„Ganz knapp daneben.“ Obwohl Nemo den Fremden nicht anschaute, konnte er ihn förmlich grinsen hören. „Wie viele Drachen hat Miskra denn in aller Regel, mein Gutster?“
Seine Aussprache hörte sich sehr nach Osttribunie an. Nemo war einmal da gewesen, in Tribunies Hauptstadt Rubrica und sich in deren Größe noch mehr verloren gefühlt als er es jetzt in Avasikuu tat.
„Einer“, antwortete Nemo, ungewollt flüsternd. Und so war es einige Momente lang still. Es war viel zu surreal. „Sie sind seit hundertvierzig Jahren tot.“
„Nun, offensichtlich ja nicht ganz, sonst würde ich nicht hier stehen.” Er beugte sich vor, seine Zigarette im Aschenbecher abklopfend. „Wobei sich nicht bestreiten lässt, dass ich gestorben bin... Aber sterben ist ziemlich relativ, wenn man eine stetig wiedergeborene Entität ist.“
Jedes noch so kleine Geräusch in der Küche dröhnte in Nemos Kopf wie knarrende Stahlbalken. Mit jedem Wort, das einer von ihnen sagte, wurde die Situation schlimmer.
„Also sind Sie ein Geist?“ Nemo hatte es nicht als Frage formulieren wollen, aber er hatte nicht wirklich Kontrolle über auch nur irgendeinen Teil seines Körpers. Ein Geist in seiner Küche. Ein Geist, der eigentlich ein Drache und außerdem eine bedeutende historische Persönlichkeit war. In seiner Küche. Nemo hoffte darauf, dass die Angelegenheit realer wirkte, je öfter er es in seinem Kopf wiederholte. Aber im Gegenteil - es wirkte nur noch abstrakter.
„Hat einen Moment gedauert, Herr Milius. Aber wie Recht Sie doch haben.“ Auf einmal war die Hand des Fremden vor ihm. „Louis Lunoire, aktueller miskranischer Drache, Hwijur, Geist des Hochmuts und der Eitelkeit. Zu Ihren Diensten.“
Er war geistig so absent, dass er die Hand sogar annahm und schwach schüttelte. „Milius Suna“, murmelte er. „Schüler.“ Er musste sich räuspern, damit seine Stimme überhaupt hörbar war. Kaum hatte er losgelassen, vergrub er das Gesicht in den Händen, denn er hatte vergessen, was er hatte fragen wollen.
Geister waren nie ein gutes Zeichen. Ein schlechtes Omen, denn sie bedeuteten, dass ihr Oberster – Sadnaval, das Schicksal – seine Finger im Spiel hatte. Und das Schicksal stand auf niemandes Seite. Zu Nemo zumindest war es bisher nicht nett gewesen.
Herr Louis drückte seine Zigarette aus. „Sie fragen sich jetzt sicherlich, was jemand wie ich bei jemandem wie Ihnen sucht.“
„Ich... habe es schon gefragt.” Nemos Worte klangen gedämpft hinter seinen Händen, doch der Geist schien das gekonnt zu überhören.
„Wissen Sie...“ Herr Louis schnappte sich seine Teetasse und setzte sich auf seinen Platz zurück, wo er die Beine locker überschlug und sich zurück lehnte. „Ich bin, wie Sie so aufmerksam angemerkt haben, seit hundertvierzig Jahren tot und da das Schicksal sich meist doch mit Aufträgen zurück hält, habe ich eine Menge Zeit, um herum zu kommen und eine ganze Menge an aktuellem Geschehen aufzuschnappen. So zum Beispiel auch Ihre Leidensgeschichte.“ Er lehnte sich vor, stützte das Kinn auf den Händen auf. „Vermissen Sie nicht ein Familienmitglied, Herr Milius?“
Nemo stockte. Schloss kurz die Augen, um sich zu konzentrieren und eventuelle Gedanken am Abschweifen zu hindern. Er schaute zwischen seinen Händen hervor und hoffte einfach, alles vor ihm würde verschwinden.
„Na also.“ Herr Louis lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Hab ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.“
Nemo hatte seinen Bruder seit dem zehnten April dieses Jahres nicht mehr gesehen. Es war ein bewölkter Tag gewesen und die beiden hatten zum alten Clananwesen gewollt, das seit dem Krieg als halbe Ruine in der Mitte des Sees von Rijek thronte. Shadrach hatte die großartige Idee gehabt, altes Zeug zu bergen, das das letzte Mal vor zwanzig Jahren jemand gesehen hatte. Doch ein Sturm war aufgezogen und ihre Mutter hatte ihnen verboten zu gehen. Natürlich war Shadrach das egal gewesen. Immerhin konnte Nemo sich ja teleportieren und sie würden es eben so machen, dass ihre Mutter gar nichts davon mitbekäme, es wäre ja nicht das erste Mal. Doch Nemo hatte keine Lust gehabt. Sie hatten sich gestritten und am Ende des Tages war Shadrach weg und sie beide Vollwaisen.
„Nun, doch nicht so ungeteilt, wie es scheint“, riss der Geist ihn aus seinen Gedanken.
„Was wissen Sie über meinen Bruder?“ Nemo sprach betont deutlich.
„Also zuerst einmal: Selbstverständlich lebt er noch. Ich könnte Ihnen außerdem mitteilen, wann Sie ihn wo finden können, allerdings...“ Er seufzte viel zu schwer.
„Was, aber?!“ Er wollte sich zusammenreißen, aber es funktionierte nicht. Vielleicht träumte er nur oder halluzinierte aus lauter Verzweiflung, er wusste es nicht – warum ausgerechnet heute? Heute, ein Tag, an dem er schon genug unnötig damit konfrontiert worden war?
„Ist es denn so schwer zu erraten, was jetzt kommt?“ Herr Louis grinste wieder besonders zahnreich.
Selbstverständlich. Er war ein Geist. Alles hatte seinen Preis und jedem Kind wurde eingebläut, dass kein Preis niedrig genug war, um mit einem Geist zu verhandeln.