Nemo wusste nicht, wie lange er in dem Verhörraum gesessen hatte. Er wusste nicht einmal, ob es überhaupt ein Verhörraum war und wo dieser sich befand, und war sich sicher, dass er bisher – wenn überhaupt – nur Müll von sich gegeben hatte. Im Moment war er allein und vermutlich war er das schon seit einer Weile. Wo auch immer sie Shadrach hingebracht hatten, er war nicht bei ihm.
Die einseitige Magieblockade schillerte golden im Licht. Nemo spielte daran herum, aber es verschaffte ihm nicht die Ablenkung, die er gern gehabt hätte. Zumindest waren seine Hände nicht in doppelseitige Blockaden, in die Goldenen Schellen gelegt. Sie waren gar nicht aus Gold, zumindest nicht nur, das wäre zu weich. Aber Edelmetalle hielten Zauber und Flüche besser, deshalb wurden sie so genannt. Nemo hatte sich einmal damit auseinandergesetzt, als er die Clanwaffen seines Fähigkeitentyps studiert hatte, die durch den hohen Silberanteil keine hohe Lebenserwartung hatten. Silber jedoch half gut gegen Dämonen. Vielleicht hätte er Louis Lunoire mit Silber bewerfen sollen, anstatt ihm zuzuhören.
Nemo rieb sich die Schläfen und versuchte zu verinnerlichen, was geschehen war. Shadrach hatte so... unwissend gewirkt. Fast schon frei von der Last, die Nemo die letzten Monate so tief in den Untergrund gedrückt hatte, und das passte nicht zu ihm. Vielleicht war das nur eine andere Seite von ihm, die Nemo noch nicht kannte. Shadrach hatte schon immer Probleme gehabt, die wohl Folgeerkrankungen seines chronischen Schwarzmagiersyndroms waren und sich hauptsächlich psychisch zeigten. Vielleicht fiel es ihm deshalb leichter, mit tatsächlich traumatischen Ereignissen umzugehen? Nemo wusste es nicht. Aber Nemo schien ohnehin nichts zu wissen, gar nichts. Er hätte nicht auf den Geist hören sollen. Es war so anders gelaufen, als er es sich vorgestellt hatte, und auf vielen Ebenen schlimmer, als es ihm seine pessimistische Seite zugeredet hatte.
Seine Knöchel waren mittlerweile blau angelaufen und taten mehr weh, als Nemo es sich eingestehen wollte. Irgendwie hielt ihn der Schmerz auf dem Boden. Irgendwie.
Wann würde er Shadrach wiedersehen? Tarja würde sauer sein. Ja, ja, verdient. Vielleicht konnte Dmitrij schlichten, aber vermutlich nicht. Es wäre nicht seine Aufgabe.
Irgendwann öffnete sich die Tür und eine Frau Major trat ein. Nemo schaute auf und brauchte eine Sekunde, ehe er aufsprang und eine halbgare Begrüßung stammelte. Der Blick, den er daraufhin von ihr bekam, war noch etwas abschätziger als erwartet und Nemo spürte ihn auf der Haut.
„Sie können sich setzen, Milius.”
Nemo sackte auf seinem Stuhl zusammen wie ein mit Wasser gefüllter Kartoffelsack.
Es war die gleiche Frau Major wie zuvor. Ihren Namen hatte sich Nemo selbstverständlich nicht gemerkt, auch wenn er ihn jetzt auf der Uniform lesen konnte – Maliina Täysikuu. Aber immerhin erkannte er ihre dunklen Haare wieder und das merkwürdige Brillengestell, das ihn ein wenig an Katzenaugen erinnerte.
„Bleiben Sie bei Ihrer Aussage?“, erkundigte sich die Frau Major, als sie ihm gegenüber Platz genommen hatte. Nemo starrte dabei die Tischplatte an, aber es gab nicht einmal spannende Holzmaserung, denn die Platte war aus Edelstahl.
Er nickte so langsam wie möglich. Seine Erinnerung an alles, was vorhin besprochen wurde, war in der kurzen Zeit schon erfolgreich am Verblassen, aber er tippte darauf, dass es darum ging, was sein Bruder vorgehabt hatte. Er wusste nicht viel. Er erinnerte sich an die Aussage des Geists und offensichtlich wollte Shadrach Hostrimaa verlassen, aber das hatte er dem Militär nicht mitgeteilt. Vielleicht hatte der Geist gelogen. Vielleicht hatte sogar Shadrach gelogen, ja sicher! Der war schon immer unnatürlich gut darin gewesen, ein wahrer Meister, nicht die Wahrheit zu sagen! Hätte Nemo ihm geholfen zu fliehen, hätte ihm das nichts gebracht, denn Shadrach hätte ihm eh nur das Blaue vom Himmel gelogen. Ihn traf keine Schuld. Gegen ihn gab es keinen Verdacht. Und dennoch trug er die Magieblockade, als wäre er damals derjenige gewesen, der vom toten Körper seiner Mutter weg gerannt war.
„Dass sie nichts gewusst haben?“
„Wovon hätte ich denn etwas wissen sollen?” Er wollte nicht schwach und jämmerlich wirken, aber seine Stimme war schlaff und höchstens lauwarm. Er wusste nichts. Er wusste gar nichts.
„Woher wussten Sie, wo ihr Bruder sich aufhält?“
Nemo schloss die Augen. So gut wie Shadrach im Lügen war, so schlecht war Nemo. Vielleicht hätte er einen Preis dafür bekommen können, einfach gar nichts zu sagen, denn in Wirklichkeit lag darin seine Stärke, aber das würde ihm jetzt nicht weiterhelfen. Er durfte nicht noch mehr Fehler machen. Nicht einmal seine Magie würde ihm jetzt helfen, denn wenn er fliehen würde, dann wäre er gesucht, so wie Shadrach - hatte er tatsächlich... Tatsächlich nicht gewusst, dass Finnya, dass... dass ihre Mutter...
Nemo wollte nicht daran denken, er wollte sich nicht erinnern. Sein Sichtfeld verschwamm vor Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, und er wollte nicht blinzeln. Er wollte nicht im Verhörraum vor der Frau Major anfangen zu heulen. Also wischte er sich schnell mit dem Unterarm darüber, in der Hoffnung, dass sie nichts mitbekam. Ihr Gesichtsausdruck zeugte vom Scheitern seines Unterfangens, aber er wusste nicht, ob das, was sie zeigte, Mitleid oder Missgunst war.
„Woher wussten Sie, wo Ihr Bruder sich aufhält?“, wiederholte sie.
Nemo atmete tief durch. Er musste sich beruhigen. Nichts einfacher als das.