Die Untersuchung stellte sich als weniger schlimm heraus als erwartet. Dennoch fühlte Nemo sich unwohl, als er sich neben Unna auf den Eingangsstufen der Magieakademie niederließ und sich eine Zigarette anzündete. Tarja wollte noch einmal mit ihm reden. Zumindest hatte sie das gesagt und er würde warten. Was sollte er sonst machen?
Das Gebäude war genauso heruntergekommen wie die Musikschule. Es hatte keine Brandschäden, aber in den Wänden waren kleinere Löcher, die von leichter Artillerie stammten. Dabei könnte die Militärakademie sehr majestätisch sein, wie sie hier am Rand der Stadt stand, halb in einen Fels hinein geschlagen. Doch auch für das Militär konnte nicht mehr Geld abgezwackt werden, als vorhanden war. Es war kein Geheimnis, dass die Staatskassen leer waren.
Mit einer Hand streichelte Nemo Unna. Wenn er sich nur auf ihr glattes Fell konzentrierte, vielleicht... Vielleicht war dann kein Platz mehr für anderes Zeug in seinen Gedanken. Vielleicht konnte er einfach abschalten. Durchatmen. Noch zwei Trimester. Er hatte noch zwei Trimester Zeit, sich irgendetwas einfallen zu lassen.
Er holte seinen Pass hervor, den er vorhin einfach in die Tasche gesteckt hatte. Das Bild war alt und sah gewohnt hässlich aus. Vor drei Jahren war er gefühlt noch bleicher gewesen als jetzt, aber mit weniger Augenringen und vor allem noch mehr Babyspeck im Gesicht. Tarja kniff ihm trotzdem immer noch gern in die Wangen.
„Milius Finnyarin Suna“, hatte der Stabsarzt vor der Untersuchung gesagt und Nemo das Gefühl gegeben, dass er den Namen einfach sehr gern komplett sagte. „Wir setzen große Erwartungen in Sie. Ihr Land wird nie vergessen, was Ihre Familie geleistet hat, das können Sie mir glauben.“
Nemo hätte gern angemerkt, dass Talent häufig einen Generationssprung machte, sich ein Glück aber noch rechtzeitig eines Besseren besonnen.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Tarja, als sie sich zu ihm setzte. Er spürte ihren richtenden Blick, denn sie mochte es nicht, wenn er rauchte. Gleichzeitig wusste sie aber, dass sie es – obwohl sie sein legaler Vormund war – nicht verbieten konnte. Sie war eben nur seine drei Jahre ältere Cousine.
„Ich, uh...“, setzte er an und wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte. „Ich bin froh, wenn das Schuljahr jetzt noch möglichst lange geht.“ Vielleicht würde er die Abschlussprüfungen im Dezember mit Absicht verhauen, damit er die zehnte Klasse noch einmal machen musste. Das wäre der bequemere Pfad als ins Militär zu gehen – er war einfach kein Mensch dafür. Eigentlich hätte er gern etwas Kreatives gemacht, vielleicht an der Musikhochschule. Aber ihn fragte ja keiner und für seine Wünsche interessierte sich erst recht niemand. Alles was blieb, war nach der militärischen Grundausbildung sich irgendetwas auszusuchen, das Magie beinhaltete, oder in der Armee zu bleiben. Keins davon gefiel ihm.
„So schlimm?“
Als er darauf schwieg, seufzte sie. „Du gewöhnst dich daran.“
„Es gibt Dinge, an die kann man sich nicht gewöhnen.“ Er drückte die Kippe aus, dann band er Unna los und stand auf. Er wollte nach Hause, vorgaukeln, an der Hausarbeit arbeiten zu wollen und es am Ende doch nur nichts machen. Schließlich war es nicht wichtig. Warum musste er einen Text bis ins kleinste Detail analysieren, wenn er am Ende unabhängig von sämtlichen Noten in sämtlichen Fächern ohnehin ins Militär geschickt wurde?
„Dann formuliere ich das mal anders.“ Auch Tarja erhob sich: „Es gibt Dinge, an die muss man sich gewöhnen.“
„Aber ich will mich nicht daran gewöhnen!“
„Das wird dich im Leben nicht voran bringen.“ Tarja behielt ihre Lautstärke bei, aber sie sprach mit mehr Nachdruck. „Es werden immer wieder ungefragt und unkontrolliert Dinge geschehen, ob du nun willst oder nicht.“
„Ich weiß, ich wär sonst nicht hier.“ Nemo schaute zu Unna. Er mochte es, wie unbeschwert sie war. Er wollte zurück nach Hause.
Tarja seufzte. Es war eine unangenehme Stille und Nemo hätte sich gern einfach ganz weit weg teleportiert und obwohl er das theoretisch sogar konnte, machte er es nicht. Unna hätte es nicht vertragen.
„Ich muss los“, sagte Tarja, nachdem eine geschlagene Minute verstrichen war.
Nemo versuchte, sich gerade hinzustellen, doch seine Schultern hingen. Tarja gab ihm eine Umarmung. Er umarmte zurück.
„Ich will nicht, dass du aufgibst. Das ist alles“, sagte sie leise. „Ich habe doch außer dir und Mutter auch niemanden mehr in diesem Land.“
„Ich weiß“, seufzte er. „Vielleicht… Vielleicht kommt Shadrach bald zurück.“
Erneut schwieg sie lange und er wusste, dass sie darauf nichts erwidern wollte. „Ja“, sagte sie dennoch. Sie log. „Vielleicht.“ Anschließend löste sie sich von ihm und schaute auf. „Komm gut nach Hause, ja?“
Er nickte.
„Und rauch nicht so viel, so lange ich weg bin. Wenn du ins Militär kommst, brauchst du eine gute Kondition und mit Teerlunge wird das nichts.“
Daraufhin musste er sogar knapp lächeln. Doch er sagte nichts mehr, er machte sich nur mit Unna zurück zur Straßenbahnhaltestelle, während Tarja ins Akademiegebäude ging, um ihre Schicht anzutreten.
Der Rückweg verlief vollkommen ereignislos. Unna benahm sich und das einzige Neue war die Postkarte für Tarja im Briefkasten, die ihr ihre Freundin aus dem Urlaub geschickt hatte. Nemo klemmte sich Unna unter den Arm, um sie in die fünfte Etage zu tragen. Die Luft stand in der Wohnung und spontan war er sehr froh darüber, dass sie zumindest hohe Decken hatten. Er würde gleich durchlüften.
Die Postkarte für Tarja legte er auf das Vertikow im Flur, ehe er aus seinen Schuhen schlüpfte und Unna von der Leine löste, die gleich darauf in sein Zimmer lief. Als nächstes wäre er vermutlich selbst in sein Zimmer gegangen, um sich dort auf den Futon zu werfen und zu lesen oder sich nach langer Zeit mal wieder mit seinem Cello auseinanderzusetzen. Doch er tat es nicht, denn in jenem Moment fiel ihm der Tabakgeruch in der Wohnung auf. Sie wohnten nur zu zweit hier.
Unna kam angetapst, doch Nemo schob sie sanft mit dem Fuß zurück in sein Zimmer, schloss die Tür. Der Zigarettengeruch kam aus der Küche.
Nemos Herz schlug deutlich schneller. Er atmete langsam ein und aus und schloss kurz die Augen, ging in sich. Dann lief er zur Küchentür und öffnete sie.
In dem Raum saß jemand.
„Das ist schon die fünfte Zigarette, Herr Milius Suna“, sprach der fremde Mann am Küchentisch. „Ich dachte, Sie kommen nie.“