Tarja hatte ihre Alltagskleidung gegen die des Militärs getauscht. Weder war sie komplett uniformiert noch voll ausgerüstet, aber solange sie noch nicht im Dienst war, reichte es so. Schwere Stiefel, eine weite, schwarze Hose mit viel Bewegungsfreiraum und Hosenträgern über einem mitternachtsblauen, eng anliegendem Shirt. Besonders war ihr Armband aus dickem Leder, verziert mit acht metallenen Halbkugeln, das sie am rechten Handgelenk trug. Ein magischer Verstärker, den nur ihr Clan benutzte.
Sie ließ die Hosenträger schnipsen, dann lief sie an Nemo vorbei zur Treppe. „Na los. Der Oberfeldwebel kriegt ‘ne Krampfader, wenn wir nur anderthalb Minuten zu spät sind.“
Nemo folgte. Vor der Treppe nahm er Unna wieder hoch, um Zeit zu sparen, da ihre kurzen Beinchen Probleme mit den Stufen hatten und er ihre Knie nicht unnötig belasten wollte.
„Wie war der Tag bisher?“, erkundigte sich Tarja, als die drei das Gebäude verlassen hatten und den Weg zur Straßenbahnhaltestelle einschlugen.
„Wie immer“, antwortete Nemo. Er versuchte angestrengt, das Kopfsteinpflaster spannend zu finden.
„Lass mich raten“, begann sie. „Du bist vor einer Stunde aufgestanden, hast geduscht, eine geraucht und dich dann auf den Weg gemacht?“ Wie er sie kannte, hatte sie ihre buschigen Augenbrauen dabei hochgezogen. Doch er sah nicht hin.
„Nein, nein. Bin kurz vor Mittag auf und hab an der Hausarbeit für Tribunisch weiter gemacht.“ Das war eine Lüge. Er hatte seit zwei Wochen nicht daran gearbeitet. Tatsächlich hatte Tarja mit ihrer Vermutung wesentlich näher an der Wahrheit gelegen, als es ihm lieb war.
„Nemo, du musst dich in den Griff kriegen.“
„Ich hab mich im Griff“, sagte er sehr schnell und auch etwas lauter als zuvor.
„Du musst raus. Es tut dir nicht gut, nur zu Hause zu hocken, jetzt in den Ferien.“
„Ich gehe raus. Wäre mir zumindest neu, dass Unna allein Gassi geht.“
„Du weißt genau, was ich meine.“ Es gab wenig Schatten an der Haltestelle. Nemo zog die Schultern an, um seinen Hals zu schützen. „Ich meine soziale Kontakte. Hast du mit deinen neuen Klassenkameraden innerhalb der letzten Monate eigentlich überhaupt ein einziges Wort gewechselt?“
„Dafür gibt es Gruppenarbeiten.“ Die Straßenbahn war in Sichtweite.
„Oh Sadnaval“, ächzte Tarja. „Du isolierst dich.“
„Ja, und?“ Er nahm Unna auf den Arm, um sich für sie das Bahnticket zu ersparen. Der Berufsverkehr ging allmählich los. „Das ist das erste Trimester. Ich pack das schon, ich muss mich nur einfinden.“
„Ich mache mir Sorgen. Du... Hm...“ Sie schnaubte und schaute kurz weg. Die beiden betraten die Straßenbahn und suchten sich einen Sitzplatz. Unna saß auf Nemos Schoß und ließ sich von beiden streicheln. „Wann hast du deinen nächsten Termin bei Doktor Grigorijew?“
„Nächsten Mittwoch.”
„Gehst du hin?“
„Ja.“ Sie fuhren los. „Warum sollte ich nicht?“
„Ich weiß nicht.“ Tarja zuckte mit den Schultern. „Es ist nur… Ich sehe dir seit Frühjahr zu, wie du von einem Tag zum nächsten kriechst. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht und...“
„Ich habe auch allen Grund dazu! Und warum sollte ich wollen, dass das so bleibt? Denkst du, mir macht das Spaß?“
„Ist schon gut.“ Sie winkte ab und schwieg für einen Moment. Nemo hieß das Willkommen und beobachtete, wie Straßenzug um Straßenzug an ihnen vorbei rauschte. Die Bahn befand sich mittlerweile in der Nähe des Hauptsitzes der Kraskow, dem Anwesen einer der beiden in der Stadt lebenden Clans. Kurz bevor es jedoch in Sichtweite kam, bog die Bahn ab und nahm den Tunnel durch den Berg in der Mitte der Stadt.
„Warum hast du dich eigentlich schon in der Schule schon umgezogen?“, fragte er irgendwann, als er draußen nichts mehr sah.
„Hab ich doch gesagt. Ich will nicht zu spät für den Dienst sein, nur weil ich mich erst vor Ort sortiere“, antwortete sie, ohne ihn dabei anzuschauen. Stattdessen stand sie auf, da die Bahn langsamer wurde. Es gab eine Haltestelle in den Tunneln und dort mussten sie wechseln.
„Ist nicht so, als könntest du notfalls Magie verwenden“, nuschelte er. Eigentlich war es ihm egal, wo sie Klamotten wechselte.
Sie stiegen aus; Tarja schnaubte. „Ich weiß nicht. Theoretisch, ja. Aber irgendwie... Ich mache es weniger, seit ich in Avasikuu bin. Geht dir doch nicht anders, oder?“
Er nickte. Sie hatte definitiv andere Gründe als er. Früher, als sie noch zu dritt in ihrer Heimatstadt am Ende der Welt gewesen waren, hatten sich Nemo und Tarja immer wild herum teleportiert – sehr zum Ärgernis von Nemos Bruder, der diese Fähigkeit nicht besaß.