„Mama“, sagte Shadrach eindringlich, als würde er wirklich, wirklich wollen, dass Finnya ihm zuhörte. „Er macht freiwillige Hausaufgaben. Keiner macht das, außer er ist ein langweiliger Stiefellecker.“
„Dann sind ja achtzig Prozent der Klasse langweilige Stiefellecker!” Nemo, der nur minimal beleidigt war, stemmte die Hände in die Hüften „Und du solltest das auch werden, wenn du nicht in der Hälfte der Fächer fast durchfallen willst.“
„Ich...“Shadrach warf Nemo einen wütenden Blick zu, wurde aber gleich von Finnya unterbrochen.
„Was ist mit deinen Noten, dass du in der Hälfte der Fächer kurz vorm Durchfallen stehst?“, fragte Finnya lächelnd und sie beide wussten, dass es kein freundliches Lächeln war. Nemo gab Shadrach ein entschuldigendes Grinsen.
„Wir müssen doch eh an die Militärakademie“, sagte Shadrach dann. „Da ist doch scheißegal, was wir davor für Noten hatten.“
„Maris...“
„Es geht doch gar nicht...“, setzte er an, kam aber nicht weiter, da sie ihn nicht aussprechen ließ.
„Nein, Maris, versuch es nicht damit.“ Mittlerweile saß sie gerade und schaute ihren Sohn streng an. Nemo versuchte, so wenig Ausstrahlung wie möglich zu haben, um nicht hineingezogen zu werden. „Deine Noten sind mir doch egal, aber du sollst auch etwas im Kopf haben und das wird nichts, wenn du im Unterricht nur schläfst oder anderweitigen Mist machst.“
„Mama“, sagte er ruhig und er hörte sich häufig so an, wenn er versuchte, mit ihr zu verhandeln. Sie war bisher die einzige Person, bei der Nemo mitbekommen hatte, dass er sich zumindest ein bisschen auf sie einließ. Manchmal war es aber auch lustig, ihm zuzuhören, wie er irgendwen rund machte, denn wenn Shadrach eine Sache gut konnte, dann das. „Wenn es bei Noten darum ginge, ob man was im Kopf hat, dann wäre Nemo garantiert nicht so gut in der Schule, wie er ist.”
„Hey!“, entfuhr es Nemo empört.
Shadrach lachte.
„Ihr seid mir schon zwei. Fürchterlich.“ Sie seufzte, lächelte dann aber, sodass Nemo in aller Ruhe seinen Bruder böse anschauen konnte.
„Wirf uns das nicht vor, wir haben zur Hälfte deine Gene“, meinte Shadrach und zuckte mit den Schultern. Er grinste und Finnya schüttelte mit leisem Lachen den Kopf. Dann stand sie auf, legte einen Arm um Nemo und den anderen um Shadrach und zog sie zu sich. Obwohl Finnyas Zeit im aktiven Militär seit fast fünf Jahren vorbei war, hatte sie definitiv mehr Kraft als die beiden.
„Reißt euch zusammen, ja? Unsere Familie ist klein und wir müssen sehen, dass wir zusammenhalten.“
Die beiden schauten sich an, nickten. Shadrach formte ein „Du bist hässlich“ mit den Lippen und Nemo streckte ihm die Zunge raus. Finnya knuffte sie leicht.
Auf einmal gingen Scheinwerfer an, fluteten die Brüder in grellem Licht. Nemo musste den Unterarm vor die Augen nehmen, damit es nicht ganz so weh tat, aber er hatte das Gefühl, dass es nichts brachte. Dabei ließ er Shadrach los – zu seiner Verwunderung rührte sich dieser jedoch nicht.
„Milius Suna“, ertönte eine strenge Frauenstimme. Nemo wagte es noch nicht, hinter seinen Händen hervorzuschauen, aber er wusste dass das Licht von Militärfahrzeugen kam. Dafür, dass die Automobile groß und klobig aussahen, bewegten sie sich beinahe lautlos fort. „Hier spricht Major Maliina Täysikuu. Gehen Sie von Ihrem Bruder weg.“
Nemo nahm die Hand von den Augen, sah hinab. Shadrach starrte zu ihm empor, die Augen in blanker Angst weit aufgerissen. Er atmete tief ein und aus, wurde aber unbeabsichtigt immer schneller. Aus seiner Nase tropfte immer noch Blut, aber Nemo hatte ihn nicht hart getroffen. Shadrach hatte aus gesundheitlichen Gründen ständig Nasenbluten.
„Nemo, Nemo, bitte. Bring mich hier weg, bitte. Ich erklärt dir alles, was du willst und noch mehr, aber bitte, bring uns hier weg, die dürfen mich nicht kriegen.“ Seine Stimme war dünn wie Löschpapier und Nemo reagierte nicht. Sein Blick klebte an Shadrachs Lippen, ohne seine Worte wahrzunehmen, und das Flehen seines Bruders klang immer gedämpfter und gedämpfter und als die Frau Major ihre Worte wiederholte, war jedes Geräusch ein Hallen in Nemos Kopf, dessen Worte er nicht verstehen konnte.
Shadrach schaffte es, sich unter ihm hervor zu winden und machte Anstalten, seine eigene Magieblockade zu lösen, aber er war nicht schnell genug. Selbst mit all seiner physischen Kraft konnte er sich nicht gegen die drei Soldaten wehren. Nemo schaute ihm nicht nach. Er starrte einfach nur auf die Stelle, an der sie ihn geschnappt hatten und wenn es jetzt regnen würde, es würde passen. Aber das Wetter war trocken. Der Himmel wolkenlos, sodass der Mond und Milliarden von Sternen auf sie hinab schauten. Angeblich war das Firmament eine Projektion der Schutzbarriere, die die Welt umgab. Vor ein paar Jahren hatten sie in den Weltraum gewollt und festgestellt, dass es keinen Weltraum gab. Es war alles eine Lüge.
„Sie kommen auch mit, Milius“, sagte die Frau Major und im nächsten Moment hatte auch Nemo eine Magieblockade am Arm. Nemo sagte nichts dazu. Er ging einfach mit der Frau mit.