„Shadrach hat mir Bescheid gegeben.” Seine eigene Stimme hörte sich sehr belegt und unglaublich distanziert an, als würde sie nicht zu ihm gehören.
„Wie hat er das gemacht?“ Sie notierte irgendetwas. Nemo versuchte es zu lesen, aber sie saßen zu weit auseinander.
„Äh“, machte er und dachte nach, was für Kontaktmöglichkeiten es gab. „Hausfax“, antwortete er dann und es war das Dümmste, was er hätte sagen können. Es ließ sich viel zu einfach herausfinden, ob er die Wahrheit gesagt oder gelogen hatte. „Verschlüsselt. Es war eine verschlüsselte Nachricht.“
„Wann?“
Nemo wurde heiß. Er war so dumm. „Letzte Woche Donnerstag, glaube ich. Ich weiß es nicht genau. Vielleicht war es Mittwoch. Es sind Ferien. Ich weiß in den Ferien immer nicht, welcher Wochentag war, haha.“ Nemo hasste sich für dieses komische Lachen zum Schluss, denn es war das manischste, falscheste Lachen, das er je abgelassen hatte.
„Wo ist der Fax jetzt?“
Er spürte, wie sie ihn mit seinen Blicken richtete.
„Ich hab ihn verbrannt“, sagte er und schaute dabei nur seine Hände und das goldene Armband an der einen Seite an, das das kalte Deckenlicht reflektierte. „Wie er...“ Nemo räusperte sich unbeholfen. „Shadrach, er hatte gesagt, ich soll das machen.“
„Hm.” Major Maliina stand auf. Sie war eine große, muskulöse Frau, und Nemo sank immer weiter in sich zusammen, wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zurück zog. Nemo wäre in jenem Moment gern eine Schnecke gewesen und hätte sich in sein nicht nur metaphorisches Haus verkrochen. Aber leider fühlte er sich auch in dem Sinne wie eine Schnecke, dass er das Gefühl hatte, dass die Frau Major ihn ohne weiteres zertreten könnte und auch würde und es würde nur leise knacken und wäre ein wenig eklig, aber Mühe würde es ihr definitiv keine bereiten.
„Wir haben die letzten Monate versucht, Sie bestmöglich in Ruhe zu lassen, Milius.” Er schaute nicht auf. „Aber die Ermittlungen im Todesfall Ihrer Mutter sind noch nicht abgeschlossen.“
Nemo erinnerte sich. Er war so oft befragt worden. In letzter Zeit weniger als zu Beginn, das stimmte. Doktor Grigorijew hatte der Militärpolizei geraten, ihn in Ruhe zu lassen, aber offenbar hatte seine Stimme am Ende nur so wenig gezählt wie die von Tarja oder – wie er später erfahren hatte – Dmitrij und seiner Schwester. Zarin von Hostrimaa zu sein, war nichts mehr wert seit dem Bürgerkrieg.
„Ihnen wurden beide Theorien mitgeteilt?“ Es war eine rhetorische Frage, denn er hörte, wie sie die Akte zur Hand nahm und darin blätterte. Dennoch nickte er. „Und Ihnen erschließt sich als Folge, warum Sie hier sind?“
Er schaute ganz langsam auf. „Weil ich...“, begann er, unterbrach aber, weil er sich nicht sicher war, ob das eine Aufforderung zum Reden gewesen war. Major Maliina gab ihm einen so durchdringenden Blick, dass er sofort weiter sprach. „Äh, ja. Weil ich... Weil ich. Und so, mein Bruder!“ Seine Hände zuckten nervös über den Tisch. Nemo wollte weinen, aber sein Gesicht sprach eher für hysterisches Lachen. „Ich, ja. Wissen Sie, Sie brauchen den ja, also brauchen Sie auch mich, versteht sich. Ganz logisch.“
„Es reicht“, unterbrach Major Maliina kühl und Nemos Mimik gefror und er nahm sich vor, nie wieder zu reden. „Es reicht“, wiederholte sie, diesmal leiser. „Wenn Sie nichts zu sagen haben, dann sagen Sie einfach nichts, verstanden?“
Nemo nickte kurz angebunden.
