„Wisst ihr was, Jungs.“ Finnya setzte sich zu Nemo an den Küchentisch. Irgendwo knarzte die Couch, auf der Shadrach lag und las, während vor der Haustür der erste Blizzard des Winters tobte. „Nach dem nächsten Schuljahr kommt ihr zwei an die Militärakademie und da dachte ich, ich komme einfach mit nach Avasikuu, was haltet ihr davon?“
Nemo schaute langsam von seinen Hausaufgaben auf. Sie bekamen nur selten welche mit, aber ihr Physiklehrer war irgendwie noch aus dem vorletzten Jahrhundert. „Aber du hast hier doch Arbeit in der Provinz?“, stellte er fest, denn das war immer der Hauptgrund gewesen, warum sie überhaupt hier waren und nicht in irgendeiner Stadt, in der ein wenig mehr Betrieb war als in Rijek.
Sie winkte ab. „Ich glaub nicht, dass ich die einzige Person hier bin, die das ordentlich hinbekommt, man wird schon guten Ersatz für mich finden und ich kann ihnen ja auch dabei behilflich sein. Und dann kann ich mir in Avasikuu eine neu Arbeit suchen, das wollte ich ohnehin schon lange mal machen. Ich meine, ich bin auch erst Mitte dreißig, das ist nicht so uralt, wie ihr zwei vielleicht denkt.“
Nemo glaube, dass die Regierung mit ihm nicht so gnädig sein würde. Aber Finnya hatte es in dem Chaos, das die Aufstände in Südwesthostrimaa hinterlassen hatten, geschafft, sich aus den Fängen des aktiven Militärs zu winden, auch wenn ihr das die Visumsrechte verringert hatte.
„Warum?“ Kaum hatte er die Frage gestellt, tönte ein Schnauben von Shadrach auf der Couch.
„Fragst du grad wirklich, wie sie auf den Gedanken kommt, von dieser Klitsche in eine Großstadt zu ziehen?“
„Maris“, mahnte Finnya, woraufhin von Shadrach nur ein „Ja, ja“, kam. Nemo hatte sich umgedreht und ihn böse angeschaut, aber er konte ihn durch die Couchlehne gar nicht sehen. Eigentlich erwartete er, dass noch ein unsensibler Kommentar zu einem der beiden Kriege kommen würde – dem Grund, warum Finnya damals aus der Hauptstadt weg gegangen war und seitdem nicht noch einmal dort gewohnt hatte, doch offensichtlich schaffte er es, dieses eine Mal den Mund zu halten.
„Sag mal“, setzte Shadrach dann an. „Wenn du nach Avasikuu ziehst, holst du dir dann Linus in die Bude oder was?“
„Wohl nicht dauerhaft, das würde die tribunische Regierung wohl kaum zulassen, aber wenn euer Vater das möchte, dann wird er sehr viel mehr Zeit bei uns verbringen, ja.” Finnya schloss die Augen, denn offensichtlich hatte sie Shadrachs sehr lautes Ächzen erwartet. „Maris, bitte. Du bist fünfzehn, ich wäre dir sehr verbunden, wenn du es zumindest versuchen würdest, dich bei dem Thema nicht jedes Mal direkt wie ein Grundschüler zu verhalten.“
„Ich versuche es, wenn er es auch versucht“, sagte Shadrach scharf. Er klappte das Buch energisch zusammen und erhob sich von der Couch, die dabei leidvoll quietschte. „Die Rekruten können doch auch in der Militärakademie wohnen, oder?“
„Das willst du nicht.”
„Das weißt du doch nicht.” Er stellte sich neben Nemo und legte das Buch auf der Tischplatte ab, klopfte dreimal darauf. „Lange nicht mehr so beschissene Prosa gelesen, wer verlegt sowas überhaupt?“
Nemo inspizierte den Umschlag. „Hast du das nicht schon bei den letzten beiden Büchern von dem Verlag gesagt?“
„Ich dachte, die wären nur Ausrutscher. Vitamin-B beim Verleger oder so.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ist wohl aber doch so ein Trend bei denen.“
Finnya seufzte. „Nemo, was sagst du denn dazu?“
Nemo schaute sie an, denn er hatte eigentlich nicht das Bedürfnis, sich in dieses Gespräch zu involvieren. „Weißt du“, begann er dann langsam. „Ich meine, wenn er woanders wohnt, dann hab ich mehr Platz, oder?“
Finnya gab einen Frustlaut von sich und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie verharrte einen Moment lang in der Position, ehe sie ihre Söhne wieder anschaute. „Warum könnt ihr euch nicht einfach wie Geschwister verhalten und euch gern haben?“
„Wir haben uns gern“, statierte Shadrach und schaute zu Nemo, der leicht nickte. „Aber wir hassen uns auch ein bisschen, das ist normal.“
„Das ist überhaupt nicht normal!”
„Na, doch“, sagte Nemo, um seinem Bruder ein wenig unter die Arme zu greifen. „Dein Bruder war halt zehn Jahre älter, das ist etwas ganz anderes als bei uns. Wir sind Zwillinge, da ist das wirklich normal.“ Nemo merkte, dass Shadrach ebenfalls seinen Blick suchte. Sie beide kannten keine anderen Zwillinge, schon gar nicht welche, die das hier hätten bestätigen können, aber er fand, dass es sich absolut plausibel anhörte.
„Ach ja.“ Finnya schloss kurz die Augen und nickte, aber die beiden Brüder wussten, dass sie immer noch anderer Meinung war. „Ihr könntet eure Kritikpunkte am jeweils anderen doch auch ausnahmsweise mal sachlich ausdiskutieren, wie wär's damit?“
Shadrach setzte sich zu ihnen an den Tisch. „Öde.”
„Er ist ungefähr so sensibel wie ein betrunkener Schulanfänger und hält seine Meinung für universal.”
„Ich sagte sachlich.” Ihr Nachdruck in der Stimme war zwar deutlich zu hören, ging jedoch unter Shadrachs Lachen unter.
„Meine Meinung ist auch universal, hast du dir mal zugehört?“
„Sicherlich“, sagte Nemo trocken. „Universal-Shadylady kommt und belehrt uns alle eines Besseren.“
„Na ja. Wenigstens bin ich nicht die langweiligste Person der Stadt.“
„Sachlich“, unterbrach Finnya die beiden. „Wenigstens in meiner Gegenwart und in der eures Vaters, ich bitte euch. Ein wenig weniger gehässig, was haltet ihr davon?“