Letztendlich war es kurz nach halb acht, als Nemo sich zum Palast aufmachte und es stellte sich als Qual heraus, durch den Einlass zu kommen. Als Dmitrij es ihm damals beschrieben hatte, da hatte es einfach geklungen. Jetzt aber wurde alles, was er dabei hatte, untersucht und teilweise konfisziert, und natürlich wollten sie seinen Ausweis sehen, ehe sie Dmitrij persönlich kontaktierten und fragten, ob er denn mit einem Milius Suna verabredet war.
Natürlich stimmte das nicht. Sie waren nicht verabredet und Nemo hatte das auch nie behauptet – warum hatte er sich das so einfach vorgestellt? Hätte er eine Woche im Voraus um eine Audienz bitten sollen oder so etwas ähnliches? Es war eine dumme Idee gewesen. Er hätte nicht herkommen sollen.
Schließlich wies eine der Wachen ihm an, ihr zu folgen, und Nemo tat das mit eingezogenen Schultern. Er wusste nicht, wo es hin ging und was mit ihm passieren würde. Vielleicht hatten sie seinen Pass nicht als echt anerkannt und jetzt wurde er für eine Fälschung bestraft. Warum konnte er nicht einfach einer normalen Familie angehören und keinem legendären Magierclan, der gerade nur drei Mitglieder hatte? Am liebsten wäre es ihm, jetzt einfach unsichtbar zu werden oder zumindest so mit der Umgebung zu verschmelzen, dass ihn keiner mehr bemerkte.
„Guten Morgen, Nemo“, wurde er auf einmal gegrüßt. „Ich muss zugeben, ich habe dich nicht für die Person gehalten, die mein Angebot annimmt.“
„Eh“, gab Nemo von sich, ohne dass er wirklich ein Geräusch hatte machen wollen. Er war so peinlich, fff. „Tut mir Leid.“
Dmitrij. Tatsächlich stand Dmitrij Yelkin vor ihm. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte - die Situation war so anders als beim letzten Mal.
Der hostische Kronprinz sah nicht aus, als wäre er ausgeschlafen, lächelte aber zumindest knapp. Vor allem nickte er der Wache zu, die Nemo begleitet hatte, woraufhin sie sich verzog.
„Guten... Morgen?“, grüßte Nemo vorsichtig. Eigentlich hatte er das nicht als Frage formulieren wollen, aber er kannte Dmitrij zu wenig, um ihn einschätzen zu können, weshalb er sich vor ihm ein wenig kleiner machte. Dmitrij war nur unwesentlich größer als Nemo, aber schlanker gebaut. Heute hatte er leichte Schatten unter den Augen und war weniger rasiert als bei ihrer letzten Begegnung, aber das war auch zu einer Beerdigung gewesen, kein Wunder, hatte er da besser ausgesehen. Doch sein Blick war genau so stechend, wie er ihn in Erinnerung hatte, denn Dmitrij hatte die eisblauen Augen, die für den Clan der Yelkin so typisch waren.
„Spontane Besuche stehen dir nicht.” Mit einer knappen Geste winkte Dmitrij Nemo hinter sich her, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und lief den Gang hinauf. Nemo folgte. „Du siehst beschissen aus, hast du nicht geschlafen?“
„Uh, wenig.” Nemo versuchte, sich nicht beleidigt zu fühlen. Sein Bruder hatte eine ähnliche Ausdrucksweise, eigentlich kannte er das. „Schlecht vor allem. Aber deshalb bin ich nicht hier.“
Es war sehr wenig los und Nemo konnte sich vorstellen, dass werktags kurz nach acht wesentlich mehr Betrieb im Palast herrschte, da dieser trotz der fehlenden Macht der Zarenfamilie immer noch Sitz der Regierung von Hostrimaa war. Doch es war Samstag und alles verschlafen, der private Teil des Gebäudes größtenteils leer. Der rote Teppich dämpfte die Schritte und von den Wänden aus richteten gruselige Gemälde und Photographien von Dmitrijs Vorfahren über sie.
„Weshalb dann?“
„Ich, uuuuh. Ich hatte nichts Besseres zu tun?“ Nemo fühlte sich grässlich. Wie sollte er erklären, warum er hergekommen war? Das war eine dumme Entscheidung gewesen.
„Ich bin also nichts Besseres, hm?“ Dmitrij lächelte, aber es war kein nettes Lächeln.
„Nein, nein“, sagte er schnell und rieb sich die Hände. „Es ist etwas... Also, ich, ähm... Ich muss dir was erzählen.“ Ihm wurde heiß.
„Dann mach das, schlage ich vor.“
„Ich, also... Ja.“ Er räusperte sich. „Wo willst du eigentlich hin?“ Es war anstrengend, mit Dmitrijs Schritten mitzuhalten, die schnell, aber trotzdem gezielt waren. Nemo stolperte ihm nach wie ein betrunkener Esel und war verloren zwischen den hohen Wänden.
Dmitrij hob die Augenbrauen und musterte ihn. Die beiden waren vor einem Fahrstuhl mit schnörkeligem Gitter stehen geblieben, offenbar wollte Dmitrij in eine der oberen Etagen. „Zum Essen. Ich hab noch nicht gefrühstückt und du wahrscheinlich auch nicht“
„Was soll das heißen?“ Nemo fragte sich, wie Dmitrij reagieren würde, würde er einfach auf einen Knopf weiter unten drücken, dort aussteigen und ihm sagen, dass er ihn nach dem Essen dort wieder abholen könnte.
„Du kommst natürlich mit.“ Der Fahrstuhl hielt und die beiden stiegen ein, woraufhin sich die Maschine ratternd in Bewegung setzte.