Weiter oben begegneten sie das erste Mal anderen Menschen, die Dmitrij jedoch nicht groß zu beachten schien. Clan- oder Regierungsmitglieder vermutlich, Nemo wusste es nicht. Er wusste aber, dass die Bediensteten andere Wege zu gehen hatten. Tatsächlich würden ihn deren Gänge mehr interessieren als die großen Flure des Palastes, aber er bezweifelte, dass er jemals Einblick in die versteckten Gänge erhalten würde. Bei genauerem Nachdenken gruselte ihn die Vorstellung, wie viel Platz hier wohl zwischen den Wänden war.
„Ich hab keinen Hunger“, sagte er leise und ein wenig gepresst.
„Ich hab auch nicht gesagt, dass ich dich zum Essen zwinge.“
Er war so dumm – warum war er hier? Hatte er wirklich geglaubt, dass er jemandem wie Dmitrij eine absolut absurde Geschichte von einem verdammten Geist in der Küche erzählen könnte?
„Du, Dmitrij...“ Nemo stockte. Durfte er Dmitrij duzen? Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, wie war es da gewesen? Nemo erinnerte sich nicht. Er erinnerte sich an nicht viele Dinge, die auf der Beerdigung seiner Mutter passiert waren. Aber am Ende war Dmitrij kein Jugendlicher, sondern Anfang zwanzig und ganz nebenbei der verdammte Kronprinz von Hostrimaa.
Doch Dmitrij schaute ihn nur fragend an, darauf wartend, dass er weiter redete.
„Deine Schwester, die... Uh. Sie ist nicht zufällig auch da?“
Er bekam einen skeptischen Seitenblick. „Wenn sie essen will, dann ist sie da.“
Nemo ächzte leidend. „Ich sehe grauenhaft aus.“
„Im Moment, ja.“ Dmitrij lächelte knapp. „Aber ich bin mir sicher, dass meine Schwester darüber hinwegsehen kann.“
Auch wenn er gern leidend gestöhnt hätte, ließ er es lieber bleiben. Er war sich sicher, dass Dmitrij besseres zu tun hatte, als sich sein Jammern anzuhören. Er war so dumm. Aber gleichzeitig war Dmitrij nun einmal der einzige Mensch, der ihm einfiel, von dem er sich vorstellen konnte, dass er ihm tatsächlich helfen konnte, würde, wollte. Was auch immer.
Den Rest des Weges schwiegen die beiden, selbst als sie den privaten Bereich von Dmitrijs Familie betraten. Nemo war noch nie hier gewesen, bemerkte aber, wie sich schlagartig die Stimmung änderte. Die Wände waren gut verputzt und trotzdem erkannte Nemo die Stellen, an denen nach dem Krieg hatte saniert werden müssen, da der Palast bei den in Avasikuu statt gefundenen Kämpfen schwere Treffer erlitten hatte. Außerdem waren zwei Türme weggebrochen, die bis heute nicht wieder aufgebaut worden waren. Die Flure lagen leer und leise da.
Schließlich öffnete Dmitrij eine der vielen Türen und wies Nemo an, hinein zu gehen. Das Zimmer war viel zu groß dafür, dass nur eine sehr lange, gedeckte Tafel darin stand. Licht flutete den Raum und der kostspielige Stuck an der Decke drückte ihn zusammen.
„Setz dich irgendwo hin, wo es noch nicht gedeckt ist. Außer an die Stirnseite. Ich komme gleich nach.“
Dann schloss er die Tür hinter ihm und Nemo stand da und...
Atmete durch. Es war kein beruhigtes Seufzen, eher handelte es sich um einen kläglichen Versuch, sich von seiner Anspannung zu befreien. Nicht dass es funktionierte, denn nicht einmal tiefes Durchatmen konnte ihm all die negativen Gedanken nehmen. Es war wirklich, wirklich keine gute Idee gewesen, herzukommen. Zwar bedeuteten nur zwei gedeckte Plätze, dass wohl neben Dmitrijs Schwester sonst keines seiner Familienmitglieder anwesend war, aber das reichte auch schon. Wie sollte er Dmitrij erzählen, was er erzählen wollte, wenn seine Schwester dabei war? Er wusste schon nicht, wie er ihm das unter vier Augen sagen sollte!
„Du stehst ja immer noch“, stellte Dmitrij fest, als er wieder eintrat. „Jetzt setz dich schon.“ Dmitrij selbst stand auch nicht länger, sondern ließ sich an seinem Platz nieder und deutete Nemo, sich neben ihn zu setzen. Endlich tat Nemo auch, wie ihm geheißen, doch als ein Bediensteter kam und fragte, was er haben wollte, schüttelte er nur den Kopf und gab keinen Laut von sich. Die Momente zogen sich wie besonders zäher Kaugummi. Er fühlte sich wie ein schmuddeliges Pony unter Rassepferden.
Ein Bediensteter stellte eine Schüssel mit Joghurt, frischen Waldbeeren und Sirup vor ihn.
„Ich habe gesagt, ich will ni...“
„Iss“, sagte Dmitrij mit Nachdruck in der Stimme, den er sonst nur von seiner Cousine kannte, woraufhin Nemo geduckt nickte und sich leise bedankte.
Nemo nahm sich einen Löffel und begann, die Beeren und den Joghurt so einzurühren, dass eine homogene Masse entstand, darauf bedacht, mit dem Metall ja nicht an die Porzellanränder zu stoßen. In der Weite des Zimmers wirkte jedes kleine Geräusch wie ein Paukenschlag.
„Du wolltest mir etwas erzählen.”
„Ist deine Großmutter gerade da?“, fragte Nemo. Eigentlich wusste er die Antwort, es war schließlich nicht für Dmitrijs Großmutter gedeckt.
„Du bist miserabel darin, Themen zu wechseln, hat dir das schonmal jemand gesagt?“
„Ja, ich hab 'nen Zwillingsbruder.” Nemo starrte den Joghurt an. Es war guter Joghurt, der vom Sirup und den saisonalen Beeren hervorragend ergänzt wurde.
„Und nein, falls es dich wirklich interessiert“, antwortete Dmitrij schließlich. „Sie besucht Verwandtschaft in Avahall. Vermisst du sie? Ich glaube, sie hat dich gern.“
„Ja, nein, genau deswegen.“ Genau wie Dmitrij hatte Nemo den Rest dessen Familie auch das letzte Mal in den Tagen nach der Beerdigung gesehen. Ella Stjerhelv, ehemalige Zarin und Zarenmutter von Hostrimaa, hatte viel darüber erzählt, wie sehr Nemo sie an ihren ältesten Sohn erinnerte und er hatte sich grässlich dabei gefühlt. Er hatte sich aber auch bei Dmitrijs Schwester grässlich gefühlt, der er Unna als ‘schlechte Katze, die bellt', vorgestellt hatte.
„Ach was. Auch du hast ein wenig Lob mal verdient.“ Dmitrij schmunzelte. „Aber egal. Jetzt sag mir, weshalb du hier bist.“
Nemo hätte nicht herkommen sollen. Er hätte das einfach mit sich selbst ausmachen sollen und spontan fiel ihm auch nicht mehr ein, inwiefern ihm Dmitrij dabei hätte helfen können. Aber er wollte nicht lügen.