Häufig, wenn Nemo etwas sehnsüchtig erwartete, zogen sich die Tage wie besonders klebriger Konfekt und machten die Warterei so unerträglich, dass sich jeder Teil seines Körpers nach dem Ende sehnte. Diesmal jedoch war es anders. Vielleicht lag es daran, dass Nemo nicht behaupten würde, mit Sehnsucht zu warten, sondern eher so sehr bis zum Rand voll mit einem ganzen Batzen von gänzlich unterschiedlichen Emotionen gefüllt war, dass er die einzelnen nicht einmal mehr ausmachen konnte. Würde er in der einen Sekunde noch behaupten, auf glühenden Kohlen zu sitzen, so lag er in der nächsten lethargisch im Bett. Seine ständigen Versuche, sich mit etwas zu beschäftigen – seinem Instrument, Unna, Tarja, lesen, Schule, irgendetwas – beeinträchtigten sein Schlafpensum, sodass er sich jedes Mal, wenn er doch sechs Stunden schlief, noch müder fühlte als zuvor.
Tarjas Anwesenheit hinterließ ein drückendes Gefühl. Schon nur in der gemeinsamen Wohnung zu sein, erinnerte Nemo daran, was für ein verlogener Wichser er war. Auch sie hatte verdient, mit Shadrach zu reden. Auch sie hatte an jenem Tag im vierten Monat Familie verloren. Nemo wusste, dass seine Entscheidung zu schweigen, sowohl feige wie auch egoistisch war.
„Ich mache mir darüber Gedanken“, sagte Nemo langsam. Er schaute aus dem Fenster und versuchte, den Blick von Doktor Grigorijew zu meiden, denn sein Therapeut konnte Mimik zu gut lesen. „Ich mache mir darüber Gedanken, wie es wäre, wenn ich Shadrach sehen würde. Einfach so. Ganz plötzlich, hier in Avasikuu.“
„Würdest du ihn ansprechen?“ Grigorijew war die einzige Person, die Nemo kannte, die auf einem Gymnastikball absolut ruhig saß und wie Sadnaval im Tempel der Erlösung über jedwedem moralischen Verfall thronte. Seine Stimme war tief wie menschliche Gier und erinnerte Nemo an die See, wenn sie ruhig und fast schwarz war.
„Ich weiß es nicht“, beantwortete er die Frage wahrheitsgetreu. „Es wird nicht dasselbe sein.“
„Dasselbe wie früher?“
Langsam nickend starrte Nemo geradeaus. Der Baum im Innenhof strahlte in sommerlichem Tiefgrün. Heute Nacht. Heute Nacht würde er Shadrach sehen, sollte der Geist ihm die Wahrheit erzählt haben. Heute Nacht würde er seinen Zwillingsbruder das erste Mal seit drei Monaten wiedersehen und er wusste nicht, ob er es schaffen würde – ob er auf ihn zugehen konnte, um zu fragen: „Shadrach, warum ist unsere Mutter gestorben?“
Als Nemo aufstand, war er sich sicher, dass seine Müdigkeit physische Form angenommen hatte und ihn zeitnah zum Platzen bringen würde. Für einen Moment fürchtete er, dass auch Tarja durch den lauten Wecker aufgewacht war, dann fiel ihm ein, dass die ja gerade in der Kaserne war, er also nicht befürchten musste, dass sie irgendetwas mitbekam. So war es auch kein Problem, dass Unna definitiv aufwachte und gleich begann, aufgeregt durch die Wohnung zu laufen. Offenbar dachte sie, ein weiterer gewöhnlicher Tag wäre angebrochen, aber das war nicht der Fall. Nemo hatte nicht einmal geschlafen. Er hatte sich aus Müdigkeit nur hingelegt, aber eingenickt war er nicht.
Nemo kramte einen Kapuzenpullover aus seinem Schrank, obwohl es nicht kalt draußen war. Aber er wollte etwas mit Kapuze, das er sich über den Kopf ziehen konnte. Letzten Endes würde er vor Schlafmangel frieren, egal wie dick er angezogen war. Als er sich einen Tee gemacht hatte, breitete er auf dem Küchentisch den Stadtplan aus, den ihm Tarja damals geschenkt hatte.
