irgendetwas mit tatsächlichem Ton war.
„Ah, ja, genau. Shadrach.“ An seinem Lächeln erkannte er, dass er sehr wohl gewusst hatte, wie Shadrach hieß. „Seine Fähigkeiten sind von ganz anderer Natur. Immer endend in Licht und Destruktion. Es leuchtet, es ist schnell... Und dann kommt der Schmerz. Milius?“
„Nemo“, korrigierte ihn Nemo in heißerem Wispern. Er wollte noch etwas sagen, er wusste nicht was und als er versuchte, ein Geräusch von sich zu geben, funktionierte es nicht. Tausend Wörter saßen in seinem Hals und kratzten an den Wänden, ohne ihr Ziel zu erreichen.
„Kollateralschaden, Personenschaden – aber das kennen Sie ja bereits. Wenn man das einmal gesehen hat, vergisst man es nie. Sie erinnern sich ja vermutlich daran, aber stimmen Sie mir zu, dass es besser ist, wenn solche Magie im Land bleibt und nicht noch in Tribunies Hände fällt?“
Nemo spürte nichts mehr. Jeder einzelne Herzschlag beförderte ihn weiter aus seinem Körper heraus und bald stand er in weiter Ferne, schaute auf das Geschehen hinab. Jeder Atemzug schnürte seinen Hals weiter zu und die Welt begann sich zu drehen.
10.04.1732. Ein Donnerschlag.
Er schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen.
„Was ist los?", wimmerte er, doch es war keine Frage. Er wusste, was los war. Er wusste es ganz genau und konnte nichts machen. „Was ist... Was ist passiert?“
„Ich kann Ihnen die Antworten nicht geben. Aber Ihr Bruder kann das. Sie wollen ihn doch sehen, oder?“
Ob Nicken die richtige Entscheidung war, wusste er nicht. Dennoch tat er es.
„Zwölf Jahre, Milius. Zwölf Jahre. Aber keine Sorge: Wenn Sie versagen, bekommen lediglich Sie die Konsequenzen zu spüren und haben dann besonders viel Zeit, in der Ewigkeit über ihr Leben nachzudenken.
Infeania, Schlaflosigkeit, Ewigkeit. Die schwarzen Weiten der Leere und man wanderte und wanderte mit nichts weiter als einer Laterne und dem Wunsch, einen Ausweg zu finden. Er wollte weg, zur Tür, entfliehen. Nemo sah sich fallen.
„Finnya Suna, es ist Finnya Suna. Haben Sie das Licht gesehen, vor etwa einer Stunde? Das muss in etwa ihr Todeszeitpunkt gewesen sein.“
Die Luft stand still. Sie bewegte sich weder auf Nemo heraus noch in ihn hinein. .
„Ich bin da, wenn Sie mich brauchen.“
Dann war Stille.