Shadrach holte tief Luft und machte vorsichtig einen Schritt nach hinten. Vermutlich wäre es schlauer gewesen, hätte er einfach gar nicht reagiert, denn seine Reaktion verriet ihn neben den komischen Verletzungen in seinem Gesicht wohl am meisten.
"Shadrach Suna!”
Irgendetwas in ihm verknotete sich beim Gedanken daran, dass genau bekannt war, wer er war. Am schlausten wäre es, jetzt aufzugeben. Der Rest wäre Zeitverschwendung. Doch er wollte nicht. Wenn er jetzt aufgab, dann war sein Leben genau so gelaufen, als wäre er in Hostrimaa geblieben, und in Avasikuu hatte er auch nicht aufgegeben, obwohl man ihm einen brennenden Stempel in die Wangen gedrückt hatte. Auch dort hatte er keine Magie gehabt, und es bestand immer noch die Möglichkeit, Shin zu sich zu rufen.
Mit einem Mal ging eine ohrenbetäubende Sirene los. Schrilles Kreischen hallte durch die Straßen um Shadrach, klingelte ihm im Gehörgang.
Dann fuhr er herum und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Die Anspannung in seiner Brust erschwerte ihm das Atmen und er merkte, dass auch seine Gedanken sich nur schwer bündeln ließen. Er hetzte um eine Kurve, genau im richtigen Moment, da er im nächsten den Druck eines umgekehrten Schutzzaubers verspürte. Er ächzte, konnte sich aber keine Zeit zum Durchatmen geben. Der Schutzzauber war gut, wenn er das tat, wofür er da war, nämlich schützen. Wenn man die magische Barriere jedoch verwendete, um Dinge - oder noch schlimmer, Leute - zu rammen, dann war es alles andere als spaßig.
Auch der nächste Zauber verfehlte ihn knapp, traf jedoch einen baufälligen Zaun, dessen Bestandteile Shadrach um die Ohren flogen. Er keuchte auf, als sich ein größerer Splitter in seinen Oberarm bohrte.
Nach einem zwischen den Lippen hervor gepressten Fluch, zuckte seine Hand zum Splitter, aber er entschied sich dagegen, ihn zu ziehen - rennend hatte er keine Zeit dafür. Außer Atem erreichte er einen Platz gegenüber einem Fluss und erlaubte sich nicht, stehen zu bleiben. Eine Brücke führte zum gegenüberliegenden Park. „Lavitelle-Park“ verkündete ein großes Schild dort, Shadrach verstand nicht, wie das hatte passieren können. Wofür hatte er sich extra eine Zuglinie ausgesucht, die nicht durch das Viertel ging, in dem die Magieakademie der Union stand? Wo sich nicht die meisten Magier der Welt aufhielten?
Jeder Atemzug brannte in seinen Lungen, als er sich über die Brücke schleppte. Leider kam er nicht weit.
Am anderen Ende wartete schon die nächste Frau Großmeister auf ihn. Es war die gleiche wie bei der ersten Begegnung, und sie sah nicht aus, als würde sie ihn einfach an ihr vorbei lassen.
„Shadrach Suna“, sprach sie. „Du wirst uns begleiten. Und du wirst uns keine weiteren Umstände bereiten.“
Shadrach wollte nicht lachen, tat es aber trotzdem. Das, was aus ihm heraus platzte, klang sehr müde und verzweifelt. „Lasst mich einfach gehen, ich schwöre, ich stell nichts an“, sagte er schleppend mit erhobenen Händen, wobei er sich weder Gedanken über Aussprache noch über Grammatik machte. Er war zu müde für solchen Scheiß.
“Wir können keine Magier frei herum laufen lassen. Schon lange keine Hostischen.“
Die andere Frau Großmeister erschien ebenfalls. Shadrach biss sich auf die Zunge, dann schaute er auf das Blut an seinen Händen. Es war frisch, also kam es wohl von seinem Arm und nicht aus seiner Nase.
„Wir wollen dir nicht weh tun“, sagte die Frau Grossmeister hinter Shadrach. Sie sprach in heftigem Akzent, den er nicht zuordnen konnte. „Bitte komm einfach mit. Wir haben deine Sachen und es ist nicht weit bis zur Akademie.“
Die Magierin machte einen Schritt auf ihn zu. Shadrach konnte nicht zurückweichen, wenn er nicht der anderen in die Arme laufen wollte. Würde er in den Fluss springen, wäre er nicht schnell genug, außerdem donnerte in hundert Metern Entfernung ein Wehr. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Er hob langsam die Hände. Sein Leben war vorbei. Schlimmer machen konnte er es nicht.
Shadrach packte das Band um seinen Hals, zog den Anhänger daran hervor - ein Papiertalisman mit seidener Oberfläche, auf dem eine große Siebzehn prangte. Das Blut an seinen Fingern saugte sich in den Talisman wie Tinte in Löschpapier.
„Shadrach, lass das! Nimm die Hände runter!“
Die Worte für die Beschwörung hatten sich seit jenem Abend in sein Gedächtnis gebrannt. Er wusste nicht, warum genau dieser Zauber auch über Worte funktionierte, und es war ihm egal.
„Vajawet, ma chajhwen imajat-"
Ein Zauber traf ihn frontal im Gesicht, als hätte ihm jemand mit einem großen Wok auf die Nase geschlagen. Shadrach keuchte, sah Sterne. Dann warf ihn irgendetwas oder irgendjemand um. Er rollte sich zur Seite, den Beschwörungstalisman fest in der Hand, doch er war nicht in der Lage in Worten zu denken, schon gar nicht in magischen.
„Vajawet“, röchelte er. Ihm wurde der freie Arm auf den Rücken gedrückt und er schrie, denn es war der Arm mit dem Splitter. Sein Blick lag auf dem Talisman, seine Finger krallten sich in das seidige Papier, als wäre es der rettende Fels in der Brandung. Die Beschwörung war nicht schwer, er konnte es immer noch…
"Ich beiß euch die Finger ab", presste er hervor, das Gesicht am Boden. Sich zu wehren half nicht. Ihm wurden die Finger auseinandergezogen, Stück für Stück, bis die Magierin ihm den Geisterzettel abnehmen konnte. Shadrach versuchte ein letztes Mal, ihn zurückzubekommen, aber sein Gesicht wurde in den Boden gedrückt, seine Arme nun beide auf dem Rücken.
Es war vorbei.