Nemo war in einer solchen Schockstarre, dass er nicht einmal reagieren konnte. Er starrte den Fremden an und versuchte, auch nur das Exposé der Situation zu begreifen, doch es ging nicht. Jeder Gedanke wurde im Keim bereits vom nächsten erstickt.
Der Fremde seufzte. „Wenn die Tür weiter offen bleibt, zieht der Rauch noch mehr in die Wohnung. Dürfte deiner lieben Cousine nicht so gefallen.“
Nemo schaffte es, sich auf die Zunge zu beißen, dann schloss er die Tür hinter sich. „Wer sind Sie?“, fragte er dann und eigentlich sollte es gefährlich klingen, aber seine Stimme war dünner als nordhostischer Kaffee. „Was sind Sie? Was machen Sie in meiner Küche?“
Der Fremde lachte und Nemo wusste nicht, ob er die Fragen witzig fand oder ihn einfach direkt auslachte. Dadurch konnte er jedoch seine Zähne sehen, deren Größe alles andere als normal war und eindeutig im nichtmenschlichen Bereich lag.. Nemo hatte noch nie so große Eckzähne gesehen. Sie erinnerten ihn an die Reißzähne eines Hundes und es war ein Wunder, dass man nichts davon merkte, sobald er den Mund schloss.
„Gut, dass Sie fragen. Ich komme in Frieden und in bester Absicht, also kein Grund zur Scheu. Setzen Sie sich doch. Wollen Sie einen Tee?“
Nemo hätte sich gern bewegt, schaffte es aber nicht. „Bieten Sie mir gerade meinen eigenen Tee an?“
„Auch eine?“ Der Fremde wedelte mit einer Blechdose herum, in der sich offensichtlich Zigaretten befanden. Das Logo gehörte zu einer tribunischen Firma, war aber schon sehr abgegriffen. Der Mann – was auch immer für ein Wesen er war, kam vermutlich aus dem Westen. Sein starker Akzent sprach dafür.
„Nein, danke“, sagte Nemo, wobei seine Stimme zwischendurch einen Schlenker über eine ganze Oktave machte. Er setzte sich an den Küchentisch, achtete darauf, so viel Abstand wie möglich zu dem Mann zu wahren.
„Wie zugeknöpft.“ Er machte ein amüsiertes Geräusch und zündete sich gleich darauf eine neue Kippe mit der alten an, um letztere auszudrücken und zur Küchenzeile zu gehen. Dabei fiel Nemo auf, wie groß er war – sicherlich einen Meter neunzig und seiner Statur nach zu urteilen musste er auch ordentlich Kraft haben, auch wenn er weniger kräftig als einfach athletisch wirkte. Er hätte gern den Mumm gehabt, ihn einfach aus der Wohnung zu schmeißen. Auf der einen Seite könnte er ihn packen, sich irgendwo ans letzte Ende von Avasikuu teleportieren, und dann ohne ihn wieder zurückkommen. Auf der anderen Seite...
„Für uns beide gibt es heute...“ Der Fremde starrte einen Moment lang auf die Teepackung, die er aus dem Schrank gezogen hatte. „Heiße Liebe.“ Daraufhin drehte er sich grinsend wieder um. Nemo hatte Respekt vor den Zähnen. Sein Instinkt sagte ihm, schleunigst zu verschwinden. Aber es gab Fragen, die er beantwortet haben wollte.
„Sie können sich entspannen, Milius. Ich bin nicht hier, um Ihnen irgendetwas anzutun. Ich will nur reden.“ Er stellte die beiden Tassen auf den Tisch, in die er die Teebeutel gehängt hatte. Dann erschien aus dem Nichts über seiner offenen Handfläche eine Wasserblase, die im nächsten Moment bereits kochte. Als er beide Tassen gefüllt hatte, lehnte er sich an die Küchenzeile.
„Wer sind sie?!“, platzte es aus Nemo heraus. In seinem Kopf kondensierte das Teewasser an der Schädelinnenwand. Er sprang auf; sein Stuhl kippte nach hinten. „Was sind Sie, was wollen Sie von mir und was in Sadnavals Namen machen Sie in meiner Küche?!“
„So viele Fragen auf einmal.“ Der Mann seufzte theatralisch und wischte sich ein paar Strähnen seiner rotbraunen, mittellangen Haare aus dem Gesicht. „Da weiß ich gar nicht, worauf ich zuerst antworten soll.“
„Wie wäre es mit: Der Reihe nach?!“ Nemo musste sich zusammenreißen, um nicht noch lauter zu werden. Dem bleibenden Grinsen des Fremden nach zu urteilen war er davon nicht eingeschüchtert, höchstens belustigt.
„In dem Fall: Ich bin eine bedeutende, historische Persönlichkeit und egal, wie ruppig Ihr Ton wird, mein Lieber, ich lasse mich nicht aus fremder Leute Küche schmeißen, nur weil ich ungeladen in eben jener sitze.“
Nemo starrte den Mann an. Der starrte zurück. Seine Iriden waren in kräftigem Gelb und umgaben schlitzförmige Pupillen. Er schien nicht zu blinzeln und wirkte wie eine Katze, die sich auf ihre Beute fixierte. Nemo hob den Stuhl auf, setzte sich wieder hin und nahm sich vor, ab jetzt nur noch die Tischplatte anzuschauen. Seine zitternden Hände versuchte er, auf seinen Oberschenkeln ruhen zu lassen. Wenn der Fremde das Wesen war, das er vermutete, dann hätte er eh nicht die geringste Chance, irgendetwas zu erreichen.
„Sie sind ein Drache“, stellte er fest und er war sich für einen Moment nicht sicher, ob er das überhaupt laut gesagt hatte. Es gab nicht viele Wesen in der Welt, die man allein am Aussehen definitiv ihrer Art zu schreiben konnte, aber es gab ein paar Legenden, die doch sehr eindrücklich waren, und Nemo erinnerte sich gut an die Geschichten über den miskranischen Drachen, die Wiedergeburt eines alten Wasserelementars. Er wollte sein Geschichtswissen über die letzte bekannte Wiedergeburt ordnen, aber sein Gehirn machte nicht mit, jeder einzelne Gedanke lief entweder gegen Wände oder rutschte auf dem feuchten Boden aus.