Als er die Ecke fand, die der Geist ihm gegeben hatte, seufzte er allerdings laut. Ein Glück war er viel zeitiger aufgestanden, als er da sein musste. Denn er war in dem Bereich der Stadt noch nie gewesen – der nächste Ort, an den er sich erinnern konnte, lag sicherlich eine Viertelstunde Fußmarsch entfernt. Nemo war dankbar, dass seine Fähigkeiten Teleportation zu einem einfachen Unterfangen machten und dabei nicht solche Abnormitäten entstehen konnten wie zum Beispiel, dass man sich teleportierte, aber sein linkes Bein am alten Ort vergaß. Eine einschränkende Regel jedoch war, dass er sich nicht teleportieren konnte, ohne ein Bild des neuen Ortes vor Augen zu haben. Je besser seine Einschätzung des Umfelds, desto genauer die Teleportation. Nemo experimentierte nicht mehr damit. Er verspürte nicht das Bedürfnis danach und so fütterte er noch einmal Unna, ehe er sich in den Park teleportierte, der am nächsten am Treffpunkt lag.
Nemo fiel fast hin und musste sich vor Schwindel an den nächstbesten Baum lehnen – eine Nebenwirkung, die häufig kam, wenn er den Ort nicht gut kannte, an den er sich schickte. Vielleicht war seine Verfassung durch den wenigen Schlaf gerade aber allgemein eher schlecht, das war auch gut möglich.
Obwohl er wusste, dass er nur dem Straßenverlauf der Jekaterina-Dolvelow-Allee folgen musste, war er sicher, sich verlaufen zu haben. Vielleicht war es auch einfach nur dumm gewesen, dass er die Stadtkarte nicht mitgenommen hatte, aber er hatte keine Lust, sich wieder zurück nach Hause zu teleportieren und sie zu holen. Am Ende kam er auch zur richtig abgeschätzten Zeit an der Ecke zur Kaarlsstraße an. Um die Uhrzeit waren nicht mehr viele Leute auf der Straße. Ein paar Arbeiter der Nachtschicht, die nach Hause zu ihrem Bett wankten, sowie die üblichen betrunkenen Studenten, die noch nicht begriffen hatten, dass latenter Alkoholismus keine Charaktereigenschaft war.
Wie erwartet war der Buchladen geschlossen und Nemo stand einen Augenblick lang nervös davor, ehe er sich entschloss, nicht hier zu warten, auch weil er sich nicht die nächste Viertelstunde lang die Beine in den Bauch stehen wollte. Er seufzte leise und wechselte Straßenseite, um sich dort in einem Hauseingang auf die Treppenstufen zu setzen.
Minuten zogen ins Land. Jedes Mal, wenn Nemo dachte, fünf Minuten wären vorbei, warf er einen Blick auf die Taschenuhr, die er sich von Tarja ausgeliehen hatte, und stellte fest, dass es nur eine war. Wäre er nicht so müde, wäre er sicherlich wie angestochen hin und her gelaufen. Wie ein Rind in Quarantäne.
Es war genau halb drei, als der Geist Recht hatte und das eintrat, was Nemo so gehofft und sich dennoch gewünscht hatte, dass es nicht passieren würde.
Auf der anderen Straßenseite stand Shadrach vor dem Buchladen und schien sich ein Poster durchzulesen. Shadrach, der Verschwundene. Shady für kurz. Nemos Bruder. Er musste seine Magie geblockt haben, denn seine Haare waren dunkelbraun und nicht in dem gewohnten Weinrot, das ihn so auffällig machte. Er trug einen Rucksack und Nemo brauchte gar nicht die Haarfarbe, um ihn zu erkennen, es reichte allein die Gangart. Jedes Mal, wenn ihre Mutter gefragt worden war, warum einer ihrer Söhne einen Namen hatte, der überhaupt nicht in die Region passte, hatte sie eine andere Geschichte erzählt. Eigentlich. Eigentlich hieß er Maris. Das stand aber nur als Zweitname auf seinen Papieren und so kam es, dass ihn am Ende eben doch alle Shadrach nannten.
Nemo starrte seine Knie an und schaffte es nicht, aufzustehen. Shadrach würde weg sein und er würde unfähig hier sitzen. Nichts tuend, so wie immer. Sein Körper bewegte sich nicht und es würde sich nichts ändern. Es würde immer so bleiben, dass er zu spät reagierte.