„Falls du wolltest, dass ich dich nicht sehe...“ Nemo wurde kalt. „Deine Haut fluoresziert im Dunkeln. Da bringt die hässliche Kapuze nichts, du leuchtest wie ein Glühwürmchen, Mann."
Shadrach hatte sich direkt vor ihn gehockt, um ihn eingehend zu mustern. Er hatte sich optisch nicht wirklich verändert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, und das war bei Nemo selbst nicht anders. Sie wirkten lediglich, als hätten sie genug gesehen.
Er wusste nicht, was er sagen sollte – alles erschien ihm falsch. Vermutlich hatte er wieder einmal zu viel darüber nachgedacht, sodass ihm jetzt, im Moment der Wahrheit, nichts einfiel, was angemessen gewesen wäre.
„Weißt du, ich hatte fast gehofft, dich zu sehen. Aber natürlich nicht für wahrscheinlich gehalten.” Shadrach hatte knapp gelächelt, es aber schnell wieder sein lassen, als Nemos Mimik sich nicht geändert hatte. „Aber langsam wird mir wieder bewusst, dass nicht jeder in der Familie intelligent sein kann und ich will auch nicht so recht glauben, dass du zufällig hier sitzt. Ist irgendwie nicht so dein Stil. Erst Recht nicht in dem Aufzug.“
Shadrach zog ihm die Kapuze vom Kopf.
„Ist das das einzige, was du mir zu sagen hast?“, fragte Nemo scharf und gleichzeitig langsam und eigentlich wollte er aufstehen, aber Shadrach hockte zu nah vor ihm. Obwohl sie Zwillinge waren, sahen sie sich nicht sonderlich ähnlich. Die Haarfarbe passte nicht, die Augen etwas ähnlicher – sie beide hatten ein dunkles Moosgrün – aber Shadrach hatte irgendwie schon als Kleinkind sehr verbraucht ausgesehen, sodass er häufig älter geschätzt wurde als Nemo.
„Was sollte ich denn sonst sagen?” Shadrach zuckte mit den Schultern, dann löste er die Schnallen seines Rucksacks und zog sich den von den Schultern, um ihn an die Hauswand zu lehnen.
„Du warst über drei Monate weg. Drei Monate! Wir dachten erst, du wärst tot, ich...“ Nemo brach ab und schüttelte den Kopf. Es war so leise in der Straße, dass er nicht zu laut sprechen wollte.
„Ja, Güte. Ich kann das erklären, aber ich will das nicht hier machen.“
„Wo denn dann?“
„Wo denn dann?“, äffte Shadrach ihn nach und ächzte. „Was denkst du denn, vielleicht einfach nicht auf offener Straße?“
„Ach, lass mich.” Nemo schaute demonstrativ zur Seite. Er hätte ihn darauf ansprechen können, dass er nach Tribunie wollte, aber irgendwie wollte er das nicht. Er wusste nicht warum, er wusste nur, dass sie in der Familie allesamt die großartige Fähigkeit hatten, immer und ständig nur vor Problemen davon zu laufen, anstatt sie zu lösen. Er schloss sich da auch selbst nicht aus, weshalb es ihm schwer fiel, das Shadrach jetzt vorzuwerfen.
„Naja, wie auch immer. Großartiges Gespräch. Grüß Tarja von mir“, sagte Shadrach nach einer Weile, griff nach seinem Rucksack und erhob sich. „Und Finnya.“
Nemo stockte. Es kam nichts weiter als eiskalte Wut, die ihn packte, als er aufsprang, sich auf seinen Bruder stürzte und ihm mit aller Kraft ins Gesicht schlug. Shadrach hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, denn er schaffte es nicht schnell genug sich zu wehren, als Nemo ihn zu Boden riss. Von ihm kam lediglich ein Ächzen und dann ein Röcheln, als er Blut auf den Bürgersteig spuckte.
„Boah, komm schon!“ Shadrach hielt sich nun schützend die Arme vors Gesicht und versuchte, Nemo abzuschütteln. Sein Rucksack dämmte seinen Erfolg allerdings stark ein. „Was ist dein Problem?!“
„Was mein Problem ist?! Was mein – Willst du mich verarschen?!“
„Buhuhuhuhu, ja natürlich!“
Er drückte seine Knie in Shadrachs Oberarme, was diesem ein Keuchen entlockte. Shadrach wehrte sich weniger stark als sonst, aber das war nicht von Belang. Nichts war von Belang. Nichts war mehr wichtig. Shadrach bewegte sich nicht, Nemo hielt inne.
„Sie ist tot, Shadrach“, sagte Nemo beinahe tonlos und er spürte, wie seine Augen anfingen zu brennen. Die Wahrheit tat weh, sie auszusprechen noch mehr. „Und du hast sie liegen lassen.“
Er wusste nicht, was er dem noch anfügen sollte. Er wollte nicht losheulen, nicht jetzt, nie mehr. Die Bilder jener Nacht blitzten wieder vor seinem inneren Auge auf und er schüttelte den Kopf im erfolglosen Versuch, die loszuwerden.
Shadrach schaute zu ihm auf. Aus seiner Nase lief immer noch ein wenig Blut, aber Nemo wusste, dass er damit umgehen konnte.
„Sie ist nicht tot?“ Nemo wusste nicht, was er wollte. Er war auf ihrer Beerdigung gewesen. Finnya Suna war tot und würde es auch für immer bleiben und keiner der beiden würde sie je wieder sehen, solange sie noch lebten. Sie war weg, ein für alle Mal.
Und es war Shadrachs Schuld. Er hatte irgendetwas Dummes gemacht und Finnya war Opfer geworden. Dann hatte er sie mitten im Wald liegen lassen und war verschwunden, verschwunden bis gerade eben.
„Halt einfach den Mund“, sagte er und es sollte wie ein Befehl klingen, aber seine Stimme versagte. Alles an ihm zitterte. Shadrach schaute ihn immer noch fragend an und Nemo wich seinem Blick aus. Das war alles so anders, als er es sich vorgestellt hatte.