„In Ordnung“, sagte Dmitrij dann und lehnte sich zurück. „Meine Schwester ist weggelaufen, weil sie unsere Mutter umge...“
„Sag das nicht!“, fuhr ihm Nemo dazwischen und seine Stimme hallte an der hohen Decke wider. Dann war es still und Nemo fühlte, wie alle ihn anstarrten. Alle war in dem Fall nur Dmitrij und der hatte einen besonders stechenden Blick. Nemo hatte ein Ziehen in der Brust, dumpf und stechend gleichzeitig und seine Lungen bekamen Probleme, genug Sauerstoff zu verarbeiten, als würden tausend kleine Hände die Moleküle persönlich wegboxen. „Es tut mir Leid, ich...“
„Sprich weiter.“
Nemo musste tief durchatmen, um sich zu sammeln. Hässliche Gedanken und Erinnerungen blühten auf und er kniff die Augen zusammen. „Es... Es gibt nichts weiter zu sprechen. Da ist... Da gibt es nichts. Was würdest du machen, um deine Schwester zu finden?“
Sein Blick war auf seine Knie gerichtet. Die waren vielleicht nicht spannend, aber wenn er sich darauf konzentrierte, konnte er den Rest vielleicht ausblenden. Dmitrij konnte nichts dafür. Es war nicht seine Schuld, was passiert war und es war auch nicht seine Schuld, dass Nemo keine Tatsachen akzeptieren wollte, konnte.
„Nemo.” Er klang sanfter als zuvor. „Ich verstehe dich. Sogar sehr gut.“
„Deine Schwester ist noch da“, wisperte er. „Und deine Mutter lebt noch.“ Er wusste, dass das nicht fair war. Der Bürgerkrieg war hart gewesen, härter für Dmitrij als für Nemo.
„Es... Es tut mir Leid. Es ist nicht deine Schuld und auch nicht dein Problem, aber ich fühle mich so... Ich weiß nicht. Machtlos? Ich hatte bisher kein Mitspracherecht dafür, wie mein Leben läuft, warum sollte sich das auf einmal ändern? Ich meine, schau dir meine Situation doch nur mal an. Mein Vormund ist meine neunzehnjährige Cousine!“
Dmitrij trank die nächste Tasse aus und wirkte beinahe enttäuscht, als er feststellte, dass auch die Kanne leer war, war aber wohl zu eitel, um einen Bediensteten für Nachschub heran zu pfeifen.
„Shadrach muss also in Hostrimaa bleiben?“
Nemo nickte.
„Sonst was?“
Er versuchte, Dmitrij irgendeine Reaktion zu geben, aber sein Körper bewegte sich nicht. Für den Kronprinzen schien das Antwort genug zu sein, obgleich er es nicht aussprach.
„Weiß Tarja Bescheid?“
Diesmal schüttelte Nemo den Kopf. „Sie hat genug um die Ohren. Sie ist mitten im Offiziersanwärter und sie wird als Vorzeigebild für den ganzen Clan und den Ljumeshsuna benutzt. Ich meine, sie ist stark und will sich nichts anmerken lassen, aber du weißt, wer ihr Vater war und was alles auf ihren Schultern lastet, du kennst das ja vermutlich selbst?”
„Denkst du, dass du das allein hinbekommst?“ Dmitrij nahm die Akte zur Hand, die Roman Kraskow neben ihm abgelegt hatte. „Es tut mir Leid, ich muss gleich los, Katjuscha auf die Finger schauen.“
Nemo schob sich den letzten Löffel Joghurt in den Mund und nickte dabei. Er würde es schon schaffen, mit seinem Bruder zu reden. Und wenn der nicht wollte, dann... Es war schwer, vor jemandem wegzurennen, der sich teleportieren konnte, darüber hatte sich Shadrach schon oft beschwert. Darüber und über jedes Mal, wenn Nemo sich irgendwo hin teleportiert und Shadrach vergessen hatte.
„Ich kann dir vorerst nicht helfen“, sagte Dmitrij und erhob sich. „Später, bei der Verwaltung und dem Prozess, der sicher auf Shadrach zukommen wird.“
„Danke“, sagte Nemo und meinte es Ernst. „Wirklich. Und tut mir Leid, dass ich dich am Samstagmorgen aufgehalten habe.“
„Das einzige, was mich aufhält, sind deine ständigen Entschuldigungen.“ Dmitrij huschte ein Lächeln über die Lippen. „Wenn du willst, kann ich dich zum Ausgang bringen.“
„Ach Quatsch.“ Nemo winkte ab und stand ebenfalls auf. „Den finde ich selbst.“ Vermutlich würde er ewig brauchen. „Trotzdem Danke. Wirklich.“ Beinahe hätte er sich teleportiert, aber ihm fiel zum Glück wieder ein, dass das verboten war. Er wollte Dmitrij zum Abschied die Hand reichen, aber er wusste nicht, ob das angemessen war. War er mehr Politiker oder Magier? War es im Fall von letzterem doch eine Verneigung? Oder war er gar... ein Freund? Nemo hatte keine Ahnung. Er hatte nur Leere in sich und den Wunsch, einfach nie wieder nachdenken zu müssen. Am Ende nickte er Dmitrij nur komisch zu, als die beiden sich am Ende des Flurs voneinander verabschiedeten und vielleicht sollten sie einfach beide vergessen, dass dieses Gespräch stattgefunden hatte.