„Was hat Ihr Bruder Ihnen gesagt, bevor wir aufgetaucht sind?“ Sie sollte einfach zeigen, was sie zu zeigen hatte. Nicht aufschieben. Nicht herauszögern. Nemo baute ungewollt Augenkontakt mit ihr auf und er hielt dem nicht stand.
Nemos tiefe Atemzüge bewirken nicht das, was er sich erhofft hatte. Stattdessen brachten sie Kälte und dröhnendes Rauschen in jedes Körperteil. „Er hat gesagt, ich soll... Dass ich ihn wegbringen soll und er würde mir alles sagen und ich weiß nicht was und... Ich...“ Nemo biss die Zähne zusammen, wog den Kopf hin und her. Wo war Shadrach jetzt? Was war auf den Bildern? Er hatte richtig gehandelt. Er hatte das Richtige gemacht und alles würde sich aufklären und wieder gut werden. „Er hat gesagt, ich soll sie... Finnya...“ Es war alles Shadrachs Schuld. „Unsere Mutter... Ich sollte sie grüßen.“
Major Maliina nickte. Langsam und viel zu lange und für ein paar Momente war es still, in denen Nemo mit seinen Gedanken allein gelassen wurde.
„Wir haben am Ort des Geschehens auch sehr viel Blut von Shadrach gefunden. Deshalb haben wir die Folgetage nach dem Ereignis die Krankenhäuser im Umkreis genau überwachen lassen, während wir den Wald durchsucht haben.“
Nemo erinnerte sich. Die Suchen im Wald – es gab sie öfter. Seine Heimatprovinz, der Ljumeshsuna, hatte den Wald sogar in seinem Namen. Die größte Provinz auf dem ganzen Kontinent stand im ewigen Kampf mit dem eigenen Forst und die Suchaktionen waren häufig. Die Leute gingen hinein und sie kamen nie wieder heraus. Manchmal fanden sie Überreste später, gut erhalten im Eis oder weniger gut erhalten im Wald. Manchmal waren diese Überreste so alt oder sogar älter als der Krieg vor zwanzig Jahren. Doch die meisten Verschwundenen wurden nie wieder gefunden. Wer einmal die Grenze im Wald hinter den steinernen Wächtern, den Meshesorg überschritt, der wurde nicht mehr gesehen. Nemo hatte immer gewusst, dass die Möglichkeit bestand, aber er hatte nicht gedacht, dass einmal eines seiner Familienmitglieder so gesucht werden würde.
„Wir haben nicht damit gerechnet, ihn zu finden. Sie wissen, wie schlecht die Chancen stehen, zumal wir die Anweisung hatten, uns nicht zu nah an der Grenze zu bewegen.“
Die Grenze war nicht immer da gewesen, auch wenn die Meshesorg schon immer gestanden hatten. Nemo konnte sich erinnern, wie das Militär die hohen Zäune aufgestellt hatte, damit niemand mehr hineinging. Und dennoch geschah es. Als ob ein wenig Draht das abhalten konnte, was hinter der Grenze lauerte und rief.
„Na ja. Bis wir in der Nähe der Suneijmeshesorga das hier gefunden haben.“ Endlich holte die Frau Major die Bilder hervor, die sie schon seit einer Weile zwischen den Fingern hatte. Es waren große Abzüge und sie breitete sie vor Nemo aus und obwohl er nicht hinsehen wollte, konnte er den Blick nicht davon abwenden.
Zuerst waren es Blutspuren Schnee, kaum erkennbar, da Neuschnee gefallen war, bevor er entdeckt worden war. Doch der dichte Wald hatte dafür gesorgt, dass nicht alles hatte abgedeckt werden können, und so waren sie aufgefallen und angeschaut worden. Mit jedem weiteren Bild wurde deutlicher, was unter dem Schnee versteckt lag. Symbole, die sich tief in den Boden gebrannt hatten, innerhalb eines Kreises – ein Siegel, entweder für einen Zauber oder einen Fluch. Nemo wusste, dass komplizierte Zauber komplizierte Siegel erforderten und vor allem Flüche sich dauerhaft einbrennen konnten. Aber er hatte noch nie von einem Beispiel gehört, bei dem es so extrem gewesen war.
„Warum...?“ Er betrachtete die Zahlen in dem Kreis. Zauber und Flüche waren Zahlen zugeordnet und die Zahl, die am meisten in dem Kreis erschien, war die Siebzehn. Die Siebzehn stand für den Heilzauber, der eigentlich keine komplizierten Symbole und Siegel benötigte. Vielleicht hatte Shadrach heilen wollen – sich selbst? Finnya? Heilung so kompliziert, weil es nicht mehr viel Leben zu retten gab, dass sie ein Siegel benötigte?
Doch dann fiel ihm die andere Zahl auf. Die Vierhundertzwölf. Kleiner, dafür überall, immer und immer wieder.
„Ich weiß nicht...“, sagte Nemo fast tonlos. Er wusste es nicht und er wollte nicht darüber nachdenken. Ein Gedanke pochte in seinem Hinterkopf herum, bereitete Schmerzen, dennoch wollte er ihn nicht zulassen. War es ohne weitere Bedeutung gewesen, dass ein Geist in seiner Küche gesessen und ihm die Daten gegeben hatte? Existierte Bedeutungslosigkeit überhaupt in einem System des Schicksals, dessen Fäden omnipräsenter waren, als Nemo es bisher hatte wahrhaben wollen?
„Schauen Sie es sich genau an, Milius“, forderte Major Maliina ihn auf und deutete darauf, auf die Symbole, die Nemo zuordnen konnte. Sie dienten, um Dinge zu verschließen oder aber zu rufen. Er wusste, dass es ein Beschwörungskreis war. Er wusste es und schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte er nur oder vielleicht sagte er es auch nicht. Es war kein Beschwörungskreis. Nicht für sie Siebzehn. Nicht für das, was sich hinter der Siebzehn verbarg. Woher sollte Shadrach einen so komplizierten Zauber kennen? Soweit Nemo wusste, beherrschten sie beide noch nicht einmal die Standardzauber problemlos, dann funktionierten auch nicht komplexe Beschwörungen. Und schon gar nicht die Beschwörung... die Beschwörung von... von einem...
„Ihrem Bruder ist eine Geisterbeschwörung gelungen, Milius.”