Nemo lag mit dem Kopf auf der Tischplatte und starrte die Teetasse an. Irgendwann stand er auf und ging zur Küchenzeile, holte Zucker, schmiss den Teebeutel in die Spüle. Als er sich wieder setzte, nahm er die auf dem Tisch liegende Zigarette, um sie mit einem Feuerzeug zu entzünden.
Dann fiel ihm der Zettel auf, auf dem die Kippe gelegen hatte. Der Geist namens Louis Lunoire musste ihn zurückgelassen haben, bevor er gegangen war.
Shadrach Suna. Kaarlsstraße, Ecke Yekaterina-Dolvelow-Allee, vor dem Buchladen. 10.07.1732, 02:30 am Morgen.
Die Schrift passte nicht zu dem Geist. Sie erinnerte Nemo an die von seinem Therapeuten und entsprechend war sie nur mit viel Phantasie lesbar. Er faltete den Zettel und steckte ihn in die Hosentasche, denn er wollte nicht, dass Tarja es sah. Generell wollte er nicht, dass sie auch nur irgendetwas davon mitbekam.
Nemo musste das Bingo der Merkwürdigkeiten, die sich gerade abgespielt hatten, selbst noch einmal durchgehen. Da war ein Geist in seiner Küche gewesen. Ein Geist, der auch ein Drache war und außerdem eine Person, die man aus dem Geschichtsunterricht kannte. Louis Lunoire. Louis Lunoire. Nemo wusste, dass er im Unionskrieg vor über hundert Jahren wichtig gewesen und Kampfmagier im tribunischen Militär gewesen war, aber an mehr konnte er sich nicht erinnern. Geschichte war nie wirklich ein Fach gewesen, in dem er besonders hatte glänzen können, und dafür dass der Unionskrieg miskranische Geschichte maßgeblich geprägt hatte, hatten sie ihn nur sehr kurz behandelt.
Shadrach, was hast du getan?
Nemo vergrub noch einmal das Gesicht in den Händen, hatte am Ende keine Ahnung, wie lange er eigentlich so dagesessen hatte. Sein Körper fühlte sich ausgelaugt und schlapp an, wie ein kräftig ausgewrungener Waschlappen, den irgendwer halbherzig durch die ganze Küche in die Spüle geworfen hatte, wo er jetzt zusammengeknüllt zwischen Brotkrümeln lag und vor sich hin müffelte.
Irgendwann war die Zigarette aufgeraucht und er drückte sie aus, dann wusch er schnell die zweite Tasse ab und entsorgte die Teebeutel. Anschließend schnappte er sich seine eigene Tasse und ging in sein Zimmer.
Unna freute sich, als er die Tür öffnete. Aufgeregt kam sie angewuselt und ihr Schwanz wedelte dabei fröhlich.
„Hey, Unna“, sagte Nemo mit versagender Stimme. Er stellte die Tasse auf seinen Schreibtisch und nahm den Dackel hoch. Unna leckte ihm das Kinn ab. Nemo lachte schief und leise, weil es kitzelte, dann setzte er sie wieder ab und öffnete das Fenster der Dachschräge. Es wurde langsam Abend und da es ein wolkenloser Tag gewesen war, würde es in der Nacht abkühlen.
Er ließ sich auf sein Bett fallen und starrte die Decke an. Unna dackelte um ihn herum, bis sie sich an ihn kuschelte und liegen blieb, wo er sie gedankenverloren hinter den Ohren kraulte. Ihm fiel es schwer sich zu konzentrieren oder generell irgendwie klar zu denken – ein Geist in seiner Küche. Nemo war immer bewusst gewesen, dass sein Leben als Nachwuchsmagier eines seltenen und berüchtigten Clans nicht unbedingt dem eines miskranischen Durchschnittsbürgers entsprechen würde, aber dieses... Erlebnis heute war wirklich der Hauptgewinn der merkwürdigen Dinge gewesen.
Er wusste nicht viel mehr über Geister als über miskranische Geschichte generell. Es handelte sich um ehemalige Menschen – zum ewigen Leben Verdammte, die Miskras Schicksal aus dem Hintergrund heraus lenkten. Wenn man der Mythologie und Legenden Glauben schenkte. Bisher hatte er sich nie viele Gedanken über Religion gemacht. Er hatte es einfach immer so akzeptiert, was erzählt worden war, aber er betete nicht zum Schicksal für einen gnädigen Tag, das war ihm zu abstrakt und die Vorstellung gruselig, dass irgendein höheres Wesen seinen Tagesablauf vorbestimmte. Hier in Avasikuu war Sadnaval präsenter. Die Navalisten waren auffällige, reich verzierte Gebäude - zu Hause waren sie Holzhütten, die sich wenig mit Sadnaval selbst beschäftigten, sondern viel mehr mit den umliegenden Wäldern.
Vermutlich hatten die Leute am Ende Recht, wenn sie darüber redeten, dass sein Clan eine Familie von Irren waren, die immer viel zu sehr im Spiel des Schicksals drin steckten und überall, wo sie hingingen, nur Leid und Unheil verbreiteten. Offiziell wurden die Suna als Beschützer des Landes gefeiert. Offiziell waren seine Mutter und auch sein Onkel Helden des Krieges vor zwanzig Jahren. Inoffiziell sah es anders aus.
Mit leisem Seufzen schloss er die Augen. Er wollte einfach nur schlafen und am besten nicht in absehbarer Zeit aufwachen, aber er musste später mit Unna noch einmal raus. Tarja würde ihn sonst mitten in der Nacht wecken, wütend, weil der Hund dank ihm in den Flur gepisst hatte. Und das wollte er nicht. Er wollte einfach seine Ruhe haben und für heute mit niemandem mehr reden.
Der nächste Donnerstag würde kommen. Der nächste Donnerstag, genau drei Monate nach Shadrachs Verschwinden. Die Zeit war schneller vergangen, als es ihm lieb war.