Shadrachs Blick hing eine Weile in der Leere und ihm fiel auf, wie müde er war. Mit träger Bewegung fasste er sich in die Hosentasche, holte ein Bündel Karten hervor, die ein klebriger Schnipsgummi mit gutem Willen zusammenhielt. Bargeld, die Fahrkarte für Rubrica, und irgendwo in den Untiefen seiner Hose fand er auch noch einen Plan der Stadt. Er klappte ihn auf und versuchte herauszufinden, wo er sich eigentlich befand, jedoch ohne Erfolg. Im Rennen war er stets planlos in die Gasse gebogen, die am meisten Gewinn versprochen hatte, und nun war ihm ein Rätsel, wo er steckte.
Er seufzte schwer und entschied sich vorerst, noch ein paar Minuten sitzen zu bleiben, ehe er sich wieder heraus traute. Als er dann aus der Gasse hervortrat, hatte er den Schal wieder im Gesicht, bemüht darum, die blutige Seite nicht nach außen zu zeigen. Dass seine Haare jetzt eine andere Farbe hatten, war ein großer Vorteil. So würde selbst ein Kampfmagier genauer hinschauen müssen.
Die Luft der Stadt war stickiger als zuvor. Die Wolken hingen tief und bedeckten den Himmel und die einbrechende Abenddämmerung ließ die Stadt sich schneller und hektischer bewegen, als würde sie sich erinnern, was es noch alles vor der Nacht zu erledigen gab. Shadrach spürte seinen gesamten Körper sehr intensiv, während er durch die Straßen lief. Er versuchte nicht so unauffällig zu sein, dass es jedem sofort ins Auge stechen würde, auch wenn ihn generell die Ahnung beschlich, dass es in den Straßen von Rubrica kein Gut und kein Schlecht gab, nur Glück und Pech. Bisher hatte er selten zu den glücklichen Leuten gehört, und so war er knapp davor, zum Schicksal oder sonst irgendjemandem zu beten, der ihn erhören und hiervon erlösen würde.
Er wusste nicht, was passieren würde, würden die Großmeister und somit die Akademie, das Militär und der Staat selbst ihn in den Fingern halten. Die Akademie wäre definitiv interessiert; seltene Fähigkeiten plus erhöhter Magiehaushalt durch Geisterpakt machten ihn für das Militär der Union unfassbar sexuell attraktiv und Shadrach wusste, er war erst fünfzehn und Dinge würden sich ändern, aber er war sich sehr sicher, dass er dem Militär diese Zuneigung niemals würde zurückgeben können. Shadrach sah sich nicht im Militär, gar nicht, weder hier noch zu Hause. Vielleicht war es gut, hatte er so schlecht mit dem Schicksal gepokert, dass er jetzt die Möglichkeit hatte, all dem zu entfliehen.
Als er vor sich eine Ansammlung an Menschen entdeckte, sah er auf. Wie vermutet, war an diesem Platz im westlichen Zentrum der Stadt der nächste Bahnhof. Leider war sein Weg bis dahin zum größten Teil durch eine undurchdringbare Menschenmenge versperrt. Shadrach streckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Leute hinwegzusehen. Zum Glück war er recht groß.
Geräumt. Der Bahnhof war geräumt und gesperrt. Shadrach ächzte leise und verstand aus ganz anderem Grund die angespannte Stimmung der Leute um ihn herum. Selbst wenn dieser Ort als Bahnhof nicht in Betrieb war, hätte er zumindest gern die öffentlichen Toiletten benutzt, um sich endlich das Gesicht richtig waschen zu können.
Shadrach lief eine Gänsehaut über die Arme. Angewandte Magie war in der Luft spürbar wie ein leichtes Kribbeln, wie leise Geräusche, auf die man achten musste, um an der Tonlage zu erkennen, was auf einen zukam. Shadrach war nicht gut darin. Finnya hatte es versucht, Nemo und ihm beizubringen, mehr als nur einmal, aber er war schnell abgelenkt gewesen und Nemo hatte immer nur herum geheult dass er es nicht konnte.
Shadrach duckte sich zur Seite, um in der Masse besser unterzugehen. Der abgesperrte Bahnhof war unpraktisch, es wirkte, als hätte man ohne Rücksicht auf Verluste und Fahrpläne einfach alles dicht gemacht und die Leute so wie sie waren aus dem Gebäude gekehrt. Dann musste er sich eben etwas anderes überlegen, sie konnten ja nicht alle Bahnhöfe der Stadt…
Shadrach stockte. Da war es wieder, dieses leise magische Summen. Es musste ganz nahe sein, denn es ließ nicht nach. Er schüttelte den Kopf, schlug dagegen.
Ein Donnerschlag.
Shadrach überquerte den Platz, schob sich zwischen den Leuten hindurch und nahm die nächste Querstraße. Die hohen Häuser Rubricas ragten über ihm auf und ließen ihn sich klein neben all dem fühlen, als würden sie hinunter zu ihm schauen, wissend. Shadrach schlug sich mit der flachen Hand erneut gegen die Schläfe. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, er musste eine Lösung finden, die keine Magie involvierte. Shin rufen war kompliziert, bis der Blockadezauber nachließ. Natürlich ging es noch immer, weil eine Geisterbeschwörung auf eine andere Form von Magie zugriff, aber es war komplizierter und er wusste nicht, wie viel Erfolg er sich dadurch versprechen konnte. Der Schlüssel dazu hing um seinen Hals. Vielleicht war vorerst die beste Möglichkeit, einfach im Dunkel der Nebenstraßen zurück zu seiner Unterkunft zu laufen und sich bei Shin für seine Dummheit zu entschuldigen.
Das Viertel um ihn herum hatte eine merkwürdige Aura - anders konnte er nicht beschreiben, was er fühlte. Einige Gebäude waren älter als andere, was er vielleicht von seiner Heimatstadt kannte, aber das lag daran, dass Rijek im Krieg schwere Treffer erlitten hatte, was bei Rubrica definitiv nicht der Fall gewesen war und er im Rest der Stadt bisher auch noch nicht gesehen hatte. Die Gebäude hier schienen häufig beschädigt worden zu sein und obwohl viele Gebäude herunter gewirtschaftet aussahen, war dies ein Viertel mitten in der Stadt, dessen Klientel nicht zur Optik der Gebäude passte.
Shadrach hatte eine ungute Ahnung, wo er sich befand. Er hätte vorhin, als er aus der Bahn gekommen war, schauen sollen, an welcher Haltestelle er sich befand. Leider war er zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
An der nächsten Kreuzung stand jemand, schaute in seine Richtung. Erneut erblickte er die blau-weiße Großmeister-Uniform und blieb stehen. Er starrte die Frau an - eine andere als zuvor. Und sie starrte zurück.