„Du. Dmitrij“, begann Nemo vorsichtig. „Ich glaube, er will dir und deiner Schwester nur helfen.“
„Sicherlich. Und der Hund, der dir gerade die Wade zerfleischt, will auch nur spielen.“
„So meine ich das ni-”
„Es ist egal, wie du das meinst. Der Kerl nervt. Hat er schon immer. Offenbar nicht mitbekommen, dass sich das System in den letzten fünfundzwanzig Jahren ein wenig geändert hat.“ Als er zu seiner Teetasse griff, hielt er inne. „Ich habe dir gar keinen Tee einschenken lassen, möchtest du welchen?“
Nemo schüttelte den Kopf, woraufhin Dmitrij feixte.
„Stimmt. Louis Lunoire hat dir ja schon welchen gemacht.“
„Das ist nicht witzig“, ächzte Nemo, auch wenn es eigentlich nicht stimmte. Von außerhalb musste seine Geschichte absurd witzig klingen.
Da sein Namensgedächtnis sowie sein Wissen um historische Ereignisse fürchterlich waren, hatte er gestern in seinen Geschichtsbüchern aus der Schule nachgeschlagen, wer genau Louis Lunoire eigentlich gewesen war. Leider hatte er nicht viel zu ihm gefunden - lediglich eine einzige Quelle hatte ihn erwähnt, die Nemo jedoch allein dadurch eine gewisse Genugtuung gegeben hatte, dass sie Herr Louis als “vor Hochmut strotzend” beschrieben hatte.
Dmitrij nahm den Zettel wieder zur Hand und warf noch einen Blick darauf, ehe er ihn Nemo reichte. „Und du denkst, dein Bruder wird wirklich genau dort sein? Niemand ist darauf angewiesen, die Wahrheit zu sagen, schon gar kein Geist.“ Er nahm einen Schluck Tee und Nemo starrte auf seine Knie. „Traue keinem Geist, den du nicht selbst beschworen hast. Das werden die dir an der Militärakademie noch vorpredigen.“
Dmitrij hatte gut Reden, der war nie an der Militärakademie gewesen und würde es nie sein. Seine Ausbildung war privat gewesen und da war er vermutlich nur einer von zwei Magiern in ganz Hostrimaa, die nicht ins Militär geprügelt wurden. Die andere Person war seine jüngere Schwester Katherina.
„Es ist ein Anhaltspunkt. Und um genau zu sein, ist es der einzige, den ich seit Lapsakuu habe. Er wurde nicht einmal gesehen. Nicht einmal! Ich meine, es ist Shadrach! Du weißt, wie er aussieht und wie er drauf ist, der fällt auf!“
„Das stimmt.“ Mittlerweile hatte Dmitrij aufgegessen, nippte aber immer noch so langsam wie möglich an seinem Tee. Nemo hingegen hatte den Joghurt noch nicht einmal zur Hälfte fertig und rührte lustlos darin herum. Aber er verstand Dmitrij. Er hätte an einem Samstag auch nicht arbeiten wollen. Zwar hatte er nicht so wirklich Ahnung, was Dmitrij eigentlich machte, aber dafür hatte er bisher jedes Mal, das sie sich gesehen hatten, mindestens einmal erwähnt, wie sehr er seinen Job hasste.
„Soll ich mitkommen?"
Nemo schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ich gehe allein. Ist vermutlich besser oder so.“ Er wusste es nicht. „Shadrach kann sich doch ohnehin nicht auf mehr als eine Person konzentrieren.“ Er lächelte müde aufgrund des eigenen Witzes, denn er fühlte sich nicht ganz so schwach, wenn er über seinen Bruder herzog.
„Wie du meinst.“
„Du glaubst mir immer noch nicht.”
„Doch, doch“, stritt Dmitrij ab. „Es ist nur noch nicht... so wirklich angekommen. Du musst zugeben, dass es wirklich an den Haaren herbeigezogen klingt.“
„Wie denkst du, hab ich mich gestern gefühlt?“ Er seufzte leise und raufte sich die Haare. Er musste ihm alles sagen. Er musste. Wie konnte er von Dmitrij irgendetwas erwarten, wenn er nicht die ganze Wahrheit wusste? „Ich muss dafür sorgen, dass Shadrach das Land nicht verlässt.“
„Warum das? Sag nicht, das war die Bedingung des Geists?“
„Ich, also... Hm.“ Nemo wusste nicht, wie er das ausdrücken sollte. Dmitrijs Blick war eindringlich und Nemo musste sich zwingen, nicht hinzusehen. Er wollte nicht weich werden, aber er fühlte sich hart verurteilt. „Stell dir... Stell dir vor, du würdest Katherina suchen und sie nicht finden und jemand würde dir anbieten, sie sehen zu können, was würdest du geben?“
„Ich weiß nicht, was du mit diesem Vergleich ausdrücken willst.“ Dmitrij schenkte sich Tee nach und gab Nemo in diesem Zug doch etwas.
Nemo kratzte sich an den Handgelenken. Schriftlich konnte er sich wesentlich besser ausdrücken als mündlich. Wie funktionierte Sprache? „Äh, dann... Dann stell dir vor, bei dir wäre es einfach genau wie bei mir. Katherina ist im Lapsakuu verschwunden und so weiter.“
„Zuerst einmal wäre ich Zar von Hostrimaa“, sagte Dmitrij trocken.
„Nein, nein!“ Nemo verwarf die Hände. „Wie bei mir! Ich bin nicht aus der Zarenfamilie! Shadrach ist nicht Zar von Hostrimaa, Sadnaval bewahre!“ Das war eine der schlimmsten Szenarien, die diese Welt hätte ereilen können.
Dmitrij zwinkerte ihm zu.
Nemo ächzte.