„Sie sind hier, weil Ihr Bruder national gesucht wird und wir nichts mehr von ihm gehört haben, seit er vier Tage nach dem Tod ihrer Mutter an einem Bahnhof nördlich von Rijek gesehen wurde. Bis wir vor einer Woche einen anonymen Tipp erhalten haben und sehr erstaunt waren, auch Sie mit vor Ort zu treffen. Immerhin meinten Sie wie auch Ihre Cousine, dass sie nicht in Kontakt mit ihm standen, nicht wahr?“
„Tarja hat nichts damit zu tun“, murmelte er, hatte aber noch nicht einmal fertig gesprochen, als Major Maliina ihm dazwischen fuhr.
„Ihre Cousine hat genau so viel damit zu tun wie Sie, Milius! Sie wohnen zusammen und sie ist Ihr Vormund, was Sie falsch machen, fällt alles auf sie zurück!“
Er schloss die Augen, um sich zu beruhigen. Major Maliina hatte Recht und Nemo hatte nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass Tarja als sein rechtlicher Vormund diejenige war, die die wahre Last trug. Warum war er so dumm?
„Warum“, begann er langsam und er spürte ihren richtenden Blick, als er einen Moment brauchte, um sich die Worte zurecht zu legen. „Warum... wird er national gesucht?“ Sein Blick wanderte zu dem Platz ihm gegenüber, an dem Major Maliina gesessen hatte. Jetzt aber lehnte sie weiter hinten im Raum an der Wand. Nemo schaute nach links, zum verspiegelten Glas. Natürlich sah er nichts. „Ist er nicht nur... Also, war er nicht nur Augenzeuge?“
Natürlich, er war vermisst. Aber um ehrlich zu sein, hatte er nicht wirklich mitbekommen, dass nach ihm gesucht worden war, wie sie normalerweise Leute suchten. Vielleicht... Vielleicht lag es am Wald. Der Wald um Rijek war dicht und unfreundlich für all jene, die nicht zu Nemos Familie gehörten. Aber der Wald hatte Nemo vor zwei Monaten auch die Wahrheit gesagt. Shadrach war nicht Augenzeuge. Shadrach war der Schuldige. Er hatte Mist gebaut und es war nach hinten losgegangen. Nemo hasste sich so sehr für diesen Tag. Wenn er nicht so stur gewesen und mit seinem Bruder mitgegangen wäre, hätte er es verhindern können. Dann wäre jetzt alles anders. Es wäre alles wie früher.
Major Maliina schwieg länger, als er es erwartet hatte. „Ihr Gesichtsausdruck verrät mir, dass Sie wissen, was unser weiterer Verdacht ist.” Er wiegte den Kopf dabei leicht hin und her, denn er wollte nicht hören, was sie zu sagen hatte.
Die Frau seufzte. „Zu diesem Zeitpunkt gehen wir nicht von einem Selbstmord aus. Ihre Mutter mag zu dem Zeitpunkt potenziell gefährdet gewesen sein“, Nemo schaute auf, „aber sie hätte das wohl kaum in direkter Anwesenheit von Ihnen und Ihrem Bruder vollzogen. Natürlich kann es nicht vollkommen ausgeschlossen werden, es ist immerhin bekannt, dass psychische Erkrankungen wie auch die posttraumatische Belastungsstörung ihrer Mutter, zu irrationalem Verhalten führen können und Suizid fast immer irrational ist.“
Nemos Gedanken schwammen wie stückiger Eintopf in seinem Kopf herum. „Also war er es wirklich“, nuschelte er und unter anderen Umständen hätte er sich dafür geschämt, wie wenig überrascht er dabei klang.
„Davon gehen wir aus, ja.”
Nemo wollte nichts spüren, nicht jetzt, gar nicht.
„Natürlich nicht davon, dass er es mit Vorsatz getan hat. Aber wir dürfen nichts ausschließen.“
Du solltest im Land bleiben, Shadrach. Du solltest hier bleiben und nie wieder weg gehen, du solltest...
Es raschelte, als Major Maliina die Akte öffnete und Bilder herauszog und er wollte keine Bilder sehen. Er hatte genug Bilder von diesem Abend jedes Mal vor Augen, wenn er eben jene schloss. Trotzdem konnte er in jenem Moment die Augen nicht schließen. Er musste sehen, was Major Maliina ihm zeigte.