„Wir müssen einen Plan machen. Du schaffst es sonst nicht.” Shins Stimme war stets weich, dennoch war ihr der Nachdruck gut herauszuhören.
Shadrach wollte nicht genervt sein, dafür hatte er ihr zu viel zu verdanken. Vielleicht war es einfach die allgemeine Anspannung, die ihn stresste. Vielleicht war es das.
„Seit wann funktionieren Pläne? Der Plan war eigentlich, ohne Aufsehen Avasikuu zu verlassen.“ Dank seines dummen Bruders hatte das hervorragend geklappt.
„Natürlich kommen gern Sachen dazwischen. Aber es wird doch wohl eher schief gehen, wenn man sich planlos ins Geschehen stürzt.“
Shadrach zuckte mit den Schultern. „Ich geh zu Fuß zum Stadtrand und halte mich an Regionalzüge und geh sonst immer mal zu Fuß und was weiß ich.“
„Wie willst du dich verpflegen? Und du brauchst Karten, sonst kommst du nicht weit.“ Shin hatte die Augen geschlossen und verzichtete offensichtlich gerade auf magisches Sehen. Es ergänzte kein fehlendes Augenlicht und zog Energie; sie hatte schon zuvor manchmal angemerkt, dass sie es genoss, auch einfach mal nichts zu sehen.
„Ich hab doch Geld.“ Shadrach zuckte mit den Schultern. Als er das letzte Mal einen Plan gemacht hatte, hatte nicht nur sein unfähiger Bruder dort gewartet, sondern auch noch das Militär. Das war nicht so schön gewesen, als dass er es gern noch einmal erlebt hätte.
Sie seufzte. „Karten kann ich dir von zu Hause besorgen und vielleicht haben wir auch noch irgendwo Zugtickets für die Union.“
„Ihr reist per Zug?“, fragte er nach. Obwohl er jetzt seit mehreren Monaten regelmäßig Kontakt zu Geistern hatte, fand er es noch ein wenig befremdlich. Je mehr er über jene erfuhr, die das Schicksal der Welt lenkten, desto mehr nahm es ihnen den Mythos. Allein, dass Shin die Nebendimension Kaedun als zu Hause bezeichnete, hörte sich für ihn eher an wie eine Studenten-WG, bei der sich alle gegenseitig stets Gehfehler verpassen gingen, als nach einem mächtigen Pantheon. Es war wild.
„Wenn es sein muss, klar. Ich mag es nicht so, aber es ist schon ein schnelles und praktisches Transportmittel. Wir sollten aufschreiben, was du alles brauchst. Ich kann dir alles besorgen und dann schauen wir, was der beste Weg ist.“
Shadrach konnte sich unterstehen, mit den Augen zu rollen. Das war kindisch, aber es machte seine Gefühle über die Planung nicht weniger real. Er wollte es hinter sich bringen, vor allem hinter sich lassen und möglichst nie wieder daran denken.
Theoretisch konnte er ihr sagen, dass sie ihn einfach in Ruhe lassen sollte. Aber er wusste nicht, ob es schlau war, sie auf diese Art und Weise abzuweisen. Letztendlich war sie immer noch der Todesgeist, der bis zum Ende seines Lebens an ihn gebunden war und er wollte sich auf sie verlassen können. Direkt konnte sie ihm nicht schaden, hatte sie gesagt. Mehr nicht. Aber wenn es ein direkt gab, gab es eben auch ein indirekt und das hatte sie nicht erwähnt. Stattdessen hatte sie einfach noch gesagt, dass ein paar ihrer Kollegen stressig waren.
„In Ordnung.” Er fand es nicht in Ordnung. Aber das musste sie nicht wissen.
„Wirklich?“, fragte sie und klang ein wenig skeptisch dabei.
„Was sonst? Du bist älter als ich, du wirst es besser wissen.“ Das war nicht einmal gelogen. Besser gewusst bedeutete nur automatisch halt nicht auch besser gemacht.
“Hm. In Ordnung. Ich vertraue dir da. Ich werde bald losmachen und dir alles besorgen, was wichtig ist. Ich möchte, dass du so lange hier bleibst und wir den Rest dann am Abend besprechen.“
Er nickte.
„Hilf einfach noch ein wenig in der Küche, wenn sie dich brauchen. Vielleicht kann ich dir nachher ein paar Bücher mitbringen, das wird sicher nicht schlecht sein, wenn du noch etwas hier und dann unterwegs bist. Lange Zugfahrten sind langweilig.“
Sie lächelte ihn an und Shadrach erkannte ein wenig zu spät, dass er zurücklächeln musste. Es war komisch.
Shin erhob sich. „Bleib einfach hier und... Ja. Bleib einfach hier.“
„Ich bleib hier“, wiederholte er ohne Intonation. Shin machte ein sehr ausdrucksloses Gesicht, das er nicht deuten konnte, dann seufzte sie und ging.
Shadrach schaute ihr nach und blieb sitzen. Um ihn herum war wenig los, vermutlich, weil es noch sehr früh und mitten in der Woche war. Die Geräusche verschwammen zu einem stetigen Rauschen. Es hörte sich an wie der Wind in den Baumkronen. Nadeln, die hinab fielen.
Ein Donnerschlag.
Sich schüttelnd stand Shadrach auf. Er nahm seine Tasse mit, stellte sie in die Spüle und ging weiter seiner Arbeit nach. Diesmal versuchte niemand, mit ihm Smalltalk zu betreiben, worüber er definitiv nicht traurig war. Er putzte zwei der fünf großen Kühlschränke, bis ihm aufgetragen wurde, etwas aus dem Lager zu holen, das im Keller lag. Kommentarlos stieg Shadrach die feuchten Treppen hinab, betätigte den Lichtschalter.
Die Glühbirne knallte und für einen Moment umspielte sichtbare Elektrizität die Leitungen. Kleine, helle Blitze, die sich ihren Weg zurück suchten. Shadrach starrte an die Decke, bis das letzte Licht verloschen war.
Wind in den Bäumen.
Herabfallende Nadeln.
Shadrach ließ den Schlüssel zum Lager fallen, machte auf den Fersen kehrt und rannte die Treppe hinauf. Die Geräusche aus der Küche und dem Gastraum entfernten sich und übrig blieb ein langer, schwarzer Tunnel, in dem nicht einmal Shadrachs Schritte Töne erzeugten.
Er hatte nicht viel bei sich und von diesen wenigen Dingen nicht viel ausgepackt, dass er wieder zurück in seine Tasche stopfen musste. Zuletzt band er sich einen Schal um, den er über die Nase zog, öffnete das Fenster. Er durfte nicht gesehen und nicht gefunden werden.
Sein Zimmer war im zweiten Stock, doch zum Glück befand sich unter seinem Fenster ein Fahrradschuppen, der den Weg hinab weniger kompliziert gestaltete. Es war nicht das Gleiche wie auf Bäumen zu klettern, doch er war im Gebirge aufgewachsen, er kam auch mit Stein zurecht. Shadrach schwang sich über das Fensterbrett und ließ sich hinab hängen, bis er mit den Füßen einen Ziersims erreichte und sich so seinen Weg bis auf das Dach bahnen konnte, von dem er dann wesentlich leichter hinab kam.
Shadrach hielt kurz inne und schaute noch einmal hoch. In seinem Kopf tönte ein Unwetter, als er sich endgültig abwandte. Rubrica lag vor ihm. Er musste hier weg.