Nemo hatte in der Nacht nicht geschlafen. Irgendwann am späten Abend war Tarja nach Hause gekommen und er hatte sie denken lassen, dass er bereits schlief. Es war besser für sie, denn er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Außerdem hatte sie am nächsten Tag frei und sollte in Ruhe ausschlafen, die Gelegenheit dazu hatte sie in letzter Zeit nur sehr selten bekommen.
Nemo hingegen hielt es nicht mehr aus und stand noch vor sechs auf. Er überlegte, Tarja einen Zettel zu schreiben, auf dem er sich irgendeine Lüge ausdachte, wo er um so eine Uhrzeit denn hinwollte. Stattdessen ging er zuerst Unna füttern und anschließend duschen, in der Hoffnung, dass das vielleicht seinen Kreislauf ein wenig in Schwung brachte.
Tat es nicht.
Müde wollte er sich einen Föhn in die Haare halten, legte ihn allerdings weg, als ihm einfiel, wie warm es draußen werden würde und holte ihn wieder heraus, als ihm einfiel, wohin er wollte und dass er da nicht mit nassen, ungekämmten Haaren auftauchen konnte. Danach schnappte er sich eine dünne Jacke und sein Drehzeug.
Bin bei Dmitrij, bin Mittag wieder da.
PS: Heiße Liebe ist alle, ich hol neue.
Er überlegte einen Moment zu lange, ob er ihr wirklich die Wahrheit sagen sollte, kam aber zum Entschluss, dass sie zumindest das verdient hatte. Sie würde von dem Brief nicht gleich darauf kommen, was gestern geschehen war, das war sicher.
Anschließend verließ er die Wohnung. Unna fand das unfair und sie wollte mit, aber nein. Er wusste nicht, ob er einen Hund überhaupt mitnehmen durfte. Einmal davon abgesehen, war die Angelegenheit zu ernst, um sich nebenbei mit einem Hund zu beschäftigen.
Vor der Haustür überlegte er viel zu lange, welche Straßenbahn die richtige war, wenn er in die Altstadt im Osttal wollte, und es endete damit, dass er sich gegen die Stirn schlug und im nächsten Moment einfach teleportierte. Er war noch nicht viel in der Altstadt unterwegs gewesen, konnte sich aber gut an einen der Marktplätze erinnern und wählte diesen, um wieder aufzutauchen. Eigentlich bevorzugte er Seitenstraßen, in denen er abtauchen konnte, denn er war nicht gut darin, seine Magie unauffällig zu wirken. Gerade hier war es auffällig mit dem gleißenden Licht und elektrischen Surren. Ein paar Leute schauten ihn verwundert an und anstatt es einfach zu ignorieren, grinste er blöd.
Eigentlich. Eigentlich hätte er sich auch gleich zu Dmitrij teleportieren können. Von der Praxis her wäre das kein Problem gewesen. Aber er wusste auch, dass das Teleportieren auf fremden Clananwesen verboten war und Dmitrij verließ in der Regel das Gelände der Yelkin nicht, zumindest soweit er das wusste. Nemo wollte keine Strafe bekommen. Er wollte es sich auch nicht mit Dmitrij oder dessen Schwester oder gleich dem ganzen Clan der Yelkin verscherzen.
Genau genommen wusste er nicht einmal, ob Dmitrij überhaupt Zeit hatte, sich irgendetwas anzuhören. Er war erwachsen, vielbeschäftigt – Nemo hatte ihn als launisch in Erinnerung und er wusste nicht, ob es überhaupt schlau war, mit ihm zu reden. Aber vielleicht... Vielleicht war es gerade deshalb die richtige Entscheidung. Nemo kannte nicht viele Leute hier in Avasikuu. Seine Klassenkameraden waren alle so normal und besaßen keinen Clanhintergrund und Tarja stand ihm zu nah. Mit jemandem zu reden, den er zwar kannte, aber nicht in komische Angelegenheiten mit hinein ziehen konnte, war möglicherweise die schlauste Wahl.
„Wenn du was brauchst, Nemo“, konnte er sich noch gut an Dmitrijs Worte erinnern, als Nemo im April nach Avasikuu gekommen war, „komm einfach vorbei. Sag deinen Namen am Einlass und wo du hinwillst und du wirst durchgelassen.“
Seine Schwester hatte ähnliches gesagt. Aber Nemo wusste ganz genau, dass sich diese ganz weit außerhalb seiner Liga befand.
Es war um sieben. Halb sieben an einem Samstag – vielleicht sollte er doch noch etwas warten? Zurück zu seiner Wohnung war nicht wirklich eine Option, also beschloss er, einfach den längsten Weg zum Clananwesen zu nehmen und eine Zigarette mehr zu rauchen.
Die Provinz Halowkintrakaij, in der sich Hostrimaas Hauptstadt Avasikuu und somit auch Nemo gerade befand, war zurzeit die einzige miskranische Provinz, in der sogar zwei Clans ansässig waren. Es war eine friedliche Symbiose der Familie der Yelkin und der der Kraskow, die älter war als der Hostische Staat selbst. Die Yelkin hatten lange Zeit die Herrscher des Landes gestellt, die Kraskow deren Beschützer. Doch wie alle Clans hatten sie in den letzten zweihundert Jahren drastisch an Mitgliedern verloren und seit den Unruhen vor fünf Jahren war der Zar nicht mehr Staatsoberhaupt, sondern nur Repräsentant. Nemo hätte gern gewusst, wie es gewesen war, als die Macht noch bei den Magiern gelegen hatte. Ob es sich besser angefühlt hätte als sein Leben jetzt? Er wusste es nicht. Aber er wusste, dass es vielleicht nicht schlecht war, dass das System nun anders lief. Am Ende waren die Magier nur ein kleiner Teil der Gesellschaft, und niemand sollte sich einfach über andere Bevölkerungsgruppen erheben.